Letzte Male, erste Male

Nach einer knappen Woche wieder zurück aus dem Süden des Landes. Am letzten Freitag im Januar hatte der Mann abends noch mit seiner recht munteren Mutter in ihrer Teilzeit-Pflegeeinrichtung telefoniert. Am nächsten Morgen gegen halb zehn kam ein Anruf von dort, dass sie gestorben ist. Ein knappes Jahr nach ihrem Mann und ebenfalls nachts im Schlaf. Alle in Reichweite scheinenden Pläne zu ihrer baldigen betreuten Rückkehr nach Hause, nachdem sie sich im letzten Herbst aus gesundheitlichen Gründen in Behandlung und Pflege begeben musste, lösen sich in einem Moment in Luft auf. Aus meinem Wochenendbesuch in Berlin wird ein längerer Beistand, weitere Vorhaben für die nächsten Tage kippen, Theatertickets verfallen. Jetzt gibt es andere Prioritäten, neue Pläne sind vonnöten. Wir sollten baldmöglichst hinfahren, für einen Abschied, für die nötigsten Formalitäten, doch die Bahn streikt. Zwar womöglich kürzer als geplant, so ist zu lesen, aber mit einem Nachhall der Störungen durch den Ausstand wird gerechnet. Eine Autofahrt zum Elternhaus über 700 km wäre zwar möglich, aber wird nach Rücksprache mit den sich kümmernden Menschen vor Ort verworfen. Wir entscheiden uns für eine Zugfahrt am Dienstag nach dem sicheren Ende des Streiks. Am Abend des Dienstag treffen wir ein.

Surreal, am folgenden Tag in der Besprechung mit dem Bestatter, der auch beim Todesfall zuvor bereits tätig war, mehrmals den Satz »das machen wir dann genau wie letztes Mal« zu hören. Die gefestigte, ruhige und empathische Art des Bestatters glättet die Wellen des plötzlichen, traurigen Einschlags. Da ist jemand, der Halt gibt, weil er den Weg gut kennt, der jetzt zu gehen ist. Erste Male. Bei früheren Todesfällen in der Familie wurde der Anblick der Verstorbenen vor mir entweder ferngehalten, weil ich damals noch Kind war oder ich war erst bei der Beisetzung anwesend, wo ich nur Sarg oder Urne, Blumen und die Hinterbliebenen zu sehen bekam. Diesmal nun ein Abschiedsbesuch bei der toten Schwiegermutter in den Räumen des Bestatters, ein schlicht und doch feierlich eingerichtetes, gekühltes Zimmer. Sie erscheint mir kleiner, als ich sie von meinem letzten Besuch in Erinnerung habe. Ich hatte etwas Angst vor dieser für mich ersten letzten Begegnung, doch meine Beklommenheit weicht nun einer irgendwie warmen Traurigkeit. Ich spüre das Loch, das durch ihren Tod entsteht, aber auch Dankbarkeit, dass er so friedlich geschah und einen Anflug von Erleichterung über das, was ihr womöglich durch ihr hohes Alter oder die geschwächte Gesundheit erspart bleiben durfte. Mach’s gut – und gute Reise.

Wir sind für die Dauer unseres Besuchs im nun leeren Elternhaus eingezogen. Während der Wohnlichmachung stoße ich auf viele Kleinigkeiten, denen ich unter normalen Umständen keine Beachtung geschenkt hätte, die aber nun völlig neue Assoziationen auslösen. Der Name des Schwiegervaters, der noch auf dem Klingelschild steht. Ein angefangener handgeschriebener Einkaufszettel in der Küche: heller Balsamico und Heringsfilets in der Dose. Ausgeschnittene Rabattcoupons. Eine Deko-Sanduhr, die abgelaufen auf der Eckbank in der Küche steht.

In den Tagen danach weitere Begegnungen im engeren Umfeld, mit den Schwestern des Schwiegervaters, den Nachbarn, dem schon länger beschäftigten Gartenpfleger. Alle Menschen hier helfen, nehmen Anteil, bieten Beistand an. Schon am Tag zuvor hatte der Mann die Habseligkeiten seiner Mutter in der Betreuungseinrichtung abgeholt. Die Pflegekräfte hatten die Mutter sogar auf eigene Initiative direkt nach ihrem Tod bereits so vorbereitet und angekleidet, dass sogar der Bestatter keinen Anlass mehr sah, nachträglich noch etwas zu verändern. Keine Selbstverständlichkeit, auch dafür große Dankbarkeit. Und noch ein erstes Mal: selber eine Todesanzeige texten, setzen und gestalten.

Zwischendurch bleibt aber auch Zeit zum Durchatmen. Die bergige, bewaldete Landschaft bietet in direkter Umgebung alle Möglichkeiten, während steiler Anstiege und bei gemächlichem Wandern, den Kopf wieder etwas frei zu bekommen. Sogar ein Hauch von Frühling liegt ab und zu in der Luft, das zi-tüü, zi-tüü einer Kohlmeise ist zu hören, ein paar Blitzer blauen Himmels zwischen den Wolken. Auch das sorgt für Licht. Sogar Lachen fühlt sich okay an. Wir reden viel, der Mann und ich. Über das, was war, was kommt, was hätte sein können, was erstmal warten kann. Gute und tiefe Gespräche, die nicht so bald wieder verfliegen, sondern im Kopf bleiben werden. Nähe. Da-Sein.

Am Samstag, vier Tage nach Anreise, fuhren wir erst einmal wieder heim. Der nächste Besuch hier ist in gut sechs Wochen geplant, zur Beisetzung der Urne.

Das Leben geht weiter.

Schulfrust, Schullust

Ich mag ja kurze Social-Media-Postings, die im Nachhinein entweder aufgrund der sich in den Replys entspinnenden Beiträge oder Diskussionen oder einfach durch das eigene »Gedankenecho« zu dem Thema weiteres Nachdenken dazu anstoßen. So geschehen auch wieder heute. Zuerst las ich auf Mastodon folgendes in meiner Chronik geteilte Posting:

Heute gibt es Zeugnisse. Seid nett zu euren Kindern. Sie werden sich Mühe gegeben haben ❤️

https://troet.cafe/@Tami/111820604936830893

Besonders beim zweiten Satz blieb ich spontan hängen und hörte in meinem Kopf sofort einen berühmten Satz aus irgendeinem TV-Werbespot für Kaffee oder Weichspüler aus den 1970er Jahren: »Mühe allein genügt nicht!«. (Edit: Der Satz stammt von der Werbefigur »Frau Sommer« in einem Spot für Jacobs Krönung Kaffee. Danke an Uwe Sinha für den Hinweis.) Denn während meiner eigenen Schulzeit hatte zumindest ich oft das Gefühl, dass manche Lehrer*innen entweder die Mühe, die ich mir tatsächlich gegeben hatte, nicht sahen bzw. anerkannten oder mir das Unterrichtsfach, das mich eigentlich grundsätzlich interessiert hätte, durch ihre Persönlichkeit und/oder die Art ihres Unterrichts bzw. der Stoffaufbereitung so weit vergällten, dass ich jede Lust verlor, mir überhaupt Mühe zu geben. Als ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, postete ich auch einen Beitrag zum Thema:

Rückblickend kann ich sagen, dass für meine »schlechten« Noten während der Schulzeit nur zu ~30% private Umstände oder generelles (und bis heute anhaltendes) Desinteresse an einem bestimmten Unterrichtsfach verantwortlich waren. Die restlichen ~70% rechne ich dem Unvermögen, Unwillen oder mangelnder Motivation meiner damaligen Lehrer an, die es nicht vermochten, mir Dinge begeisternd und nachvollziehbar beizubringen. Das belegen auch Notensprünge nach Lehrerwechsel in einigen Fächern.

https://fnordon.de/@formschub/111821928013309913

Manche Follower pflichteten mir vollauf bei, andere eingeschränkt. Dann kam vom Lehrerfollower @herr_rau eine interessante Rückfrage:

Klingt gut möglich! Professionelle Nachfragen, die erste provokant gemeint, die zweite nicht: 1. Waren für die guten Noten auch zu 70% die Lehrkräfte verantwortlich, oder läuft da die Zuschreibung anders? 2. Waren die Lehrkräfte, die das damals nicht geschafft haben, wenigstens bei anderen in der Klasse erfolgreicher? Wenn ja, kann man den Prozentsatz des Erfolgs überhaupt erhöhen oder ist der am Ende relativ konstant?

https://fnordon.de/@herr_rau/111822372428730979

Als ich über diese beiden Aspekte nachdachte, merkte ich schnell, dass meine Antwort darauf so ausführlich sein müsste, dass sie entweder einen ellenlangen Thread erfordern würde oder einen anderen Kanal – wie diesen hier. Also möchte ich das gerne tun.

Aus meiner Schulzeit sehe ich für bessere oder schlechtere Noten bzw. Leistungen in der Schule rückblickend sechs grobe Einflussfaktoren und die werde ich mal versuchen, nacheinander durchzugehen: 1. der persönliche ggf. wechselhafte Lebensverlauf während der Schulzeit, 2. die etwas permanenteren privaten Umstände sowie das Elternhaus (Bildung, Attitüde, Wohlstand, familiäres Umfeld), 3. die besuchte Schule als solche, 4. die individuellen Fähigkeiten, Talente und Interessen des Schülers, 5. der positive oder negative Einfluss von Klassenkameraden und Schulfreunden und schließlich 6. die Kompetenz, Motivation und Persönlichkeit der einzelnen Lehrer nebst ihrem Unterrichtsstil. Man möge in den Kommentaren auf jeden Fall gerne ergänzen, falls ich etwas vergessen oder selbst nicht erfahren habe.

Bedingt durch die häufigen berufsbedingten (selbstgewählten) Umzüge meines Vaters samt Familie besuchte ich in den ersten 13 Jahren meines Lebens ziemlich viele verschiedene Schulen an den unterschiedlichsten Orten. Eingeschult in einer firmeneigenen Schule des Arbeitgebers meines Vaters in Constantine (Algerien), wo ich das erste und zweite Schuljahr absolvierte, danach nahm ich einige Monate an der Dorfschule bei der Oma väterlicherseits am Unterricht teil, bis die nächste deutsche Wohnadresse der Familie feststand. Weiter ging es in der dritten und vierten Klasse dann in der Grundschule am neuen Wohnort nahe Hildesheim, anschließend Wechsel aufs Gymnasium in Hildesheim-Himmelsthür. Dann wieder Umzug ins Ausland, sechste und siebte Klasse an der DSL, Deutsche Schule Lagos (Nigeria). Anschließend 1979 wieder zurück Deutschland und an das Gymnasium davor. Dort an dieser Schule blieb ich dann, bis ich 1986 mein Abitur machte, Notendurchschnitt 2,1.

Schon alleine diese vielen Orts- und Schulwechsel tragen ein gewisses Risiko in sich, dass ein Kind, das häufig aus dem gewohnten Umfeld genommen wird und in ein anderes wechseln muss, dadurch Gefahr läuft, auch schulische Schwierigkeiten zu erfahren. Beste Freunde müssen zurückgelassen werden, neue Kontakte geknüpft werden (was mir nie leicht fiel, ich war ein eher schüchternes Kind), neue Lehrer, neue Schule, alles anders. Auch die Reihenfolge der Unterrichtseinheiten an den verschiedenen Schulen war natürlich alles andere als aufeinander abgestimmt. Manchmal verließ ich die eine Schule, wenn ein Thema gerade angerissen worden war und wechselte an eine andere, wo ich mich mitten in einem Thema wiederfand, dessen Anfang ich versäumt hatte. Im Scherz sagte ich einmal während einer Unterhaltung, das düstere Thema Drittes Reich und Nazizeit hätte ich wohl doppelt so oft wie Gleichaltrige durchnehmen müssen und das spannende Thema Sexualkunde hätte ich dafür mehrmals verpasst, weil es gerade jedes Mal abgeschlossen worden war, als ich an eine andere Schule und in eine neue Klasse kam.

Ich mache meinen Eltern keinen Vorwurf für die häufigen Umzüge, denn die dadurch bedingten Erlebnisse, Erfahrungen und Kontakte möchte ich im Nachhinein keinesfalls missen. Schmerzlich waren die Ortswechsel dennoch. Ich erinnere mich noch gut, dass ich Rotz und Wasser heulte, weil ich meinen besten Freund Frank nach der zweiten Klasse in Algerien zurücklassen musste. Das In-Verbindung-Bleiben war damals nicht so einfach wie es heute online ist und zudem war ich ja damals erst sieben. Aber der Kontakt zu einem meiner späteren Schulfreunde aus der siebten Klasse wurde durch das Internet tatsächlich vor einigen Jahren wieder sporadisch belebt. Würde ich weiter im Netz recherchieren, könnte ich bei hinreichend eindeutigen Namen sicherlich noch weitere Weggefährt*innen von damals wiederfinden. Besondere Probleme in der Schule hatte ich meiner Erinnerung nach aber durch diese unsteten Umstände nicht. Der Bruder meines Vaters war selber Grundschullehrer und nutzte mich schon vor meiner Einschulung im besten Sinne als »Versuchskaninchen«, so dass ich schon mit vier Jahren sehr gut lesen konnte. Unter meinem Zeugnis nach der zweiten Klasse (mit guten Noten) vermerkte der Klassenlehrer damals »Thomas ist ein guter Schüler. Er beteiligte sich nicht immer am Unterricht, der ihn teilweise unterforderte«.

