Prozessbeobachter

In letzter Zeit häufen sich hier – so fällt mir auf – Beiträge, die man als »Rants« bezeichnen könnte. Allerdings mag ich das Wort, auch aufgrund seiner Definition (»leidenschaftliche und emotionale Wutreden«) nicht sonderlich gerne, es klingt mir als Überschrift etwas zu stumpf und zu emotional. Ich versuche lieber, über alltägliche Umstände, die mich nerven oder mit den Augen rollen lassen, mit einem Ideechen Abstand und einem Quentchen Spott zu bloggen, denn letztendlich soll der Output ja auch (gerne) gelesen werden. Humorlose Nölkaskaden möge man bitte anderswo suchen.

Viele Impulse zu meinem heutigen Thema liefern unter anderem suboptimale Umsetzungsversuche dessen, was gemeinhin »Digitalisierung« genannt wird. Sie sind für mich ein fast täglicher Quell des Stutzens und Brauenhebens. »Grund dafür ist«, würde die Ansagestimme der Deutschen Bahn nun einleiten, dass die Prozesse, in welche viele User dadurch verwickelt werden, zumeist … wie formuliere ich es? Denn »nicht richtig zuende gedacht sind« wäre falsch, denn sie sind sehr viel häufiger bereits gleich zu Beginn unfamos ersonnen. Mein häufigster Eindruck bei Abläufen, die nicht funktionieren* ist der, dass die »Konzepte« dahinter fast immer vier große Schwachpunkte aufweisen:

  • Die Abläufe wurden von Menschen erdacht, die entweder nicht willens oder in der Lage waren, sich vorher empathisch und kompetent in die Situation der späteren Anwender oder Nutzer der Prozesse hineinzuversetzen, so dass das Resultat zwar im besten Fall »auf dem Papier« funktionieren könnte, es aber in der Realität zumeist nicht tut.
  • Die Planer der Prozesse hatten hinterher entweder keine Zeit, keine Lust oder beides, ihre ausgetüftelte Lösung wenigstens einmal selbst, inklusive aller Optionen und Eventualitäten, zu durchlaufen, so dass an vielen Stellen Lücken, Fehler, Irritationen, Sackgassen und weitere Ärgernisse lauern, die bei einem gewissenhaften Testlauf eigentlich hätten auffallen müssen.
  • Die Gruppe der Prozessausdenker scheint sich generell nicht mit der Gruppe Menschen zu überlappen, die hinterher diesen Prozess nutzen oder auf ihn angewiesen sind (z.B. Menschen, die sich Abläufe für Zug- oder Buspassagiere ausdenken, aber selber ausschließlich Auto fahren). So bleibt ihnen nach ihrem Projekt jedwede ärgerliche Erfahrung mit den eigenen halbgaren Arbeitsergebnissen erspart.
  • Das Resultat ist eine derart unlogische, kontraproduktive oder verwirrende Abfolge von Handlungsschritten, dass der Prozess, der eigentlich zumeist initiiert wurde, um Dinge schneller und/oder einfacher zu machen, hinterher sämtliche Beteiligten mehr Zeit und Nerven kostet als vor der Einführung des neuen Ablaufs. Das ärgert zwar viele der so Gebeutelten, aber überraschend oft ist zu beobachten, dass dieser Ärger als notwendiges Übel des neuen »Systems« hingenommen wird, anstatt solche Dinge zu melden oder anderweitig auf eine Beseitigung an der Quelle hinzuwirken.

* Das betrifft übrigens nicht nur digitale Prozesse, sondern sehr oft auch analoge, wie z.B. die Wegeleitung auf Autoverkehrsstraßen, in Flughafengebäuden, an großen Bahnhöfen oder an Stationen sonstiger öffentlicher Verkehrsmittel. Insbesondere die Fahrgastlenkung zu Umsteigepunkten und Ausgängen ist häufig ein Graus.

Einige aktuelle Beispiele:

