Zwischen Gold und Schwarz

Der Herbst ist da. Der Griff zu Heizungsthermostat, Warmwasserhahn und Lichtschalter wird wieder zur Routine, man erinnert sich der im Schrank hinten unten liegenden Wolldecke, sinnt vermehrt über Koch- und Backrezepte nach, verspürt Appetit auf Deftiges und schwer gedeckten Obstkuchen und erhöht den Anteil der Heißgetränke am täglichen Flüssigkeitskonsum. Und: Herbstzeit ist Lyrikzeit.

Klar, da denkt jeder an Rilke und seinen stürmisch-einsamen, goldbraunen Herbst (»Herr: es ist Zeit …«), aber es geht noch eine satte Nuance dunkler, grauer und trostloser. Hier ein Herbstgedicht des inzwischen fast vergessenen Schriftstellers Oskar Kanehl (1888–1929), dessen spröde Sprachgewalt mich ebenso fasziniert wie Rilkes Werk und das zum Zwecke erhöhter Beachtung heute der Beitrag zum gewählten Thema sei:

Herbstnächtlicher Gang
Naßkalte Nacht.
Wie weißschaumiger Aussatz
deckt Nebel das sündige Land.
An meiner Hand
wandert mein letzter Begleiter: der Schatten.
Hastig vorbei
gleiten, wie tanzender Leichenzug,
schwarzgerippige Bäume.
Frierende Tiere
hallender Hungerschrei.
Eine Mühle wie Galgenspuk.
Drohende Telegraphenlatten.
Mit dunkelblutigen Armen
winkt gierig das Wasser.
Und durch ein Leichentuch blinkt
rot umrandet, gequält,
wie ein entzündetes Auge
der Mond.

Und jetzt schnell ein Stück Rum-Trauben-Nuss-Schokolade und ein Kaffee mit Amaretto als Antidot gegen eventuell aufkommende Herbstmelancholie.

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