Der zweite Aspekt, der nachweislich Einfluss auf meine schulischen Leistungen hatte, war der Krebstod meines Vaters, als ich vierzehn war. Plötzlich blieb ich mit meiner jungen Mutter (36) und der kleinen Schwester (9) als Halbwaise zurück. Ich weiß nicht, von wie vielen Bekannten und Verwandten ich damals den Satz hören musste »Jetzt bist du der Mann im Haus«. Als würde es nicht reichen, dass der Verlust des Vaters einem Kind komplett den Boden unter den Füßen wegzieht, wird mit einer solchen (wie ich heute weiß, absolut toxischen) Bemerkung zusätzlich ein Anspruch aufgestellt, mit dem kein Kind konfrontiert werden sollte. Ich habe damals versucht, ihn im Rahmen meiner Möglichkeiten als eine Aufgabe zu sehen und das war sicherlich auch ein Grund für einen vorübergehenden Leistungsabfall, etwa ab der 8. Klasse in der Schule. Trotzdem blieb die schlechteste Zeugnisnote, die ich hatte, eine Vier minus. Die Benotung von Klassenarbeiten und Tests mag bisweilen sogar schlechter ausgefallen sein, aber daran erinnere ich mich nicht mehr, abgesehen von einer dunklen Ahnung, dass ich in Mathe mal eine Fünf nach Hause brachte.

Meine Mutter (und zuvor auch mein Vater) hat mich nie für mittelmäßige oder schlechte Noten getadelt oder bestraft. Beide haben versucht, mir zu Hause bei den Aufgaben und beim Lernen zu helfen, zumindest bis meine Mutter dies nach meinem Wechsel aufs Gymnasium nicht mehr leisten konnte, da sie von ihren Eltern nur einen Hauptschulabschluss zugestanden bekommen hatte. Auch gab es im Elternhaus niemals anhaltende Konflikte, die sich auf meine schulischen Leistungen hätten auswirken können und auch finanziell war die Familie, wenn auch nicht »reich«, so doch immer hinreichend gut gestellt, um Unterrichtsmaterialien und die Ausbildung von uns zwei Kindern zu finanzieren. Nach dem Tod meines Vaters war ich selbst für meine Noten verantwortlich und habe das dann in den Jahren danach auch irgendwann wieder ganz gut hinbekommen. Zumindest musste ich keine Klasse wiederholen, obwohl das ja aus heutiger Sicht auch nicht schlimm gewesen wäre. Doch damals sagte man zu den betroffenen Kindern noch »Sitzenbleiber« – allein schon dieses Wort ist ein Stigma. Meine Eltern haben mich stets »machen lassen«, ich konnte meine Leistungskurse in der Oberstufe selber wählen, frei entscheiden, ob ich studieren möchte oder nicht und wenn ja, was und es gab keine Praxis oder Firma, für deren Nachfolge ich vorgesehen gewesen wäre oder anderweitige fachliche oder statusbedingte Erwartungen. Dafür bin ich beiden, insbesondere meiner Mutter, die als plötzlich alleinerziehende Witwe eine unfassbare Stärke aufbringen musste, bis heute sehr dankbar.

Die besuchten Schulen fand ich eigentlich immer okay bis gut. Die Klassenstärken waren zeitweise ziemlich krass, so dass in der Mittelstufe bis zu 36 Schüler in einer Klasse waren. Durch meine Einschulung im Ausland war ich es gewohnt, quasi selber ein »Ausländer« zu sein, wenngleich nicht unter den damaligen Mitschülern, die alle deutschsprachige Eltern hatten, aber im ganz normalen Alltag. Schon in der ersten Klasse hatte ich Französischunterricht. Dass mir das später im selben Fach auf dem Gymnasium nicht zum Vorteil gereichte, laste ich auch einer Lehrerin auf dem Gymnasium an, darauf komme ich später noch einmal zurück. Schon in der Grundschule in Deutschland (1975–1977) erinnere ich mich an zwei Mitschüler mit türkischen Eltern und einen Schüler mit italienischen Eltern, mit dem ich sogar eine Zeit lang befreundet war. Das war »normal« und hatte nach meiner Erinnerung keinerlei Einfluss auf die Klasse oder den Unterricht. In meinen Zeugnissen kann ich schon seit der Grundschule, später vermehrt auch auf dem Gymnasium, hinter einzelnen Fächern bei vermeintlich »verzichtbaren« Fächern Religion, Musik und Kunst ebenso wie bei Physik, Chemie oder Erdkunde, den handschriftlichen Vermerk »n. ert.«, einmal sogar etwas ausführlicher als Stempel »Wegen Lehrermangels nicht erteilt«. Ich kann schlecht beurteilen, ob das auf mich negative Auswirkungen hatte, denn ich kannte es ja nicht anders. Gibt es überhaupt Schüler von damals und heute, die eine komplett mit Lehrkräften versehene Schule besucht haben? Vielleicht hat ja auch dazu der/die eine oder andere einen Kommentar.

An die Klassenräume und sonstigen Räumlichkeiten kann ich mich nur noch undeutlich erinnern. Aber da viele Schulgebäude erst in den 1960ern und 1970ern, also recht kurz vor meiner Schulzeit, gebaut wurden, kann es sein, dass meine vage Erinnerung, es sei alles zumeist recht neu und gut ausgestattet gewesen, korrekt ist. Auf dem Gymnasium waren z.B. Musikraum, Bio-, Physik-, Chemie- und Mathesammlung meiner Erinnerung sehr gut ausgestattet und auch in der Sporthalle herrschte kein Mangel an Turngerät und Requisiten. In der Mathesammlung standen sogar schon in den frühen 1980ern mehrere PCs (Commodore 8032 und VC 20) zur Verfügung. Es gab Overheadprojektoren, Matrizendrucker, zahlreiche ca. 2 × 2 m große zusammengerollte Karten und Schaubilder, die oft an speziellen Ständern entrollt und aufgehangen wurden, zusammensteckbare Anatomiemodelle, ein komplettes menschliches Skelett und so weiter. Aus meiner damaligen Sicht eines Kindes bzw. Jugendlichen könnte ich nicht beklagen, dass diesbezüglich ein Mangel geherrscht hätte.

Beim Thema meiner Interessen und Talente stand schon immer Sport an letzter Stelle und darin hatte ich auch zumeist die schlechteste Note, meistens irgendwas zwischen drei und vier. Schon in der ersten Klasse fand ich es doof, dass die Jungen so oft Fußball spielen mussten. Bereits den Sportunterricht in den ersten beiden Jahren in der algerischen Schule erinnere ich als nach Geschlechtern aufgeteilt. Da es aber nur eine Lehrkraft gab, konnte oder wollte diese nur eine der beiden Gruppen betreuen und das waren dann zumeist die fußballspielenden Jungs. Die Mädchen durften derweil am Spielfeldrand auf den dortigen kleinen Bäumen herumklettern und oft genug gelang es mir, mich dem Fußballspiel zu entziehen und ich gesellte mich zu ihnen. An den Sportunterricht in der deutschen Grundschule erinnere ich mich nicht sehr deutlich, höchstens an Schlaglichter wie blaue Turnmatten, Medizinbälle, vielleicht Spiele wie Völkerball oder Brennball. Meinen Freischwimmer machte ich, indem ich mich die geforderte Zeit lang im Schwimmbecken auf dem Rücken treiben ließ, anscheinend war das nicht verboten, denn nach dem Sprung vom »Einer« erhielt ich tatsächlich das Abzeichen. Sportlicher Ehrgeiz war mir seit jeher fremd. Ich sah keinen Sinn darin, mich mit anderen Kindern in Zeit, Kraft oder Leistung zu messen, ich hasste es, auf der Aschenbahn zu laufen, weit zu springen oder zu werfen (und versagte auch jedesmal kläglich). Die Bundesjugendspiele waren mir ein Graus, als ich einmal in der Sportumkleide eine unausgefüllte Siegerurkunde fand, trug ich selber meinen Namen ein und malte einen Stempel und eine Unterschrift darunter. Das war mein Siegermoment. Später auf dem Gymnasium führte der Sportunterricht sogar vorübergehend zu Schulangst und Magenschmerzen. Der Schwimmlehrer hatte verkündet, dass nur diejenigen Jungs (auch hier getrennter Sportunterricht) im Zeugnis eine Note besser als fünf bekämen, die mindestens einmal vom »Dreier« springen würden. Mein massives Widerstreben gegenüber diesem Zwang führte dazu, dass ich tatsächlich versuchte, »krank« zu werden, indem ich Dinge ausprobierte, die ich im Familienkreis als angeblich schlecht für die Gesundheit wahrgenommen hatte. So aß ich z.B. einmal Unmengen Kirschen und trank anschließend glasweise Wasser, weil man davon angeblich Bauchschmerzen bekäme. Hat nicht geholfen, ich zögerte meinen Sprung Woche um Woche so lange wie möglich hinaus. Am Ende kam ich nicht darum herum, stürzte mich von dem schwindelnd hohen Turm in den nassen Abgrund und trotz des Applauses der Klassenkameraden kam keine Freude ob dieser Überwindung auf und meinen damaligen Sportlehrer verachte ich noch heute dafür. Auch Geräteturnen fand ich furchtbar, Barren, Bock, Reck, Ringe, Pferd, Sprungbretter und obenauf ledergepolsterte Kletterkisten – für mich alles Requisiten der Unlust und des Scheiterns.

Später in der Oberstufe gab es dann die Möglichkeit, halbjahresweise zwischen einzelnen Sportarten zu wählen und ich sah das als eine Chance, weiter auszuloten, ob ich nicht wenigstens für einzelne Disziplinen Begeisterung aufbringen könnte. Ich probierte Hallenhockey, Basketball, Rudern, Badminton (das war okay) und Handball. Aber verordneter oder mit Verbissenheit und zum Zwecke von Sieg oder Wettbewerb betriebener Sport und ich sind nie wahre Freunde geworden.

Anders war es bei Kunst und Deutsch, damit hatte ich von Anfang an keine Schwierigkeiten und hatte meist – von einigen Lehrer*innenpersönlichkeiten und spezifischen Schullektüren abgesehen – sogar Spaß am Unterricht. Da ich schon vor der Schulzeit eine Leseratte war und mir wohl dadurch ein intuitives Gefühl für Ausdruck, Sprache, Interpunktion und Orthographie aneignen konnte, kam ich in Deutsch über die gesamte Schulzeit mit guten bis sehr guten Noten nach Hause. Ich schrieb seitenweise lange Aufsätze, hatte kein Problem mit Diktaten und konnte gut und flüssig vorlesen. In Kunst konnte ich meinen Gestaltungsdrang auch in der Schule ausleben, den ich ohnehin zu Hause mit Block und Tuschkasten, Bunt- und Filzstiften sowie einem unbändigen Basteldrang pflegte. Die Möglichkeit, auf meinem Gymnasium sogar einen Kunst-Leistungskurs wählen zu können, ist sicherlich mit für die recht gute Abinote verantwortlich. Und seit 1995 verdiene ich mit gestalterischer Arbeit als Grafik-Designer meinen Lebensunterhalt, womit ich sogar eins meiner Talente zum Beruf machen durfte.

Bei den anderen Sprachen war mir Englisch am nächsten, vielleicht auch, weil ich es während des zweiten Auslandsaufenthaltes der Familie in Nigeria auch als Landessprache im Alltag sprechen musste. Spanisch und Latein hatte ich nicht gewählt und mit Französisch wurde ich unter anderem aufgrund der Lehrer*innen nie wieder richtig warm. Ab der 10. Klasse etwa hatte ich das Glück, hervorragende Englischlehrer wählen zu können, die mein Interesse an dieser Sprache auch durch ihre Themenwahl und Unterrichtsweise förderten.