1.
Vorgestern Abend suchte ich im Internet nach einem antiquarischen Buch. Nichts Besonderes, eine massenhaft gedruckte Anthologie mit Science-Fiction-Geschichten, irgendwann in den späten 1970er Jahren als Taschenbuch erschienen und auf vielen Gebrauchtbuchportalen zahlreich zu finden. Ich entschied mich für ein Angebot bei dem Portal ZVAB mit einem sowohl günstigen Buchpreis als auch moderaten Portokosten, legte das Werk in meinen digitalen Warenkorb und gab meine Adressdaten ein. Auf der nächsten Seite »Zahlungsmethoden« konnte ich frei wählen. Es gab die Optionen »Kredit- oder Debitkarte« und »Verkäufer direkt nach der Kaufabwicklung bezahlen (PayPal, Rechnung)«. Als ich »PayPal« anklickte, erschien der Hinweis »Der Verkäufer wird Sie innerhalb von 2 Werktagen nach der Bestellung kontaktieren, um die Zahlung zu vereinbaren«. Och nö, dachte ich, noch ’ne extra Kontaktaufnahme ist eigentlich überflüssig und klickte dann doch auf »Kreditkarte«. Die Eingabe der Daten ging problemlos und eine Bestellbestätigung traf ein (»Ihre Bestellung ist bei uns eingegangen und wurde an den Verkäufer weitergeleitet. Sobald die Bestellung durch den Verkäufer bearbeitet wurde, erhalten Sie eine Benachrichtigung per E-Mail«) und ich nahm an, es liefe nun alles automatisch weiter, bis ich das Buch in Empfang nehmen könnte. Doch nein – heute erreichte mich eine E-Mail des Verkäufers:

Hallo
Bei einer Bestellung mit Kreditkarte kostet das 1,50 Euro Gebühren . Bei dem Preis des Buches ist das nicht wirtschaftlich , deswegen habe ich den Verkauf storniert .Falls Sie das Buch mit eigener Überweisung kaufen möchten , schicke ich Ihnen das Buch gerne auf Rechnung zu.

Oukayemeh … wieso erfahre ich das erst jetzt?, dachte ich. Es wäre doch ein Leichtes, den Bestellprozess so zu modifizieren, dass man als Kunde bei geringpreisigen Bestellungen zumindest schon auf der Zahlungsseite einen Hinweis darauf erhält, ähnlich dem »KARTENZAHLUNG AB ZEHN EURO«-Aushängen an immer noch so manchem realen Kassenhäuschen. Stattdessen bekommt jeder Besteller alle Zahlungsoptionen angeboten und der Verkäufer muss vermutlich öfter mal eine Bestellung stornieren, all diese Kunden auf den ungünstigen Umstand hinweisen, der Kunde muss eine E-Mail zurückschreiben oder das Buch nochmals im Shop bestellen und so weiter. Das erscheint mir verbesserungsfähig.

2.
Gestern Nachmittag dann suchte ich den mir nächstgelegenen EDEKA-Markt auf, um noch einige Zutaten für einen Salat einzukaufen. Ich entschied mich für zwei lose Zucchini, einen Kopf Endivien und einen abgepackten Bund Dill. Zwei Produkte mit EAN-Barcode also, sowie Abwiegeware. Es gab eine lange Schlange an den Bedienkassen, aber die Sebstscan-Phalanx war kaum frequentiert. Ich hatte vor etwa zwei Monaten die Installation der SB-Kassenstationen im Laden mitbekommen. Eine ganze Riege Techniker und Installateure war an, hinter und unter den Elektronikmodulen mit der Aufstellung, Verkabelung und Einrichtung der Terminals beschäftigt und ich hatte mich damals schon gewundert, warum ganz am Ende des Bereichs, kurz vor der Ausgangsschranke, eine (eine!) Waage mit Etikettendrucker aufgestellt wurde. Seit heute weiß ich es. In einem REWE-Markt, den ich häufig besuche, nutze ich in Stoßzeiten oft und gerne die SB-Kassen, insbesondere bei kleineren Einkäufen. Sie sind schnell, intuitiv und leicht zu bedienen und in jeder Station ist eine Waage mit einem nutzerfreundlichen Obst- und Gemüsesuchmenü integriert. Ware auflegen, auf »Produkt suchen« klicken, die alphabetischen und bebilderten Warenkacheln durchscrollen – fertig.

Nicht so bei EDEKA. Als ich extra als Erstes zu der einzeln stehenden Waage ging und meine beiden Zucchini darauflegte, um ein scanbares Etikett für meinen folgenden Gang zur SB-Kasse zu drucken, fand ich kein Suchmenü vor. Stattdessen erschien auf dem Display eine Zifferntastatur mit der Aufforderung »Bitte geben Sie die vierstellige Zahlenfolge vom Preisschild am Warenregal ein«.

