Flashback

Wenn ein Solist zusammen mit einem Orchester in einem klassischen Konzert auftritt, gibt es nach dem eigentlichen Werk bei hinreichend stürmischem Applaus gern eine Zugabe des Solisten oder der Solistin. Ich mag diese Zugaben, denn sie sind oft ganz anders als das zuvor dargebotene Stück. Das vom Veranstalter für den Konzerttermin plakatierte Programm soll die Zuschauer in den Konzertsaal locken, man spielt meist klassische Gassenhauer allseits bekannter Komponisten, in großen Lettern prangen Orchester, Dirigenten und Solisten auf den Aushängen, die Karten müssen raus, das Publikum rein. Das ist auch völlig legitim, es muss sich ja schließlich rentieren und gegen die zu Gehör gebrachten populären Kompositionen, so oft sie auch auf dem Programm stehen, kann man eigentlich auch nichts sagen. Evergreens halt: Bach, Beethoven, Mozart, Tschaikowski.

Die Zugaben hingegen sucht der Solist oder die Solistin selber aus. Vielleicht gibt es zu ihnen eine persönliche Verbindung, sie stehen nicht vorab auf Postern und Plakaten. Vielleicht sind es Stücke, die ihm/ihr etwas bedeuten, Lieblingskomponisten oder Werke mit Bezug zur eigenen Lebensgeschichte. Ich habe oft das Gefühl, dass das musikalische Band zwischen Klassik-Publikum und Solist*in während einer Zugabe intimer und persönlicher wird als beim großen Auftritt davor.

Genauso ging es mir auch kürzlich bei einem Konzert Ende April in der Berliner Philharmonie. Auf dem Programm mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Hannu Lintu standen Bach, Lutosławski und als Hauptwerk das bekannte Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 c-Moll op. 18 von Rachmaninow. Schöne Stücke, famos gespielt, gerne gehört. Der begeisterte Applaus holte den Solisten, den usbekischen Pianisten Behzod Abduraimov, mehrfach zurück auf die Bühne und schließlich nahm er erneut auf dem Klavierhocker Platz, um eine Zugabe zu spielen.

Nach den ersten Noten bekam ich Gänsehaut und ich merkte, dass ich diese Gänsehaut, zu genau diesem Stück schon einmal hatte und ich wusste auch sofort, wann und wo. Es ist Jahrzehnte her, und am Klavier saß damals C.

Ich hatte C während meines Grundwehrdienstes bei den Sanitätern als »Bundeswehrkumpel« kennengelernt. Er war ein netter Typ mit einem feinen Sinn für Humor und spielte zwei Instrumente: Fagott und Klavier. In der Kaserne hatte er die natürlich nicht dabei, aber während des Kennenlernens war es öfter ein Thema, dass er Musik liebte und auch selbst spielte. Für ihn war klar: nach dem Wehrdienst wollte er Berufsmusiker werden, am liebsten in einem Orchester.

Während dieser Zeit lud C einige Freunde aus unserer Sani-Gruppe, darunter auch mich, zu seiner Geburtstagsfeier in sein Elternhaus ein. Die Feier war amüsant und gesellig, man redete, lachte, trank Bier und Wein und ich genoss es einmal mehr, nicht nur während solcher Feiern, sondern auch während der damaligen Dienstzeiten, dass ich mit dem »Abijahrgang« zu Beginn des Sommers eingezogen worden war. Die jungen Mitsoldaten in meiner Einheit waren (vielleicht auch deshalb) allesamt sehr nette und umgängliche junge Männer, glücklicherweise ganz anders als die oft etwas grober geschnitzten Rekruten, von deren destruktiven Exzessen bei Partys oder auf Zugreisen man bisweilen öfter Unschönes zu lesen bekommt.

In Cs Zimmer an der Wand stand das erwähnte Klavier – und wenn der Gastgeber einer Feier Musiker ist, fordert die Gästeschaft natürlich unweigerlich irgendwann eine Kostprobe des musikalischen Könnens. So war es auch an diesem Abend und nach etwas gespieltem sich-Zieren ließ sich C breitschlagen und intonierte »La Campanella« von Liszt – dasselbe Stück, das nun der Klaviersolist als Zugabe im Konzertsaal der Philharmonie ausgesucht hatte. Es hat ein wunderschönes changierendes, flirrend-leichtes Thema und ich konnte es nicht fassen, wie jemand, der direkt vor mir am Klavier saß, diesem schweren massiven Instrument allein mit der Geschicklichkeit seiner Hände solche zauberhaften Klänge entlocken konnte. Hier hatte sie ihren Ursprung: die Gänsehaut, die ich gerade wieder verspürt hatte und allen der damals mit mir applaudierenden Partygäste war klar, dass hier gerade ein junger Künstler mit erheblichem Talent gespielt hatte, einer, der eine glänzende Karriere als Orchestermusiker vor sich hatte.

C hat tatsächlich nach dem Ende der Bundeswehrzeit mehrere Versuche unternommen, sich bei Musikhochschulen zu bewerben, um seinen Traum zu verwirklichen. Nach mehreren gescheiterten Aufnahmeprüfungen gab er das Vorhaben dann auf und studierte Nachrichtentechnik. Ich habe ihn nach der Bundeswehrzeit dann irgendwann aus den Augen verloren.

Und an diesen geplatzten Traum musste ich denken, mit meiner Gänsehaut, während der wunderschönen Zugabe von Behzod Abduraimov, neulich in Berlin.