Auch bei den Naturwissenschaften gab es eine Melange aus Interesse und lehrerbedingten Einflüssen. Grundsätzlich war ich schon früh ein naturwissenschaftlich interessiertes Kind. Etliche Bände der Buchreihe WAS IST WAS standen in meinem Bücherregal, u.a. zu den Themen Dinosaurier, Weltall, Vulkane, Planeten. Ich führte zu Hause Experimente aus einschlägigen Jugendbüchern durch, streifte andauernd durch die Natur und den Wald, studierte Pflanzen und Tiere und versuchte, ihre Namen zu lernen, leierte Großeltern und Eltern all ihr Wissen über Blumen, Bäume, Kräuter und Pilze aus den Rippen und bekam etwa mit 12 Zugriff auf ein Abonnement der populärwissenschaftlichen Magazins »P.M.«, das ich mehrere Jahre lang las. Einmal zu Weihnachten bekam ich von den Eltern einen Elektronikbaukasten und pflügte noch am Heiligabend mit meinem Vater fast durch das gesamte Anleitungsbuch, bis meine Mutter dem Experimentiermarathon aufgrund der Einbuße an festlicher Gemütlichkeit Einhalt gebot. Durch einen Bekannten meines Vaters bekam ich etwa im gleichen Alter allerlei ausgemusterte Requisiten für ein eigenes kleines Chemielabor im elterlichen Keller geschenkt: Reagenzgläser, Kolben, Spiritusbrenner, Dosierlöffel, Ständer, Chemikalien und sogar eine kleine handbetriebene Zentrifuge. Zu dieser Zeit, man glaubt es heute kaum, war es einem Teenager auch noch ohne Weiteres möglich, in bestimmten Apotheken ungehindert Chemikalien zu kaufen: Salzsäure, Schwefelsäure, Wasserstoffperoxid, Natriumhydroxid, Kaliumpermanganat, Kupfersulfat, gelbes Blutlaugensalz, Kaliumnitrat. Man musste mur wissen, welche Apotheken im Wohnort experimentierfreudigen Schülern zugeneigt waren und die Werkstoffe ohne Arg herausgaben. Unter gleichgesinnten Schulkameraden wurden die Adressen dieser »Chemikaliendealer« bereitwillig geteilt. Es war für kleine Chemiker eine ebenso goldene wie aus heutiger Sicht unglaubliche Zeit. Was habe ich alles ausgefällt, angezündet, destilliert, umgewandelt, nachgewiesen und synthetisiert! Ester waren etwa ein großes Faszinosum: man gießt einige Substanzen zusammen, erhitzt sie und plötzlich riecht es aus dem Reagenzglas nach Apfel oder Banane. Zauberei. Auch für diese Leidenschaft gab es etliche für Jugendliche verfasste Bücher im Handel, die ich natürlich besaß, ebenso mehrere Chemiebaukästen.

Eher gleichgültig stand ich den Fächern Religion, Sozialkunde, Werte & Normen, Geographie gegenüber. Ich konnte mich mit den Inhalten arrangieren und mir durch mein Sprachtalent und eine gute Auffassungsgabe sogar lehrerunabhängig zumeist okaye Zensuren »erlabern«. Geschichte empfand ich lehrerbedingt größtenteils als absolut langweilig, öde Jahreszahlen, tote Leute, doofe Kriege, die zum Teil alle gefühlt kurz nach den Dinosauriern stattfanden, Feldherrn, Grenzkonflikte – dieses Fach enthielt für mich nie wirklich Leben, auch wenn ich einiges an Wissen mitnahm, das mir vielleicht heute zugute kommt.

Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die schulischen Leistungen hatten bei mir mindestens zwei Schulfreunde, die mein Interesse an Chemie und Mathematik/Informatik befeuerten. Bei meiner Schwester war es zu Beginn der Pubertät genau umgekehrt, sie schloss in der Schule einige Freundschaften, die mit dafür sorgten, dass ihr Interesse an der Schule sowie ihre Leistungen eine Weile drastisch nachließen, so dass meine Mutter schließlich genötigt sah, einen Schulwechsel zu veranlassen und diesen schlechten Einfluss zu unterbinden. Der erste meiner Freunde sog mich mit seinem Interesse in die Welt der Chemie. Er hatte am Gymnasium einen guten Draht zu einem der »coolen« Chemielehrer aufbauen können und über ihn die Erlaubnis bekommen, nach der Schulzeit an Nachmittagen Zugang zur Chemiesammlung zu erhalten, um dort unbeaufsichtigt (!) eigene Experimente durchzuführen. Und ich durfte mit hinein. Es ging immer alles gut, manchmal qualmte oder stank es ein wenig, aber niemand kam zu Schaden. Auch so etwas ist heute undenkbar, aber es beflügelte mein Interesse an der Chemie und den wundersamen Vorgängen in dieser Disziplin.

Der zweite Schulfreund war in Mathe ein »Nerd« und stand immer etwas außerhalb der Klassengemeinschaft. Aus Geldgründen musste er oft die Kleidung seiner zwei älteren Brüder auftragen und so führte schon seine etwas unmodische, manchmal zu kleine oder kurze Kleidung zu Skepsis oder Spott. Aber intellektuell war er ein Naturtalent, in Mathe und Physik Spitzenreiter bei der Notenbewertung und auch sein feiner Humor fand in mir ein gleichklingendes Echo. Zu dieser Zeit war der »Rubik’s Cube« gerade der heiße Scheiß und er fand tatsächlich einen Weg, sich theoretisch einen Lösungsalgorithmus für dieses Puzzle zu erarbeiten. Allein davor hatte ich höchsten Respekt. Wie der Chemiefreund hatte auch dieser Klassenkamerad einen guten Kontakt zu einem der Mathelehrer und erlangte durch diesen einen fast uneingeschränkten nachmittäglichen Zugang zur Mathesammlung, in den ich einbezogen wurde. Und so konnte ich mich etwa ab der 8. Klasse an den ersten klobigen PCs autodidaktisch mit der Programmiersprache BASIC auseinandersetzen, etwa zur gleichen Zeit bot die Schule im Rahmen einer Projektwoche einen Einführungskurs »Personal Computer« am Commodore VC 20 an und 1982 kaufte ich mir dann meinen ersten eigenen Computer, einen Sinclair ZX Spectrum, auf dem ich nicht nur spielte, digital gestaltete oder BASIC-Programme schrieb bzw. seitenlang aus Computermagazinen abtippte (!), sondern bald sogar kleine Programme in der prozessoreigenen Maschinensprache schrieb – etwas, das inzwischen wieder komplett verschüttet ist und nur in Form meiner gelegentlichen, auch berufsbedingten Beschäftigung mit selbst beigebrachten HTML- oder Javascript-Kenntnissen überlebt hat. Der Mathefreund bekam von seinen Eltern etwa zeitgleich einen TI-99/4A und so konnte ich trotz der modellbedingten Geräteinkompatibilität mit ihm zusammen auch zu Hause dieser neuen Leidenschaft nachgehen. Ich denke, in beiden Fällen – Chemie und Computer – wären dieses brennende Interesse und der Spaß am Lernen und Ausprobieren ohne diese Freundschaften nicht zustande gekommen.

Welchen Einfluss nun hatten die Lehrer auf mein Engagement, meine Leistungs- und Lernbereitschaft, meine Motivation, mein Verständnis des Stoffs und nicht zuletzt auf meine Noten? Die Lehrer, die ich rückblickend als am unangenehmsten in Erinnerung behalten habe, machten aus meiner Sicht etliche Fehler. Nicht all diese Fehler kann ich ihnen persönlich anlasten. Auch sie haben eine Ausbildung gehabt, die sie prägte, waren bisweilen stress- oder altersbedingt demotiviert, ihrem gewählten Beruf oder der Unbarmherzigkeit mancher pubertärer Schüler nicht gewachsen (ich erinnere mich noch gut an eine weinende Referendarin, die mir leid tat) und sicher auch mit einer Klassenstärke von 30 Schülern oder mehr zum Teil überfordert. In zwei Situationen bekam ich aufgrund vermeintlicher Unaufmerksamkeit von einer Lehrerin (Grundschule, Deutschland) und einem Lehrer (sechste Klasse, Nigeria) eine »Kopfnuss« verpasst. Absolutes No-go, damals vielleicht ab und zu üblich oder geduldet, aber das ist schon mal der erste Grund für eine nachträgliche Disqualifikation, insbesondere, wenn es keine Möglichkeit gab, sich als Kind für den vermeintlich zu bestrafenden Sachverhalt zu rechtfertigen. Danach kamen Lehrer, die ich als (zu) streng empfand, die im Unterricht auch manchmal herumschrien, die Druck ausübten, um Leistung zu fordern und die Aussicht auf schlechte Noten als Zwangsinstrument einsetzten (s.o. »Sprung von Dreier«). Es folgen Lehrer, die sich offenkundig kein Mühe bei ihrer Unterrichtsvorbereitung gaben oder eine einmal vor Jahren vorbereitete Unterrichtseinheit augenscheinlich Jahr für Jahr in jeder neuen Klasse unverändert, lieblos, blutleer, uninspiriert und stoisch herunterzuleiern, ohne jeden spürbaren Anspruch, in ihren Schülern Interesse, Spaß oder Wissbegierde zu entzünden. Die negative Strahlkraft dieser Art pädagogischer Gleichgültigkeit prägte mich enorm. Ich war nie ein »Streber«, das waren für mich die Mitschüler*innen, die sich immer ganz nach vorne, nahe ans Lehrerpult setzten, die mit dem Arm wedelten und mit den Fingern schnippten, wenn sie sich meldeten, die nie die Hausaufgaben vergaßen, die niemals nebensitzende und in Prüfungsbedrängnis befindliche Mitschüler aus Solidarität halfen oder sie mal abschreiben ließen, die ihr Federmäppchen bei Klassenarbeiten wie eine Barriere zwischen sich und dem Nebenplatz aufbauten. Aber es gab Lehrer, die solche Schüler zu ihren Lieblingen erkoren und sie spürbar bevorzugt behandelten. Auch solche Pädagogen betrachte ich im Nachhinein als nicht vorbildlich. Die Französischlehrerin, die bei mir nachhaltig den Unterricht und jede Chance auf Freude am Erlernen dieser Sprache trübte, ließ manchmal Sprüche ab wie »Also, wenn Sie nicht mal das [z.B. aufgesagtes Konjugieren eines Verbs] zustande bringen, dann weiß ich nicht, was Sie hier am Gymnasium überhaupt verloren haben«. Setzen, werte Dame, ungenügend.

Umgekehrt erinnere ich mich noch gut an Lehrer, die das Gegenteil erreichten. Diejenigen, die ein individuell vorhandenes Talent oder Interesse in einem Schüler oder einer Schülerin erkannten – oder ein Defizit beim Verständnis in diesem Fach – und dann persönlich darauf eingingen. Im Englischunterricht (etwa 10. Klasse) fragte der Lehrer, an welchen Themen wir Interesse hätten und so kam es, dass wir auf Englisch eine Unterrichtseinheit über die Sprache und psychologische Wirkung von Werbung (z.B. anhand der Lektüre von Vance Packards »The Hidden Persuaders«) und eine über die tiefenpsychologische Interpretation von Märchen (z.B. »Snow-White and Rose-Red«) durchnahmen. So kam zur Ebene des Erlernens der Sprache noch eine weitere, hochinteressante hinzu, was die Motivation für mich unglaublich förderte. Als ich in der Oberstufe bei meinem Lieblings-Englischlehrer den gewünschten Leistungskurs belegen konnte, sollten wir eine selbstgewählte Lektüre besprechen und ein Referat dazu halten. Ich wählte als Horrorfan Bram Stokers »Dracula« in der Originalfassung von 1897 und auch hier beflügelte mich diese Wahlmöglichkeit innerhalb der Aufgabenstellung enorm. Solchen Lehrern bin ich dankbar.

Humor ist aus meiner Sicht ebenfalls ein wichtiger Sympathiefaktor bei Lehrern. Auf die komplett spaßbefreiten Lehrmaschinen, die ich in einigen Pädagogen wahrnahm, welche sich hinter einer unpersönlichen, verbissenen Attitüde verschanzten, die wohl aus ihrer Sicht Autorität, Kontrolle oder Kompetenz vermitteln sollte, hätte ich gut verzichten können. Diejenigen, mit denen man lachen konnte, die regelmäßig in den Schülerzeitungen als amüsante »Sprüchelieferanten« auftauchten, die ihre Leidenschaft für ihr Unterrichtsfach auch mit Witz zum Ausdruck bringen konnten, empfand ich als wesentlich erinnernswerter, angenehmer und motivierender. (Schüler zur Chemielehrerin: »Machen wir heut ’nen Versuch? Machen wir heut ’nen Versuch? Machen wir heut ’nen Versuch?« – Chemielehrerin: »Na klar machen wir heut ’nen Versuch, wir gucken uns an, wie du gestreckt durch die Oberlichter fliegst, wenn du nicht aufhörst zu nerven.«). Gut erinnere ich mich auch an eine amüsante Notiz des LK-Englischlehrers am Blattrand einer Klausur, wo ich wohl unbewusst mal wieder ins »Labern« verfallen war: »Eben, eben – Sie sagten es bereits!«. Beim Lernen lachen zu dürfen kann eine wunderbare Motivation sein.