Nochmal oukayemeh … es hat also im konzeptionellen Traumland der EDEKA-SB-Kassenplaner wie folgt abzulaufen: Die Kundin oder der Kunde entnimmt in der Obst- und Gemüseabteilung lose Ware aus dem Regal und notiert sich (wo und wie auch immer) für jedes einzelne Wiegeprodukt die vierstellige Zahlenfolge von dem postkartengroßen Auszeichnungsschild am Regal, idealerweise mit der Bezeichnung des dazugehörigen Agrarprodukts, denn die Zahlenfolgen alleine wird niemand am Ende des Einkaufs wieder korrekt zuordnen können. Nach Ankunft an den Kassenstationen geht man dann zu der einzelnen Waage, die nicht am Eingang des Bereiches platziert wurde, sondern am Ausgang, um für seine Waren nacheinander die korrekten Zahlenfolgen einzutippen, alles einzeln abzuwiegen und die jeweils ausgedruckten Etiketten auf den Produkten, einer Tüte o.ä. anzuheften. Dann geht man wieder zurück zu einer (hoffentlich) freien SB-Station, denn hinter der abwiegenden Person wird ja ggf. weiter an den SB-Kassen angestanden und die Stationen können jederzeit von Kund*innen ohne Wiegeware besetzt werden. Ansonsten stellt man sich eben wieder irgendwo hinten an, immerhin mit seinen inzwischen ORRRDNUNGSGEMÄß abgewogenen Veggies. Sodann kann man alle EAN-codierten Waren einscannen, dazu das Potpourri der ausgedruckten Gemüseetiketten und schon ist man fertig. Mit den Nerven.

Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich frage: WER DENKT SICH SO EINE KRUDE ALBTRAUMSEQUENZ AUS? Ladendiebe? Menschen, die Butler oder Zofen haben, die sie zum Einkauf entsenden können? Bauern, die kein Obst und Gemüse einkaufen müssen, weil es bei ihnen auf dem Hof wächst? Ich bin ein wenig ratlos. Ein solcher Prozess wird ja vermutlich auch nicht von einer einzelnen Person ausgeheckt, sondern irgendjemand hat eine Idee, präsentiert die einem oder einer Vorgesetzten, in einem Teammeeting oder in einer Runde mit weiteren Projektpartnern und Dienstleistern. Und alle, die diesen Vorgehenshomunkulus aus Odysseus und Sisyphos präsentiert bekamen, sagten daraufhin »Ja, super. Perfekt! Machen wir so!« Oder was? Man weiß es nicht.

3.
Ein drittes Beispiel ist das Tracking von Paketsendungen. Vermutlich kann inzwischen jeder ein buntes Potpourri an Anekdoten dazu erzählen. An sich ist die Möglchkeit zu einer Sendungsverfolgung eine tolle Sache. Manche Onlineshops oder Kuriere neigen zwar dazu, ihre Statusberichten ein wenig überzudifferenzieren (»Ihre Bestellung ist eingegangen« – »Wir haben Ihre Zahlung erhalten« – »Ihre Ware wird nun verpackt« – »Gleich wird Ihr Paket abgeholt« – »Ihr Paket ist nun auf dem Weg« – »Bald schon ist ihr Paket bei Ihnen« – »Ihr Paket ist in Ihrem Wohnort eingetroffen« – »Ihr Paket wird nun ins Zustellungsfahrzeug verladen« – »Ihr Paket kann es kaum erwarten, bei Ihnen anzukommen« …), aber man ist ja lieber reichlich als unzulänglich informiert. Meistens schleichen sich dann aber im Lauf der Transportkette »Glitches« ein, die zu berechtigtem Unmut führen. Letzte Woche etwa behauptete die DHL-Sendungsverfolgung, während ich zu Hause still und empfangsbereit auf ein avisiertes Paket wartete, es sei mir soeben persönlich zugestellt worden. Ich hatte mich aufmerksam beobachtet und kann mit Sicherheit sagen, dass ich vor dem Eintreffen dieser Meldung nichts getan hatte, was mir an mir aufgefallen wäre. Es hatte niemand geläutet, ich war nicht ohne mich zur Tür gegangen und ich hatte auch nicht von mir unbemerkt die Tür geöffnet. Es lag kein Paket vor der Wohnungs- oder Haustür, kein Paket im Treppenhaus, keins in der Nähe der Briefkästen. Ich fand keinen Benachrichtigungszettel zum Verbleib der Sendung in der Post und bekam keine nachträgliche Korrektur der Zustellbestätigung. Es ist befremdlich, wenn sich nach einer zuvor lückenlosen Kette elektronischer Statusmeldungen ein Paket quasi auf der Schwelle zum Ziel plötzlich dematerialisiert. Der analoge Bote hatte an diesem Punkt ganz offensichtlich einen Fehler in die digitale Prozesskette injiziert bzw. er war die Ursache des Fehlers. Also: Anruf bei der DHL Service-Hotline. Eine freundliche Mitarbeiterin nahm meine Reklamation auf und sagte, würde sich binnen der folgenden 3–5 Werktage niemand bei mir melden, solle ich eine Verlustmeldung beim Absender einreichen.

Als DHL mich – weiterhin paketlos wartend – zwei Tage später telefonisch erneut kontaktierte, wurden mir nicht etwa Neuigkeiten zum Verbleib meiner Sendung überbracht – nein, es war eine Mitarbeiterin aus dem Bereich Customer Relationship Management, die anhand einer recht umfänglichen Serie von Fragen meine persönliche Zufriedenheit mit dem DHL-Kundenservice abrufen wollte. Auch hier erschien mir der Zeitpunkt für einen solchen Anruf innerhalb der imaginären Prozesskette eher ungünstig. Ob die Mitarbeiterin bei der Aufnahme meiner Reklamation freundlich gewesen sei? Das schon. Ob sie mein Anliegen habe lösen können? Nein, keineswegs. Ob ich mit dem Ablauf des Telefonats zufrieden gewesen sei? Nein, denn trotz aller Zugewandheit und Akribie der Kollegin bei der Aufnahme gab es ja noch kein Wiedersehen mit meiner verschollenen Sendung. Ich vermute, bei kaum einer der so zur Servicequalität befragten Personen wird der Sendungsverlustfrust durch das empathische, aber fruchtlose Bemühen des Servicepersonals nachhaltig kompensiert.

Die Pointe war dann, dass ich in der Folgewoche über das Nachbarschaftsportal nebenan.de eine Mitteilung meiner Etagennachbarin erhielt, dass bei ihr ein Paket für mich seiner Abholung harrte. Sie hatte demnach auch den Empfang quittiert und war irgendwie als ich »im System« gelandet. Ich habe mich schon öfter gefragt, ob die ungelenken Kindergartenkringel, die Paketempfänger mit dem nackten Finger auf einem wackelig hingehaltenen, berührungsresistenten Tabletdisplay als vage Andeutung ihrer üblichen Unterschrift zu hinterlassen imstande sind, tatsächlich zur Dokumentation oder Legitimation taugen. Mir kamen auch schon Liefergeschichten zu Ohren, bei denen die Paketlieferperson ganz offensichtlich selbst unterschrieben hat, damit die tägliche Zustellquote erfüllt schien, tatsächlich wurde das Paket dann erst Tage später an die Empfänger*in übergeben. In jeder Postfiliale und in jedem Paketshop muss man zur Abholung seinen Personalausweis vorlegen – warum nicht auch an der Haustür? Wäre der Prozess zur Identifikation der Person, die eine Sendung annimmt, valide verifiziert und verlässlich dokumentiert, würden solche Verwechslungen, Verluste und Verzögerungen vermutlich deutlich seltener passieren.

4.
In Ausübung meines Jobs besuchte ich kürzlich eine Landing-Page, an deren Fuß ein prominenter knallroter »Call To Action«-Störer mit einem QR-Code und der Aufforderung prangte, diesen zu scannen, um mehr Informationen zu dem beworbenen Produkt zu erhalten. Folgte man dieser Aufforderung, gelangte man exakt auf dieselbe Seite, auf der man sich ohnehin gerade befand. Die berufliche Diskretion gebietet mir, das Unternehmen hier nicht zu nennen.

Das ist er, der Gram mit den Prozessketten. Sie sind teils wunderbar smooth und lückenlos, enden dann aber plötzlich unvermittelt im Nichts, wie ein Fahrradweg in einer deutschen Großstadt. Oder sie enthalten zwar prinzipiell alle notwendigen Schritte, nur leider entweder angereichert durch etliche verzichtbare bis hinderliche Überflüssig- und Umständlichkeiten, oder sie sind in der komplett falschen Reihenfolge sortiert.

Es gibt einen Cartoon von Gary Larson (»The Far Side«), an den ich angesichts solcher Erlebnisse oft denken muss. Darin sitzt ein Cartooncharakter morgens nach dem Aufstehen auf der Bettkante und vor ihm prangt ein großes handgemaltes Schild mit der Aufschrift »Zuerst die Hose, DANN die Schuhe!«.

Der Witz dahinter ist womöglich weit weniger abwegig, als es zunächst scheint.

Digitaler Prozessablauf (Symbolbild)

Ein Kommentar

  1. Ich glaube, dass Prozesse zu großen Teilen von Menschen niedergeschrieben werden, die am Idealbild des Prozesses entlanghangeln. Ob sie die für diesen Job essentiell nötige Empathie, nach rechts und links zu sehen, nicht haben oder nicht haben dürfen – das wäre sich einen zweiten Blick wert.
    Wenn ich für jedes mal einen Euro hätte, wenn eine Kundin mir sagte „Warum sollten Menschen DAS tun, Herr Fischer???“ und selbst auf meine Antwort, dass das egal ist *warum*, weil ich eben Dank meiner Statistik weiß, *dass* sie es tun, dabei blieben, dass niemand die Funktion brauchte – dann hätte ich … naja, ein wirklich gutes Abendessen in einem feinen Restaurant vielleicht. Immerhin

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