Ich könnte noch viel mehr zu diesem Thema aus dem Nähkästchen plaudern, aber ich glaube, nach diesem Rundumschlag habe ich genügend Details und Erfahrungen aufgezählt, um die anfangs gestellten zwei Fragen, zumindest aus meiner Sicht, beantworten zu können:

  1. Waren für die guten Noten auch zu 70% die Lehrkräfte verantwortlich, oder läuft da die Zuschreibung anders?
    Hier fällt mir eine ähnlich geschätzte prozentualen Zuordnung schwer, aber tendenziell: ja. Die Lehrer, denen es gelang, ihren Unterricht sowohl mit einem klassenweiten als auch mit einem individuellen Blick auf die Schüler durchzuführen, die Schwächen, Stärken, Interessen und Talente erkannt haben, darauf reagiert haben oder darauf einzugehen vermochten, konnten eine bessere oder sogar gute Benotung fördern. Bei den Fächern, in denen ein/e Schüler*in ohnehin gut »allein zurechtkommt«, weil eine grundlegende Begabung oder Wissbegierde für das Fach vorhanden sind, ist das aber vermutlich nicht so bedeutsam wie in gegenteiligen Fällen. Aber generell würde ich sagen: ein »guter« Lehrer gemäß meiner o.g. Definition dürfte wohl spürbar häufiger auch zu besseren Noten bei den Schülern führen. Einfach deshalb, weil solch ein Pädagoge einen Schüler eher motivierend mitreißt als autoritär vor sich hertreibt.
  2. Waren die Lehrkräfte, die das damals nicht geschafft haben, wenigstens bei anderen in der Klasse erfolgreicher?
    Zum Teil. Sicher gab es auch Lehrer, die einzelne Schüler positiv oder negativ »auf dem Kieker« hatten (s.o. »Streber«) und ihre Günstlinge bewusst oder unbewusst mehr gefördert haben als andere. Und es gab andererseits auch Lehrer, bei denen bzgl. einzelner Schüler*innen »die Chemie einfach nicht stimmte« oder die im Gegenteil mit ihnen auf einer Wellenlänge waren. Auch wenn es unprofessionell anmuten mag, kann m.E. eine solche Differenz bei Temperament oder Charakter den Draht zwischen Lehrer und Schüler sicher ebenfalls spürbar beeinflussen und sich auch auf die Noten auswirken. Schwierig zu beurteilen ist, was geschieht, wenn ein Schüler mit einer natürlichen Begabung für ein Fach von einem »schlechten« Lehrer betreut wird. Dann ist es ja denkbar, dass der Lehrer die Noten dieses Schülers kaum oder gar nicht zu beeinträchtigen vermag. Ich hätte mir z.B. bei dem erwähnten Mathenerd-Freund nicht vorstellen können, dass er an einen Mathelehrer hätte geraten können, der überhaupt imstande gewesen wäre, ihm objektiv gerechtfertigt eine schlechte Note zu geben. Es gab natürlich auch immer andere Schüler in meiner Klasse, die von Lehrern, die ich persönlich nicht mochte, gute Noten bekommen haben. Denn würde ein »schlechter« Lehrer bei allen Schülern unweigerlich auch zu schlechten Noten führen, erschiene das wohl auch statistisch irgendwann auffällig und der Pädagoge dürfte sich für sein Unvermögen zu rechtfertigen haben, den ihm anvertrauten Schülern gute Leistungen zu entlocken.

Meinem geschätzten LK-Englischlehrer jedenfalls habe ich Jahre später, als ich im Job einmal vor der Aufgabe stand, für einen Kunden der damaligen Werbeagentur im Rahmen einer Werbekampagne einige Cartoonfiguren zu zeichnen, ein kleines Denkmal gesetzt, in dem ich ihn als Vorbild für eine der Figuren nahm.

Er war einer von den Guten.

Chocverliebt

Gestern habe ich mich gefreut. Mit der Post kam ein gepolsterter Umschlag aus Dänemark an. Darin befanden sich zehn Tafeln einer meiner liebsten dänischen Schokoladensorten.

Wenn ich Lebensmittel kaufe, beschwere ich mich nicht immer, wenn ich zu Hause bei der Verarbeitung oder vor dem Verzehr bemerke, dass etwas damit nicht stimmt. Das liegt auch daran, dass ich an der Kasse beim normalen Supermarkteinkauf ein notorischer Bonverweigerer bin. Ich habe schon genug Geraffel im Portemonnaie: Kleingeld (insbesondere die unnützen Kupfermünzen), Scheine, Abholbelege für die Reinigung oder die Änderungsschneiderei, die eine oder andere Visitenkarte und natürlich Dutzende Plastikkarten: Kreditkarte Büro, Kreditkarte privat, Maestrokarte Büro und privat, Bonuskarte hier, Kundenkarte dort, BahnCard, Führerschein, METRO, diesdas. Ich nehme schon gar keine mehr an und hoffe sehnsuchtsvoll, dass die Plastikkartenmafia bald für all diesen Polymerballast eine Digitalisierungsmöglichkeit bereitstellt. Ich war hochentzückt, als ich neulich merkte, dass man an modernen Geldautomaten mit der NFC-Funktion des Handys eine darin gespeicherte Bankkarte zum Geldabheben nutzen kann. Das beschleunigt den inzwischen zwar seltener notwendigen, aber jedesmal enervierend umständlichen Prozess ungemein. Statt »Portemonnaie rausholen, Karte rausfieseln, Karte in Schlitz fummeln, die sekundenlangen Videorecordergeräusche aus dem Automaten abwarten, tippen, wählen, PIN eingeben, Geld rausholen, auf den Auswurf der Karte warten, Karte wieder ins Portemonnaiefach friemeln und es wegstecken« fallen so die ersten vier und die letzten zwei Schritte beim kontaktlosen Abheben einfach weg. Dit jefällt mer. Mitte der Neunziger noch war mein Portemonnaie nur halb so groß wie jetzt, doch über die Jahre musste ich mir beim verschleißbedingten Wechsel allmählich immer größere Geldbörsen kaufen, allein um die wachsende Zahl der Plastikkarten unterbringen zu können. Dabei habe ich sowas wie eine Paybackkarte oder Kundenkarten von Schuhgeschäften, Imbissen, Drogeriemärkten schon immer konsequent abgelehnt. Brauch ich nicht, will ich nicht, kann weg.

Aber zurück zum Gedankengang. Ich nehme oft keinen Bon an der Kasse mit. Dann stehe ich da zu Hause mit einem Blumenkohlkopf, der sich nach dem Aufschneiden innen braun und matschiggefault präsentiert oder mit einem Netz Mandarinen, in dem sich eine halb verschimmelte versteckt. Dann bin ich meist wenig geneigt, ohne Kassenbon extra noch mal zurück zum Laden zu gehen (der auch manchmal weiter weg liegt, wenn ich auf längeren Wegen durch die Stadt meine Besorgungen machte), dort glaubhaft zu machen, dass die Ware vor Ort gekauft wurde, daraufhin Ersatz oder Erstattung zu fordern und schließlich wieder zurück nach Hause zu fahren. Meistens entsorge ich das verdorbene Produkt, besorge mir in unmittelbarer Nähe ein neues und gut. Diesen Gleichmut pflege ich aber zumeist nur bei vergleichsweise preiswerten Waren. Würde ich bemerken, dass ein teures Biobrathähnchen oder ein Glas Edelpesto schon vor dem Kauf dem Verderb anheim fielen, würde ich natürlich reklamieren. Notfalls auch ohne Bon.

Während eines früheren Dänemarkurlaubs nun, hatte ich in einem dortigen Supermarkt eine Schokoladensorte entdeckt, deren Beschreibung sich spannend las, so dass ich eine Testtafel kaufte. 70% Kakogehalt, das entsprach schon mal meiner Grundvorliebe für dunkle Schokolade. Bio war sie, das ist ebenfalls begrüßenswert. Und »Coffee« stand auf der Packung, das fand ich zunächst zwar erst nicht so interessant, weil Kaffee als Schokoladenzutat gerne mal nur als in die Schokolade gerührte Flüssigzutat, als Aroma oder in irgendwelchen pastos-vertrüffelten Füllungen daherkommt, was ich alles nicht so gerne mag. Doch auf der Rückseite stand »ØKOLOGISK MØRK CHOCOLADE MED FORMALET KAFFE«, also »BIO-BITTERSCHOKOLADE MIT GEMAHLENEM KAFFEE« (10%, das ist nicht ohne). Und diese Angaben machten mich neugierig, denn der Kaffee schien hier sensorisch noch spürbar als feines Granulat beigefügt zu sein. Spannend. Mochte ich doch schon immer gerne die herben schokolierten gerösteten Kaffeebohnen, die man in manchen Restaurants zwecks Rechnungsversüßung beigelegt bekommt und die so schön krachen beim Zerbeißen. Und tatsächlich fiel der Test des herben Naschwerks ausgesprochen angenehm aus. Feine, nicht zu säuerliche dunkle Schokolade, die beim Schmelzen im Mund die feinen Kaffeepartikel freisetzte. Vor der Abreise nahm ich einige Tafeln mit zurück nach Deutschland und so hielt ich es auch bei den seither folgenden Urlauben in Dänemark. Auch beim letzten Jahresendurlaub 2023/24 in der Nähe von Nørre Nebel in Westjütland, dem Ort, wo mein Mitnehmseleinkauf in der Filiale der Marktkette »Super Brugsen« erfolgte.

Wieder zu Hause, verschenkte ich von den vier mitgebrachten Tafeln zwei an einen Freund, der während des Urlaubs meinen Wohnungsschlüssel verwahrt hatte, die anderen beiden behielt ich. Kurz darauf erhielt ich von dem Beschenkten ein Foto geschickt, mit der Schokolade stimme etwas nicht. Bei beiden Tafeln.

Daraufhin prüfte ich auch meine beiden Packungen. Und es war bei mir genauso. Die Tafeln waren innerhalb der Alufolienverpackung längs um etwa 20% »zusammengerutscht« (was man bereits von außen sehen und ertasten konnte) und wiesen auf der Oberfläche Bläschen und einen hellen Belag auf, als seien sie in der Packung leicht geschmolzen, hätten sich verformt und wären dann wieder erkaltet. Ich wusste, dass ich die Schokolade nach dem Kauf, auf allen Transportwegen und bei jeder Lagerung trocken und kühl verwahrt hatte. Außerdem war es seltsam, dass die Längsrichtung der Verformung bei allen Tafeln identisch und seltsamerweise quer zur senkrecht aufgestellten Regalpräsentation im Supermarkt verlief. Sehr wahrscheinlich hatte die Ware also vor dem Einräumen ins Ladenregal bereits derart gelitten.

Man kennt es, dieses peinliche Gefühl, wenn man jemandem etwas fertig Verpacktes schenkt oder ihn/sie in ein Lokal einlädt und anschließend entpuppt sich das Geschenk als beschädigt, unbenutzbar oder ungenießbar oder der Gastronomiebesuch verläuft geschmacklich oder anderweitig katastrophal – alles außerhalb des eigenen Verschuldens, aber trotzdem fühlt man sich irgendwie mitverantwortlich und mitbeschämt. Deshalb beschloss ich auch ohne Bon und trotz der 350 km entfernten Bezugsquelle jenseits der Landesgrenze, einen höflichen Reklamationsversuch zu starten. Ich durchlief zunächst die Reklamationsprozedur auf der Website, deren Adresse auf der Verpackung angegeben war, die schwedische Mutterfirma »Coop«, welche die Produkte dieser Marke herstellt und/oder vertreibt und fügte auch Fotos bei. Man antwortete schnell und höflich aus Schweden, dass für Reklamationen in Dänemark der jeweilige Supermarkt der korrekte Ansprechpartner sei und auf der Website der Supermarktkette konnte ich tatsächlich im Nu eine spezifische Mailadresse für genau diese Filiale ausfindig machen. Ich kopierte meinen (englischen) Beschwerdetext in eine Mail, hängte die Bilder der entstellten Tafel an und wiederum erhielt ich schon am nächsten Werktag eine Antwort, direkt vom Marktleiter:

»thank you for your complain and the photos.

I just took a few samples from differents packages, and the result is unfurtunately the same as the choclate in the pictures.

I would be happy to sent you some new packages, but for now i will make a request to Coop Danmark about full quality control of this product in Coop Danmark. When i have new and fresh products in the shop i will sent you a package with new choclate.

I hope the solution will be fine for you :)«

Ich dankte freundlich, dass das in der Tat fine for me sei und erwartete nun eine ein- bis mehrwöchige Pause für die angekündigte interne Prüfung. Doch schon vier Tage später traf das Entschädigungspaket bei mir ein – mit zweieinhalbmal so viel Schokolade, wie ich ursprünglich gekauft hatte. Glücklicherweise liegt das MHD hinreichend weit spät in diesem Jahr und ich bin zudem von etlichen Menschen umgeben, die (dunkle) Schokolade ebenfalls schätzen.

Das war eine Serviceerfahrung, wie ich sie liebe. Und einmal mehr mag ich sie wieder insgesamt sehr, die Dänen.

Reine Kopfsache

Heute morgen war ich beim Friseur. Alle vier Wochen sollte das schon sein, ab einem Fünf-Wochen-Intervall fühlt es sich für mich grenzwertig an. Das liegt aber auch daran, dass meine »Standardfrisur« an den Seiten und hinten extrem kurz ist. Ich hatte 2014 mal ein perfektes Foto im Netz gefunden, das meine Wunschfrisur visualisiert und seitdem habe ich das immer (nur mit dem frisurrelevanten Ausschnitt 😉) auf dem Smartphone dabei, kann es beim Friseur vorzeigen und muss meistens nicht viel mehr dazu sagen als »an den Seiten und hinten runter auf null Millimeter« und »oben und vorne etwas länger und mit glattem Übergang«. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mit meinem radikalen Kurzscherwunsch bei traditionellen »deutschen« Friseuren eine gewisse Unsicherheit auslöse. Allzu oft passierte es, dass die mich bedienende Person trotz der »Null Millimeter«-Ansage zunächst alles viel zu lang (für meine Begriffe also 1 bis 4 mm) zurechtstutzte, um dann bang zu fragen »So kurz genug?«. Daraufhin musste ich mindestens einmal, gelegentlich auch mehrmals, eine Nachscherung einfordern, bis der Schnitt dann am Ende hinlänglich auf Grund gestutzt und ich einigermaßen zufrieden war.

Ich weiß nicht, was der Grund sein könnte für diese Beklemmung, meine Kopfhaut freizulegen. Vielleicht haben einige der Geängstigten zuvor schon von erbosten Kunden Standpauken oder Androhungen von Zahlungsverweigerung erlebt, weil sie sie zu kurz schoren. Vielleicht sind manche Coiffeure aus weltanschaulichen Gründen gehemmt, weil es ihnen widerstrebt, einen Frisurenwunsch zu erfüllen, der ihnen womöglich zu »militärisch« erscheint oder sie vage an den Stil der etwas aus der Mode gekommenen Klischeefigur »Skinhead« erinnert. Dabei erkennt man die Νeonazіs von heute leider inzwischen weder verlässlich an ihrer Frisur, noch an ihrem Outfit – manchmal sogar nicht einmal an ihrer Parteizugehörigkeit (von der einen Partei mal abgesehen). Da mir derlei Gefeilsche um die Zielkürze meines Haupthaares irgendwann zu anstrengend wurde, ging ich eines Tages testweise mal in einen Friseursalon mit türkischen Betreibern. Mir war nämlich aufgefallen, dass extrem kurz rasierte Schädelzonen bei der Kundschaft solcher Salons häufiger vorkommen und ich hoffte, dass dort somit auch die Scherscheu kleiner sei. Und tasächlich ist das wohl so. Seither bin ich dem Marktsegment der türkischen Barbiere und Friseure treu geblieben.

Auffällig ist, dass Einrichtung und das Design des Außenauftritts dieser Salons städteübergreifend erstaunlich ähnlich ausfallen. Ich hatte eine vergleichbare Wahrnehmung schon einmal bei klassischen China-Restaurants, so dass ich mich fragte, ob es vielleicht irgendwo Geschäfte wie eine Mischung aus »METRO« und »IKEA« für Restaurantbetreiber gäbe. Dort fänden Kunden aus angehenden oder florierenden Gastronomiebetrieben in speziellen Abteilungen wie »China-Restaurant«, »Griechische Taverne« oder »Gutbürgerliches Deutsches Wirtshaus« auf mehreren Etagen ein vielfältiges Sortiment an stereotypen Möbeln, Geschirr, Besteck und Dekorationsartikeln vor – quasi ein »One Stop Shop« zur Einrichtung ihres spezifischen Lokals. Im »Asia«-Segment etwa gäbe es mit Drachenmotiven verzierte geschnitzte Stühle, rote Papierlampion-Lampenschirme mit grünen Quasten, Perlmutt-Intarsien-Wandbilder mit Landschaftsansichten oder historischen bzw. mythologischen Szenen aus dem asiatischen Kulturkreis, blau-weiße Reis- und Suppenschalen mit tiefen Porzellanlöffeln, schwarz-rot lackierte Stäbchen, elliptische Teekannen und runde Tische mit Servierkarussell in der Mitte. In der Abteilung »Griechische Restaurants« gäbe es z.B. Ouzogläser, Miniaturen griechischer Götterstatuen und Tempelsäulen, weißblaue Stuhlpolster, künstliche kleine Olivenbäumchen, Deko-Weinamphoren oder Repliken irdener Teller und Schalen mit gemalten Motiven antiker Sagengestalten. Der rustikale deutsche Gastwirt könnte dort Zinnteller, Deko-Steingut-Bierhumpen, rot-weiß karierte Tischwäsche, nachgebildete hölzerne Wagenräder und Heugabeln, gerahmte Kunstdrucke mit ggf. behirschten Landschafts- und Gebirgspanoramen, Weinrömer oder Kachelofenattrappen erwerben.

Analog dazu könnte es durchaus »Barbershop-Ausstatter« geben, wo Salongründer alles aus einer Hand bekommen, um ihren Laden einzurichten. Wichtig sind im Dekobereich auf jeden Fall reichliche visuelle Referenzen zu voll- oder schnurrbärtigen Männerköpfen, Totenschädeln und klassischen Tattoomotiven. Bei der Einrichtung dominiert dunkles Holz, gepaart mit angelaufenem Messing oder mattem Zink, alles möglichst im »Shabby Chic«, gerne freiliegende Klinkerziegel oder abgewetzte Betonmauern, vor dem Laden eventuell ein Barbierpfosten. Die Frisierumhänge sind bevorzugt schwarz oder anthrazit, manchmal mit einem Rapport aus verfremdeten Luxusmarken-Signets bedruckt, oder aber gleichfalls mit Tattoo-, Bart- oder Totenkopfmotiven. Mich stört diese bisweilen amüsante Konformität keineswegs, ich habe außer einem guten Haarschnitt zu einem bezahlbaren Preis (allein aufgrund meines 4-Wochen-Taktes), grundlegender Hygiene und freundlichem, kompetenten Personal kaum Ansprüche an einen Frisiersalon. Ich muss auch während der Prozedur nicht verbal bespaßt werden, im Gegenteil. Smalltalk mit der surrenden Schermaschine am Ohr empfinde ich eher als anstrengend, von der Suche nach geeignetem Gesprächsstoff ganz zu schweigen. Ohne Haarewaschen schlägt ein Besuch solcher Salons in etwas kiezigeren Vierteln in Hamburg oder Berlin mit einem Preis zwischen 15 und 18 EUR zu Buche, Rasur und/oder Bartpflege kosten je nach Zuwendungsgrad noch einmal gut dasselbe. Meist wird man als Kunde spontan bedient, eine vorherige Terminabsprache ist eher unüblich. Wenn ich sofort drankomme, bin ich unter den flinken Händen der geübten Mitarbeiter meist schon nach zwanzig Minuten wieder draußen, was ich ebenfalls sehr schätze.

Noch ein Bonus der türkischen Friseurläden sind bisweilen die famosen Extra-Pflegeservices, die zwar manchmal nur auf Nachfrage, aber dennoch meist ohne extra Berechnung erfolgen. Augenbrauen stutzen, mit einer Art Fidibus die Ohrhaare abflämmen, mit einem echten manuellen Rasiermesser die Konturen herausarbeiten. Einmal bekam ich sogar ein duftend-heißes Dampftuch fürs Gesicht angeboten, ein andermal lehnte ich jedoch ein Nasenhaar-Waxing angstvoll ab. Es wäre mir zu peinlich, vor fremden Menschen zu schreien und zu weinen.

Die Corona-Pandemie gebar für die Behandlung z.B. in Friseursalons, Fußpflegepraxen, Kosmetikateliers und Massagestudios die einprägsame Bezeichnung »körpernahe Dienstleistungen«. Darin steckt für mich ein durchaus treffender Verweis auf die psychologische Dimension sowohl der Auswahl eines persönlich »passenden« Salons als auch auf die eventuell folgende Treue als Stammkunde. Friseur*innen kommen für mich direkt nach Ärzt*innen. Sie müssen zur Ausübung ihrer Tätigkeit meine persönliche Distanzschranke durchbrechen, was ich Fremden sonst keinesfalls gestatte, außer vielleicht beim zwangsweisen Körperkontakt mit anderen Fahrgästen im überfüllten ÖPNV. Von Ärzt*innen wie Friseur*innen erhoffe ich mir, dass mir zugehört wird und dass ich verstanden werde. Ein schöner Bonus ist, wenn die Chemie stimmt, man eine Sprache spricht oder – wenn ich denn tatsächlich bei einem Stammfriseur mal einen Plausch halte – man einen ähnlichen Humor hat. Wenn mein Friseur nicht versteht, was ich will, kann das ggf. unbefriedigende Ergebnis auf Wochen mein Selbstbild und Selbstbewusstsein trüben. Das gilt insbesondere für extrem kurze Haarschnitte, denn die kann man im Havariefall höchstens noch in eine Vollglatze überführen. Ein missratener Bob oder ein suboptimaler Vokuhila können (zumindest rein technisch) an kompetenterer Stelle hinterher wenigstens noch zu einer nachgeschnittenen Kompromissfrisur umgearbeitet werden. Das »Versagen« eines Friseurs oder einer Friseurin kann vorübergehend eine fast intime seelische Verletzung bewirken, so wie das Abrasieren aller Haare gegen den Willen der betroffenen Personen, etwa in Gefängnissen oder beim Militär, oft gezielt eine Demütigung bezweckt.

Nach meinem Umzug nach Hamburg war ich den von mir neu ausfindig gemachten, geschätzten Friseur*innen ausgesprochen treu. Sie arbeiteten meist als Angestellte in Salons und ihre Verweildauer dort betrug selten länger als zwei, drei Jahre. Einem Friseur folgte ich für eine gewisse Zeit von St. Georg nach Hoheluft, einer Friseurin von Uhlenhorst nach Eppendorf. Aber so wie bei Ärzten ist mir auch bei bei meinen Haarstylist*innen die räumliche Nähe zu Arbeitsstätte oder Wohnadresse wichtig. Wenn ich im Krankheitsfall oder für ein Rezept quer durch die halbe Stadt in eine Praxis fahren muss, kann das genauso strapaziös sein, wie für einen Friseurbesuch drei- bis viermal so viel Zeit für die An- und Abreise aufwenden zu müssen wie für den eigentlichen Haarschnitt. Rein. Schneiden. Raus. Bei der eben erwähnten nachverfolgten Friseurin kam dazu, dass sie sich nicht davon abbringen ließ, selbst meinen Superkurz-Haarschnitt immer fast ausschließlich mit Schere und Kamm durchzuführen, statt mit der Maschine. Sie war eine meisterhafte Handwerkerin und rechtfertigte ihre Technik damit, dass sie so minimale Unebenheiten in meiner Kopfform ausgleichen könne, indem sie die Haare stellenweise ein Mü länger oder kürzer schnitt. Daher dauerte eine solche akribische Schnibbelsession bei ihr nicht unter 50 Minuten. Das war in direkter Nähe zum Büro ohne Weiteres auch in der Mittagspause machbar. Nach ihrem Weggang in ein anderes Viertel musste ich jedesmal inklusive Wegzeit einen 2-Stunden-Slot für meinen Besuch einplanen, was mir irgendwann auf Dauer zu anstrengend war, zumal die neue Adresse auch in einer »edleren« Gegend lag und einen saftigen Preisanstieg für die Behandlung mit sich brachte. Doch ich erinnere mich noch gerne an das leise unablässige snip-snip-snip-snip der kleinen Schere dieser sehr netten Perfektionistin und tatsächlich konnte ich mit ihr währenddessen auch ausgesprochen kurzweilige Gespräche führen.

Bezüglich meiner Haarbeschaffenheit bin ich sehr dankbar dafür, dass der Kelch mit dem Gen für »kreisrunden Haarausfall« bis heute an mir vorbeigegangen ist. Meine Mutter hat ziemlich dünnes Haar, ihre beiden Brüder bestachen durch willybrandteske Geheimratsecken und meine Opas hatten beide eine unübersehbare Platte mit Haarkranz. Der Segen dichten, vollen Haares scheint aus Richtung der Großeltern väterlicherseits zu kommen, auch die betreffende Oma und ihre Söhne hatten bzw. haben sehr kräftiges Haar. Ich hoffe, auch das meine bleibt dieser Veranlagung noch ein paar Jahre treu, ansonsten würde ich unverzüglich auf einen kurzrasierten Captain-Picard-Look umschwenken. An der Seite und hinten sind meine Haare ohnehin schon kurz genug, da täte es mir um die längeren auf der Schädelkuppe nicht allzu leid. Die Anblicke von Verwandten, Lehrern oder fremden Männern mit Alopezie, die den vermeintlichen Life-Hack Overcomb praktizierten, haben mich von Kindesbeinen an nachhaltig verstört. Ich kenne eigentlich keine kosmetische Maßnahme, die mir derart untauglich erscheint, auch nur ansatzweise ein unerwünschtes äußerliches Merkmal zu kaschieren wie diese. Dann doch lieber »Flucht nach vorn«.

Eine Zeitlang habe ich mir mein Haar tatsächlich oft selber und in teils gewagten Tönen gefärbt. Meine Naturfarbe ist ein relativ profilloses bräunliches Blond, das mich damals irgendwann langweilte. Ich probierte unter anderem Haselnussbraun, Kastanienbraun, Kirschrot, Pumucklorange, Maisgold und sogar ein fast weißes Marilyn-Monroe-Blond aus (einem Freund entfuhr beim Anblick das schöne Wort »Puppenblond!«). Auf der Arbeit erregte das zwar anfangs ein gewisses Aufsehen, aber als »Werber« wurde ich mir das bald als Ausdruck von Kreativität und Selbstverwirklichung ausgelegt. Schon immer beneidet habe ich Menschen, die früh und/oder attraktiv ergrauten, wie etwa die Promis Jim Jarmush, Timothy Olyphant, George Clooney, Sean Connery oder John Forsythe bei den Männern oder Judi Dench, Annie Lennox und Jamie Lee Curtis bei den Frauen. Ich hatte sogar während meiner Haarfärbephase den damaligen Friseur gefragt, ob man graue Haare künstlich so färben könne, dass es natürlich aussähe, aber natürlich ging das nicht, weil graue Haare fast immer »meliert« sind und man ja somit auf dem Kopf Haar für Haar einzeln färben oder nicht färben müsste.

Damals fand ich das schade, aber inzwischen kriege ich das mit dem Ergrauen allmählich ganz von selbst hin. Und das finde ich sehr schön.

Electric Kitchen

Vorgestern spät abends gegen 1:00 Uhr habe ich mir im Internet einen neuen Stabmixer bestellt. Ich besitze zwar bereits einen, aber den habe ich schon sehr, sehr lange, geschätzt etwa 15 Jahre, und in letzter Zeit bin ich zunehmend unzufrieden damit. Obgleich in dem modularen Set, das ich mir seinerzeit gekauft habe, auch noch ein Schneebesen enthalten ist, püriere ich meistens was damit – zum Beispiel sehr gerne Hummus, Pesto oder Tapenade. Dazu kann man an dem motorisierten Handstück entweder einen Pürierstab-Aufsatz befestigen oder es auf einen kleinen Hack-Mixbehälter bzw. einen großen Pürier-Mixbehälter aufsetzen. Immer öfter aber passiert es beim Passieren, dass das Resultat für meinen Geschmack nicht sämig und fein genug wird. Der Endpunkt meiner Zufriedenheit war erreicht, als ich kurz vor Weihnachten ein veganes Rezept für eine cremig pürierte Pastasauce (»Cacio e Pepe« ohne Käse) aus gegartem Blumenkohl zubereiten wollte, das ich auf Instagram entdeckt hatte. Sorgsam hatte ich das Rezept befolgt, alle Schritte, Temperaturen und Zeiten eingehalten und die gegarten bzw. eingeweichten Zutaten ewig lange püriert und die Sauce blieb trotzdem »griesig« mit unzähligen kleinen bissfesten Blumenkohlpartikeln, die mir das erwartete und erhoffte samtige Saucengefühl gehörig vermiesten. 500 Watt, soviel Kraft vermag mein altgedientes Muswerkzeug aufzubringen, sind entweder nicht genug, oder das betagte Gerät ist alters- oder abnutzungsbedingt allmählich reif für die Pürierstabrente. So entstand der Neukaufbeschluss.

Die übliche sorgfältige Recherche nach Herstellern, Modellen, Preisen, Testergebnissen, Ausstattungs- und Leistungsvarianten, Zubehörvielfalt usw. wurde begleitet vom Sinnieren über (elektrische) Küchengeräte an sich. Meine allererste eigene Küche war winzig, etwa 4–5 Quadratmeter, da war außer für einen Rührmixer und eine kleine Mikrowelle kaum Platz für weitere strombetriebene Helferlein, weder in Form von Standfläche auf der klitzekleinen Arbeitsplatte noch beim Stauraum in Schränken oder Schubladen. Meine jetzige Küche ist zwar deutlich größer, aber trotzdem muss ich darauf achten, dass meine Ausstattung an Geschirr, Besteck, Geräten, Kochwerkzeugen und sonstigen Gebrauchsgegenständen bezüglich ihres Platzbedarfs nicht eskaliert. Deshalb versuche ich eigentlich die Maxime zu befolgen, mir möglichst wenige bis gar keine Küchengeräte zuzulegen, die ich entweder nur sehr sporadisch nutzen würde, die nur ein funktional oder saisonal sehr begrenztes Anwendungsgebiet haben oder die eine meinem Gewicht oder meiner Gesundheit abträgliche Ernährung tendenziell begünstigen könnten. Ich liebe meine Mikrowelle mit Heißluftfunktion, sehr voluminösem Garraum und Grillschlange und nutze sie regelmäßig in all ihren Betriebsarten. Ich erfreue mich am Planetenrührwerk, dem Knethaken und den diversen Zerkleinerungsaufsätzen meiner massiven Kitchen Aid Küchenmaschine, das Kneten von schwerem Brotteig ist damit eine wahre Freude. Die Vielseitigkeit der robusten, langlebigen Maschine lässt sich durch allerlei arschteures Zubehör unglaublich erweitern, sogar einen Fleischwolf-Aufsatz hatte ich mir mal zugelegt, wenngleich ich bislang noch kein Fleisch damit wolfte, sondern nur Blätter für selbst fermentierten Tee. Und ich schätze meinen kleinen mintgrünen Rührmixer, der mir bei der Zubereitung von Schlagsahne, Eischnee, Rührteig oder beim Kneten klebrigerer Brotteige ein unverzichtbarer fleißiger Helfer in der Küche ist. Der ultimative Tausendsassa scheint ja das Zaubergerät »Thermomix« zu sein, aber dessen Erwerb reizt mich hingegen überhaupt nicht. Ich liebe es, langsam und von Hand Zeug zu zerkleinern, Essen zuzubereiten, Mahlzeiten zu erhitzen oder Zutaten zusammenzurühren. Und außerdem würde auch dieses Teil wieder viel zu viel wertvollen Stauraum in meiner Küche beanspruchen, vom ambitionierten Kaufpreis, der bei mir für zusätzliche Abschreckung sorgt, ganz zu schweigen (zumindest beim Vorwerk-Original).

In der Gruppe der »monotaskingfähigen« Küchengeräte verzichte ich trotz gelegentlicher irrationaler Liebäugelei zum Beispiel bewusst auf einen Sandwichmaker und eine Heißluftfritteuse. Es gibt daneben noch weitaus speziellere begrenzt einsetzbare Geräte, wie Küchengrills mit Drehspieß für Gyros oder Brathähnchen, Würstchentoaster, Popcornbereiter, Schokobrunnen, Spargelschäler, Pizzaöfen, Eierkocher, Reiskocher oder Dampfgarer, diese locken mich aber erst recht nicht. Andererseits gibt es auch wieder Ausnahmen unter solchen Geräten, denn obwohl viele tatsächlich nur eine Sache können, diese aber extrem gut, könnte ich dann doch wieder kaum darauf verzichten. Das betrifft etwa meinen Toaster, meinen Wasserkocher oder den noch recht jungen Kaffeevollautomat. Und wiederum andererseits habe ich einige Utensilien entweder »geerbt«, geschenkt bekommen oder mir in einem Moment der Schwäche selbst zugelegt, die eigentlich zu meinen »No-Gos« gehören, von denen ich mich aber bislang noch nicht beherzt trennen konnte oder wollte. Dazu gehören ein Waffeleisen und ein elektrisches Messer (beides dvor Jahrzehnten übereignet von der Mutter, seither einstellig selten genutzt), ein mit Spiritus-Rechauds betriebener »Heißer-Stein«-Tischgrill und ein ebenfalls nicht-elektrisches Fondue-Set (Geschenke des Mannes, das eine bereitet eher im Sommer Freude, das andere eher im Winter), ein winziges Zwei-Pfännchen-Raclettegrill (selbst gekauft, für den unvermeidlichen jährlichen Raclettejieper), ein Entsafter (selbst gekauft, aber die Nutzungsanlässe liegen, aufgrund des jahresübergreifend extrem selten aufkommenden Saftjiepers, zeitlich noch weiter auseinander als beim Raclettegrill) und last not least eine nicht-selbstkühlende Eismaschine, die zwar in ihren Abmessungen ziemlich kompakt ist, aber die ich trotzdem selten benutze, weil ich die mit Kühlmittel gefüllte hohlwandige Rührschüssel vorher tiefkühlen müsste und in meinem Mini-Eisfach so gut wie nie Platz dafür ist. In technischen Branchen hört man im Kontext mit großen Arbeitsmaschinen oft den Begriff »schweres Gerät«. In der Küche wäre »totes Gerät« für einige dieser Gerätschaften eine treffende Kategorie.

Bezüglich der Anschaffung meines neuen Stabmixer-Sets (Tausend Watt! Doppelt so viel wie bisher!) wird sich noch zeigen, ob es ein Glückskauf oder ein Ballastkauf war, denn ich ließ mich dazu hinreißen, die Variante mit dem üppigsten Zubehör zu bestellen. Man kann sich meinen Auswahlprozess vor dem digitalen Warenkorb durchaus so vorstellen, als säßen ein genügsamer Engel auf meiner einen Schulter und ein zügelloser Teufel auf der anderen und wisperten mir abwechselnd was ins Ohr, während ich hilflos wimmernd zwischen den unterschiedlich luxuriösen Ausstattungsvarianten des auserkorenen Basismodells hin- und herklickte:

😈 »Oh, schau, da ist sogar ein Püreestampfer-Aufsatz dabei! Cool! Pürees werden doch mit dem normalen Pürierstab immer so klebrig!«
😇 »Wie oft machst du bitte Püree? Und die wenigen letzten Male hast du immer Instant-Kartoffelpüreepulver genommen!«
😈 »Ja, aber das war immerhin Bio! Und außerdem kann man nicht nur Kartoffeln zu Püree stampfen, sondern auch Sellerie!«

😈 »Und hier: bei dem großen Set ist ein Zwei-Liter-Aufsatz dabei! Mit zwei verschieden dicken Scheibenschneidscheiben, einem Pommesschneider, groben sowie feinen Raspeleinsätzen und sogar einem Würfelschneider! Das geht viel schneller als mit der Hand!«
😇 »Denk dran, du hast auch Scheibenschneidtrommeln und eine Raspeltrommel im Aufsatz-Set deiner Kitchen Aid Küchenmaschine! Außerdem isst du fast nie Pommes, weil du auf eine Low-Carb-Ernährung umsteigen wolltest! UND GOTT WÜRFELT NICHT!«
😈 »Aber die Kitchen Aid ist so schwer, die muss ich immer erst aus dem Regal wuchten, der Zerkleinerungsaufsatz hier ist viel leichter und schneller hervorgeholt! Und Pommesstäbchen kann man auch aus Sellerie, Pastinaken oder Rote Bete machen!«

😇 »Trotzdem! Das große Set ist doch auch viel teurer als das kleine ohne den ganzen Schnickschnack! Und wer weiß, ob du das im Schrank alles unterbringst, selbst wenn du den alten Stabmixer inklusive Zubehör ausmusterst!«
😈 »Ja, aber guck hier – der Hersteller bietet gerade eine Cashback-Aktion an, nur noch für kurze Zeit! Da bekomme ich 20% des Kaufpreises zurück, wenn ich das gekaufte Set auf seiner Website registriere. Und die ganzen Zerkleinerungsscheiben nehmen doch kaum Platz weg!«

Am Ende jedenfalls grummelte der Engel irgendwann »Na meinetwegen, du wirst es schon sehen, wenn das Zeug größtenteils unbenutzt zustaubt oder verrostet!«, der Teufel murmelte noch was von »Außerdem rostet Edelstahl nicht und hinter verschlossenen Schranktüren gibt’s keinen Staub!«, aber da hatte ich bereits auf »Bestellen« geklickt und morgen schon soll der Paketbote kommen.

Und dann pürier’ ich mir die Welt, so wie sie mir gefällt.

Püreeekstase: Hühnerleber, Rote Bete mit Walnuss, Steinpilz und schwarze Olive (links oben beginnend, im Uhrzeigersinn)

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Heute ist der erste Tag nach meinem Jahresendurlaub, an dem ich »so richtig« wieder arbeite (Homeoffice), aber trotzdem fühle ich mich total besinnlich. Eigentlich sogar besinnlicher (kann man das steigern?) als kurz vor Weihnachten. Das mag einerseits daran liegen, dass ich nichts mehr für bevorstehende Feiertage besorgen oder organisieren muss, andererseits haben sich aber auch einige dunkle gesundheitliche Wolken im Familienumfeld – hoffentlich anhaltend – wieder etwas aufgehellt. Im Kopf ist jetzt einfach mehr Platz für Besinnlichkeit. Begleitend höre ich sogar (sehr empfehlenswerte) besinnliche Musik.

Andererseits ist aber auch der Schneefall vom Wochenende verantwortlich dafür. Ich hatte ja bereits gestern von dem schönen winterlichen Spaziergang zum Pub in Hamburg erzählt, aber ich mag Schnee generell sehr gerne. Ich sitze hier mit Blick auf den verschneiten Innenhof in meiner Barmbeker Küche und das Schöne daran ist nicht nur, dass dort draußen alles mit Schnee bedeckt ist, sondern dass in diesem Innenhof auch kaum jemand rumläuft. Außer zwei Eichhörnchen und ein paar Vögeln tummeln sich auf dem Boden keinerlei (Haus)tiere, die Leute hängen bei dem Wetter dort weder Wäsche auf noch klopfen sie Teppiche aus. Der Weg zu den Mülltonnen führt alle Bewohner auf die hofabgewandte Seite ihres jeweiligen Hauses und dort sind auch die Gehwege, wo die Schneedecke natürlich schon deutlich malträtierter ist von darüberlaufendem Gemensch und Getier.

Auf der Büro-Weihnachtsfeier vor gut drei Wochen im Dezember erhoben die netten anwesenden Kollegen und Partner während des Essens die Gläser und es sollte ein Toast aufs kommende Jahr ausgebracht werden. Ich trug zur Suche nach einem Trinkspruch bei, dass ich gern darauf tränke, dass ein jeder an möglichst vielen Tagen im Jahr 2024 entweder etwas Neues lernen oder möglichst häufig etwas (Angenehmes) zum ersten Mal im Leben tun möge. Denn ich persönlich merke, dass mir die Art dieser beiden Erlebnisse am häufigsten Freude bereitet. Es ist ein immanentes Privileg der Jugend, dass einem automatisch jahre-, jahrzehntelang quasi von selbst andauernd Erlebnisse zum allerersten Mal widerfahren oder man Handlungen selbst erstmals vollbringt. Auch Sachen, die man zu lernen hat oder Aufgaben und Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, ob freiwillig oder unter Noten- und Prüfungsdruck, prasseln bis weit nach Erreichen der Volljährigkeit nahezu täglich auf einen ein. Irgendwann lässt dann das Prasseln nach – zunächst womöglich ein angenehmer Kontrast zum vorangehenden Feuerwerk der aufregenden jungen Lebensabschnitte – aber man merkt irgendwann, dass dergleichen nicht mehr automatisch passiert, sondern dass man sich selbst darum zu kümmern hat. Manche Menschen auf der Suche nach solcherlei neuen Erfahrungen erklimmen Berggipfel, springen an Gummiseilen oder Fallschirmen aus großer Höhe oder reiten auf einem kleinen Brett über meterhohe Wellen durchs Meer. Manche ziehen um in eine neue Stadt oder ein neues Land, wechseln den Beruf, den Partner oder die Wohnung. Andere beginnen in der Mitte ihres Lebens ein Studium, belegen einen Volkshochschulkurs, nehmen eine ehrenamtliche Tätigkeit auf, treten in eine Partei ein, machen ein Weinseminar, eignen sich Kenntnisse einer fremden Sprache an oder lernen, ein Instrument zu spielen. Und wieder andere probieren neue Rezepte aus, gehen zum ersten Mal in die Oper oder färben sich zum ersten Mal die Haare. Alles kann neu sein, Thrill ebenso wie Behutsamkeit. Überall gibt es etwas zu lernen.

Eine frische Schneedecke ist für mich eine schöne Analogie für Dinge, die man zum ersten Mal tut. Man kann draußen sofort sehen, wo die meisten Spuren verlaufen, es ist unübersehbar, wo alle langgehen und der Asphalt unter dem dreckigen Schnee wieder durchkommt. Und man sieht sofort, wo noch niemand langging, alles noch glatt und frisch ist und ein neu beschrittener Weg, das Muster der eigenen Sohlen, auf dem neuen Terrain eine klar erkennbare Spur hinterließen. So einfach, wie eine unberührte Schneefläche neue Wege offenbart, sollte es überall sein.

Die zweite angenehme Eigenschaft einer frischen Schneedecke, ist, dass sie alles zudeckt. Sie dämpft Lärm und Geräusche und wenn sie dick genug ist, glättet sie Spitzen, Verwerfungen und scharfe Kanten der Dinge, die unter ihr liegen. Sie umhüllt die Welt mit einer weichen, hellen und alles weichzeichnenden Schicht. Dreck und Unansehnlichkeiten verschwinden für eine Weile, sogar Farben werden vielfach mit zugedeckt. Neuschnee gibt mir einen kurzen Moment lang die naive Hoffnung, dass es möglich sein könnte, den Krach, Differenzen, Vorurteile, Missgunst, ausgetretene Pfade, tiefe Gräben, Streit, Hass und Feindseligkeit einfach meterhoch zuzudecken und obendrauf bliebe nichts als Stille, Licht und eine endlose, glitzernd weiße Fläche, die wir dann alle zum ersten Mal betreten könnten – um eine neue Richtung einzuschlagen.

Alles zugedeckt (fotografiert im Raum Meißen am 30.12.2010) | Foto: © formschub

Wischiwaschi

Gestern Abend war ich mit dem Mann im Omnipollos, einem unserer gern besuchten Craft-Beer-Pubs in Hamburg. Da der Pub recht klein ist, Wochenende und Samstag war und wir zu einem ähnlichen Zeitpunkt dort schon mal aufgrund größeren Andrangs nicht mehr untergekommen waren, reservierten wir vorher sicherheitshalber online einen Tisch. Um noch etwas Bewegung zu praktizieren, hatten wir uns vorgenommen, nur die erste Hälfte des Weges mit der U-Bahn zu fahren und den Rest durchs winterliche Hamburg zu Fuß zurückzulegen. Kurz vor dem Aufbruch begann es wieder heftig zu schneien, was der kleinen Stadtwanderung eine zusätzliche besondere Atmosphäre verlieh: es war bereits dunkel, aufgrund des Schneefalls waren merklich weniger Autos und Fußgänger unterwegs, in den Lichtkegeln der Laternen und Scheinwerfer stoben die Flocken und das gemütliche Knirschen unter den Sohlen bei jedem Schritt, in Verbindung mit den schneegedämpften Stadtgeräuschen machten aus dem ansonsten profanen Fußweg einen richtig schönen Winterstreifzug.

Als wir in dem Pub ankamen, erwies sich unsere Tischreservierung als überflüssig, es waren kaum andere Gäste da, so dass wir freie Auswahl bei unseren Sitzplätzen hatten. Die Wände und Möbel im Schankraum sind fast komplett in Pink gehalten, was die Netzhaut zwar anfangs etwas irritiert, aber in Verbindung mit der schummrigen Beleuchtung dann bald eine gemütliche Stimmung erzeugt. Auch die im Hintergrund spielende Musik war sowohl ungewöhnlich als auch der besonderen Stimmung förderlich – sehr jazzy und groovig, zwei der Stücke musste ich gleich mal shazamen: »Cat’s Groove« (Kaelin Ellis feat. Tony Rosenberg) und »Jimmy’s Groove« (Delvon Lamarr Organ Trio) – mir bislang komplett unbekannte, aber sehr coole Songs.

Wir saßen also da in dieser wenig besuchten, funky beschallten Bar, tranken unser Bier, unterhielten uns angenehm, draußen fiel Schnee und ich wollte diese Stimmung irgendwie in einem Foto einfangen, wusste aber, dass jede korrekt belichtete Aufnahme, egal mit welchem Motiv oder gleich aus welcher Perspektive, dem nicht würde gerecht werden können. Da kam ich darauf, zu versuchen, ob ich mit der Smartphonekamera vielleicht eine »Lomographie« hinbekommen würde – ein langzeitbelichteter Zufallsschnappschuss, bei dem man nicht durch den »Sucher« schaut, sondern einfach aus dem Stegreif in die Szene hineinknipst und sich vom Ergebnis überraschen lässt. Et voilà.

An meiner Sammlung analoger Fotos, die ich bis etwa 2005 im Alltag, auf Reisen und im Urlaub geschossen habe, haben lomographische Schnappschüsse einen ziemlich großen Anteil. Diese Art des Knipsens war gegen Mitte der 1990er Jahre ein ziemlicher Hype und als fotografisch interessierter Grafikdesigner kam auch ich nicht umhin, mir bald die spezielle, dafür prädestinierte Kamera zuzulegen: eine Lomo LC-A. Die zwei Besonderheiten der kleinen, sehr robusten mechanischen Kamera (anfangs noch aus original russischer Produktion) waren, dass sie erstens einen recht tiefentoleranten Fokusbereich hatte, man also das Motiv nicht extra scharfstellen musste und zweitens einen Belichtungssensor, der die Verschlusszeit noch während der Aufnahme regelte – auch bei schwankender Lichtstärke wurde immer so viel Belichtungszeit »gesammelt«, dass auf jeden Fall etwas auf dem späteren Foto erkennbar war. Fotografiert wurde »aus der Hüfte« – man hielt die Kamera einfach mit der Hand spontan in Richtung des anvisierten Motivs und drückte ab, ruhig gehalten oder auch bewegt. Und anders als heute, bei der (von mir sehr geschätzten und ausgiebig praktizierten) Digitalfotografie, konnten die experimentellen Resultate dieser Art zu fotografieren natürlich erst Tage oder Wochen später, nach der Filmentwicklung sowie Anfertigung der papierenen Fotoabzüge begutachtet werden.

Die kleine LOMO hab ich immer noch, die letzte Benutzung liegt aber lange zurück …

Trotz dieses riskanten Ansatzes – denn es gab natürlich auch viel »Ausschuss« in Form missratener oder uninteressanter Bilder – war die große Stärke der gelungenen lomografischen Schnappschüsse aus meiner Sicht immer, dass sie perfekt die Stimmung in einem bestimmten Moment einfangen konnten. Bei schummrigem Licht erhielt man verwischte oder unscharfe Fotos, die Bildmotive waren meist abgeschnitten oder standen sonderbar schräg bzw. in gewagten Perspektiven im Format, die Gestik und Mimik der abgelichteten Personen waren meist total zufällig, zumal sie ja oft gar nicht merkten, dass sie fotografiert wurden, weil die Kamera »undercover«, am spontan gereckten Arm, statt gezielt mit Blick durch den Sucher auf sie gerichtet, zum Einsatz kam. Bei einer Urlaubsreise etwa, 1997 mit einer Gruppe von sechs Freunden in die Toskana, verfuhren wir uns auf der Anreise zum gemieteten Ferienhaus derart, dass wir erst nachts um eins am Ziel ankamen und uns die Vermieterin, im Nachthemd und mit einer Laterne in der Hand, auf dem Schotterweg der Zufahrt zum Haus entgegenkam, um uns das letzte Stück des Weges zu leuchten. Erschöpft und aufgekratzt saß unsere Clique danach noch bis in die Nacht bei reichlich Rotwein in der Küche der Unterkunft und die schrägen, verschwommenen Fotos dieser gleichermaßen angeheiterten wie ausgelaugten Gesellschaft, die ich in jener Nacht schoss, sind für mich in ihrer Unvollkommenheit bis heute die bestmögliche Essenz dieses besonderen Moments. Kein korrekt belichtetes, gerade ausgerichtetes oder scharf fokussiertes Foto hätte das genauso perfekt einzufangen vermocht.

Ich habe eben mal etwas in meinem Fotoarchiv gekramt und neun beispielhafte Papierabzüge aus meiner »lomografischen Periode« ohne Nachbearbeitung abfotografiert. Und ich glaube, ich kriege gerade Lust, diese nostalgische und herrlich unperfekte Art des Fotografierens – wenn auch mit der digitalen Smartphonekamera – künftig öfter mal wieder zu praktizieren.

Gewohnheitstiere

Im vorletzten Blogartikel hatte ich ein paar Gedanken dazu aufgeschrieben, wie praktisch es sein kann, Gewohnheiten zu folgen. Was man immer wieder oder regelmäßig macht, ist mental irgendwann so fest verdrahtet, dass es automatisch abläuft und man nicht mehr großartig darüber nachdenken muss. Wenn ich mich in ein Auto setze, schnalle ich mich automatisch an, ehe ich den Zündschlüssel rumdrehe. Inzwischen nahezu ein Reflex. Und seit ich mich einmal vor Ewigkeiten aus meiner Wohnung ausgesperrt habe, habe ich mir angewöhnt, den Fuß von außen in die Tür zu stellen, wenn ich die Wohnung verlasse, und zu prüfen, ob ich den Schlüssel dabeihabe, ehe ich den Fuß wegnehme, die Tür zuziehe und abschließe. Auch das ist bei mir erfolgreich zum Automatismus geworden.

Immer, wenn ein neues Jahr vor der Tür steht, drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob man für sich »gute Vorsätze« formulieren will. Das kann in der alltäglichen Praxis eigentlich nur dann klappen, wenn daraus baldmöglichst eine dauerhafte Gewohnheit entsteht. Für 2023 hatte ich mir nur zwei Vorsätze genommen: bei der Ernährung öfter auf Fleisch verzichten und in einem gesunden Maß sowie mit geruhsamem Tempo mein Gewicht zu reduzieren. Hat beides das komplette Jahr über ganz gut geklappt und wird mit dem Ziel einer weiter zu verfestigenden Gewohnheit ins Jahr 2024 mit rübergenommen.

Es gibt aber auch Gewohnheiten, bei denen es von Nachteil ist, dass man nicht mehr drüber nachdenkt. Nämlich wenn es sich um Routinen handelt, an die man sich gewöhnt hat, ohne sie noch bewusst zu hinterfragen. Die beste Analogie, die mir dazu einfällt, ist eine weiche, gepolstere Sitzkuhle auf dem heimischen Sofa an der Stelle, wo man am häufigsten Tag für Tag Platz nimmt. Sie zeigt mir schon vor dem Hinsetzen an, wo »mein Platz« ist; wenn ich dort sitze, ist es superbequem, aber durch die Vertiefung im Polster wird es auch zunehmend schwieriger, auch nur ein wenig die Position zu verändern. Ich müsste schon bewusst aufstehen und mich einen Platz weiter auf ein weniger eingesessenes Stück Sofa setzen, um aus dieser Gewohnheit wirklich rauszukommen. So merkte ich etwa im Laufe des letzten Jahres, dass sich das private »Einigeln«, das seit dem Beginn der Corona-Pandemie notgedrungen im Alltag Einzug hielt, bei mir immer noch anhält und sich zudem etwas mehr zu verfestigen droht, als es mir gefällt oder guttut. Durch 80–90% Homeoffice beschränkt sich die Kommunikation im Job mit den (wenigen) Kollegen und mit Kunden inzwischen hauptsächlich auf Videocalls. Ich merke aber, dass ich die persönliche Begegnung, Live-Teamwork, spontane Interaktionen oder auch einfach mal »zwischendurch Quatsch machen« vermisse. Schon im letzten Quartal 2023 habe ich daher begonnen, öfter mal wieder Live-Arbeitstreffen zu initiieren und möchte das auf jeden Fall fortsetzen. Auch im privaten Bereich habe ich bemerkt, dass der im persönlichen Kontakt gepflegte Freundeskreis etwas zu sehr geschrumpft ist, als mir das gefällt. Man ist zwar lose in Kontakt über Facebook, WhatsApp usw., aber das früher häufigere »mal was trinken gehen« oder »zusammen kochen/essen« z.B. ist deutlich reduziert. Kommt also auch mit auf den Plan »vom guten Vorsatz zur festen Gewohnheit«.

Verbunden mit der Wiederbelebung der Bande zu guten Freunden ist die Fortsetzung des Bestrebens, Menschen bewusst von mir fernzuhalten, die mir nicht gut tun. Auch hier steht die Gewohnheit im Weg, insbesondere online, denn allein, weil man jemandem im Internet schon eine gefühlte Ewigkeit folgt, darf das eigentlich kein Grund sein, missmutig gewordene Follower oder solche, deren Ansichten in die Befremdlichkeit abdriften, zu entfolgen. Hinfort mit allen, die schlechte Stimmung machen, das eigene Befinden trüben oder zu überflüsigem Stress führen. Dabei hilft auch das fortschreitende Alter – ich habe schlich keine Lust mehr, meine verbleibende Zeit unnötig mit Menschen, Kontakten und Interaktionen zu verplempern, bei denen ich es meiner Kontrolle unterliegt, sie zu beenden. Und das gilt auch für Menschen im realen Umfeld. Weg mit den Verdrussquellen, hinfort, hinfort!

Was mich auch noch ärgert, ist meine seit Jahren (zu) enge Bindung an Online-Lektüre. Das Internet hält mich massiv vom Bücherlesen ab – und damit bin ich bestimmt nicht alleine. Ich bin zwar mit vielen netten Followern verbunden, bin aktuell und umfassend informiert, aber die ständige Häppchenkost aus Postings, Blogbeiträgen, E-Mails, Nachrichtenmeldungen, Messages und Suchergebnissen schadet spürbar meiner Aufmerksamkeitsspanne – ich lese also nicht nur seltener längere Texte oder Bücher, sondern es fällt mir auch noch schwerer, wenn ich es tue, mich darauf zu konzentrieren und das ist nicht gut. Ob und wie ich es hinbekomme oder in eine Gewohnheit überführen kann, mich von Display und Monitor täglich oder mehrmals in der Woche zu lösen, weiß ich noch nicht. Vielleicht gibt es ja Tipps aus eigener Erfahrung der Leser? Ich würde mich freuen, davon zu hören.

In den letzten Wochen des Jahres musste ich an zwei Ereignisse aus meinem eigenen Umfeld denken, die symbolisch ebenfalls schädliche, aber leider recht verbreitete Gewohnheiten aufzeigen. Die erste Anekdote ist mir ausgesprochen peinlich, aber da das fragliche Ereignis inzwischen gut 35 Jahre her ist und mich zudem nachhaltig geläutert hat, habe ich mittlerweile etwas Distanz dazu. Es muss in den Jahren 1987–1989 geschehen sein, ich war damals Anfang 20, als meine »Stamm-Discothek« in meinem Wohnort zur Silvesterparty einlud. Das Angebot, mit einer begrenzten Anzahl von Tickets, bot zu einem Eintrittspreis von 50,– DM den ganzen Abend freie Versorgung mit Speisen und Getränken – ohne Limits. Mit zwei Freunden griff ich zu, erwarb ein Ticket und so begann am SIlversterabend gegen 21 Uhr unsere Jahreswechsel-Sause im besagten Club. Um Essen zu bekommen, musste man zwar an den Tresen gehen, aber die Getränke waren in großen Kühltruhen für jeden Gast frei zugänglich: Bier, Wein, Sekt, Wodka, Tonic, Cola, Gin, Bitter Lemon, Whisky – all inklusive. Und es wurde ein verhängnisvoller Jugendexzess. Ich habe den Jahreswechsel um zwölf vor Ort nicht mehr in einem hinreichend klaren Zustand erlebt. Schon weit vor Mitternacht hatte das ungehemmt wahrgenommene Angebot an durcheinander getrunkenen (ich sage bewusst nicht »genossenen«) Spirituosen aller Art zu starker Übelkeit mit entsprechender oraler Ausstoßreaktion geführt und so verließ ich die Party zwar ohne Filmriss, aber sehr betrunken, derangiert, befleckt und indisponiert und fuhr noch im alten Jahr mit einem Taxi nach Hause. Wie grauenvoll der Kater am nächsten Morgen war, erinnere ich zwar nicht mehr, aber ein solch unmäßiges Erlebnis mit Alkohol wiederholte sich bei mir nie wieder.

Das andere Vorkommnis wurde mir von meiner Mutter berichtet, die in den 1990er Jahren eine Zeitlang in ihrer damaligen Wohnung in der Nähe von Hannover ein Gästezimmer an Besucher oder Standpersonal der Hannover Messe vermietete. Ein englischsprachiger Gast zog für die Dauer der Veranstaltung bei ihr ein, benahm sich dem ersten Eindruck nach gesittet und unauffällig, wenngleich er oft erst spät abends in die Unterkunft zurückkehrte, und reiste am Ende der Messewoche frühmorgens unter Hinterlassung des Zimmerschlüssels wieder ab. Bei der nachfolgenden Raumpflege und Reinigung erwartete meine Mutter dann, unter dem sorgfältig über das Bett drapierten Federbett, eine ergiebige Lache Erbrochenes. Auch dieser Gast hatte wohl am Vorabend über die Stränge geschlagen und sich ohne Hinweis auf seinen Fauxpas aus dem Staub gemacht, was ihn jedoch nicht davor verschonen sollte, sich nachfolgend schriftlich mit meiner zu Recht erbosten Mutter auseinandersetzen und zumindest materiell für Schadenersatz sorgen zu müssen.

Wo ist der Bezug zu den davor geäußerten Gedanken? Das Bild der zum Pauschalpreis offenstehenden Party-Kühltruhe und der mit einem eigentlich lächerlichen Preis abgegoltene »all inclusive«-Zugriff auf die nahezu unerschöpfliche Vorräte drin, ohne Gedanken an diejenigen, die dieses Angebot bereitstellen, an die Folgen des unmäßigen Konsums, oder an jene, die mit den Hinterlassenschaften konfrontiert werden bzw. sie zu beseitigen haben, hat für mein Empfinden einiges gemein mit unserer »westlichen« Lebensweise, die von vielen Leuten immer noch mit dem Wort »Wohlstand« bezeichnet wird, obwohl Überkonsum eigentlich treffender wäre. Und wenn, wie in der zweiten Geschichte, die Folgen dreckig, peinlich, eigentlich unübersehbar und womöglich unumkehrbar sind, diese mit einer blütenweißen (metaphorischen) Decke zu kaschieren, ist das m.E. ein recht passendes Bild dafür, wie viele (gewerbliche) Verursacher sich verhalten und damit leider oft nach wie vor in der Öffentlichkeit »durchkommen«.

Ein Begleitgedanke, der mir kürzlich noch kam, als ich negative Kommentare im Netz auf fremde (und bisweilen auch eigene) Beiträge las, dockt ebenfalls lose an der Silvesteranekdote an. Kann es sein, dass viele Menschen das monatliche oder prepaid entrichtete Entgelt für ihren Internetzugang irrtümlich ebefalls als eine Art »Pauschalpreis« interpretieren, der sie glauben macht, damit auch einen festen Anspruch auf Art, Inhalt und Formulierung der (kostenlosen) Inhalte zu haben, die sie dort konsumieren? Eine Art »VIP-Logen-Attitüde«, die sie vermeintlich befugt, trotz Freikarte an allem rumzunölen und gleichzeitig Anpassung und Änderung einzufordern, wo eigentlich nur eine unverfängliche private Meinung oder Alltagsnotiz gepostet wird, die ihnen missfällt? Ich sehe ein, dass jemand, der (ungeprüft) ein Buch kauft, eine Zeitschrift, Zeitung, eine Kinokarte, eine Filmdatei oder ein anderes kommerziell erzeugtes Produkt, das Bedürfnis hat, den erworbenen und bezahlten Content – auch öffentlich – bei Mängeln oder Missfallen zu kritisieren. Bildqualität schlecht, Schauspieler miserabel, Handlung unlogisch, Regie, Schnitt, Übersetzung, Lektorat mangelhaft, schmeckt nicht, billig verarbeitet – alles legitime Kritikpunkte, sofern ich für mein Geld einen direkten Gegenwert erhalten habe. Aber wenn jemand einen Monatsbeitrag an seinen Internetprovider bezahlt, zu fordern, dass private User auf den von ihm/ihr konsumierten kostenfreien Kanälen oder Social-Media-Plattformen ihren Content auf seine/ihre Bedürfnisse oder Weltsicht abstimmen, erscheint mir das nicht nur anmaßend, sondern absurd. Ja, natürlich gilt uneingeschränkt die Meinungsfreiheit und jeder kann mir, wenn es ihn oder sie partout drängt, mir oder anderen gegenteilige und beliebig schnoddrige Kommentare unter deren Online-Beiträge packen. Ich verstehe nur nicht, warum es so vielen ein Bedürfnis ist, dies bei lediglich geschmacks- oder interessenbedingt abweichenden Ansichten zu tun und dafür zudem eine beträchtliche Menge Zeit zu investieren. Jeder (kostenfrei zugängliche) Supermarkt hat zahllose Produkte im Sortiment, die mich nicht interessieren, für die ich keinen Bedarf habe, die ich nicht mag oder sogar verabscheue. Ich gehe dort einkaufen, wähle aus, was mir gefällt oder was ich benötige, zahle dafür und habe auch stets das Recht auf Reklamation bei Produktmängeln, oft sogar bei nachträglichem Nichtgefallen. Aber gehe ich durch die Gänge und klebe Post-Its mit Mäkel- und Aversionsparolen an die Regale mit Babywindeln, Harzer Käse, Rollmops, Duftkerzen oder Monatshygieneartikeln? Oder verlange ich zeternd vom Marktleiter, dass die mir persönlich nicht genehmen Produkte unverzüglich aus dem Sortiment des Marktes genommen werden sollen? Wohl kaum. Im Netz ist dieses Denkmuster jedoch auffallend häufig anzutreffen. Wieso nicht öfter gönnen können, Differenzen aushalten, über unbedeutende Fehler hinwegsehen, sich entweder mitfreuen oder weiterscrollen, akzeptieren, dass die Welt bunt ist und die Vorlieben, Geschmäcker und Interessen vielfältig sind, zur Kenntnis nehmen, dass nicht jeder Content für den eigenen Bedarf erstellt wird und kapieren, dass es bei privaten Postings keinen Anspruch darauf gibt, dergleichen einzufordern.

Gerne kann auch das von mir aus eine Gewohnheit werden, die im neuen Jahr mehr Freunde findet.

Neues Jahr, neue Wege? Und wenn ja, den geänderten Kurs planen – oder einfach drauflosmarschieren?