Im Schneckentempo

Schon wieder denke ich über Zeug nach. In letzter Zeit oft über Dinge, die sehr, sehr langsam passieren.

Bei manchem Schaufensterbummel, meist etwas abseits der teuren, gut besuchten Einkaufsstraßen, fallen mir ziemlich oft kleinere Läden auf, bei denen ich mir auf den ersten Blick nicht ganz sicher bin, ob sie geöffnet haben. Manche Eingangstür ist etwas verwittert, der Türgriff korrodiert, die Farbe blättert ab. Folienschriften auf dem Ladenfenster sind verblichen, haben Risse, sind fragmentiert, abgeblättert oder lösen sich einrollend an den Rändern ab. Im Schaufenster hängen staubige, vergilbte Werbedrucke, aus denen sich durch jahrelange UV-Bestrahlung alle Magentatöne verabschiedet haben, auch das Gelb litt sichtbar, was bleibt, sind Cyan und Schwarz. Aber die Läden sind geöffnet, der oder die Besitzer*innen sind gewiss schon etwas älter, womöglich steht der Ruhestand kurz bevor. Trotzdem regt sich bei mir die Frage: wieso hat der Gewerbetreibende es soweit kommen lassen? Die Werbeplakate nicht gelegentlich ausgetauscht, die Fenster geputzt, die Folienbuchstaben erneuert oder die Fassade renoviert?

Wenn ich mit der U-Bahn den Heimweg antrete, steige ich häufig an einer der beiden nächstgelegenen Stationen in Hamburg-Barmbek aus, sie heißt Habichtstraße. Wenn ich vom dortigen Bahnsteig die steinernen Treppenstufen hinuntergehe, fällt mir jedes Mal auf, dass die vordere Kante der Treppen nicht schnurgerade verläuft, sondern zur Mitte hin etwa drei Millimeter nach innen eine »Delle« aufweist. Das ist bei jeder Stufe leicht anders und legt nahe, dass die Stufenkante im Laufe der Zeit (die Station wurde 1930 in Betrieb genommen) durch Abertausende Schritte der Fahrgäste und Treppenbenutzer abgetragen wurde, Mü für Mü, bis diese Delle augenfällig wurde. An anderer Stelle, etwa in Bremen beim Denkmal der »Bremer Stadtmusikanten« oder – wieder ganz bei mir in der Nähe – in der Lendengegend der Aktstatue »Jüngling mit Schale«, an der ich unweigerlich auf dem Weg zum Wocheneinkauf vorbeikomme, fällt auf, dass selbst die Patina und das Bronzematerial durch reines Anfassen, ohne Zutun von Schleifwerkzeugen oder anderen mechanischen Hilfsmitteln, über Jahre und Jahrzehnte abgetragen wird, so dass das glänzende, unoxidierte Metall sichtbar wird. Es gibt etliche solche durch Neugier oder Aberglaube partiell abgenutzten Skulpturen weltweit.

Ich erinnere mich auch noch an die flüchtige Begegnung mit einer Frau, irgendwo in einem Supermarkt. Sie war geschätzt Mitte, Ende fünfzig, hatte blondiertes, sorgsam frisiertes Haar und gehörte zu den Frauen, die es für modisch geboten oder ästhetisch vorzuziehen halten, sich die eigenen, natürlichen Augenbrauen auszuzupfen und mit einem schwarzen Kajalstift neu aufzumalen. Ich bewerte das nicht, es möge sich jede(r) so herrichten, wie es nach eigenem Gutdünken beliebt. Was mir jedoch auffiel, war, dass die gemalten Brauen der Dame sich an einem anatomisch recht abwegigen Ort befanden: sie waren von der herkömmlichen Position gut vier Zentimeter nach oben abgerückt und prangten nun knapp unter dem Haaransatz der Trägerin. Ich grübelte. Hatte sie das von Anfang an so gemacht und einst schon nach dem ersten Auszupfvorgang beschlossen, ihr kosmetisches Werk so weit oben zu platzieren? Oder waren die gemalten Brauen über die Jahre oder Jahrzehnte Millimeter für Millimeter weiter nach oben gerutscht, bis die anatomische Barriere des Haaransatzes einer weiteren Verschiebung Einhalt gebot? Ich glaube, sehr viele insbesondere schon ältere Menschen mit bizarren Frisuren oder wunderlichem Make-up haben diesen Stil selten plötzlich und aus dem Stegreif kreiert, für viel wahrscheinlicher halte ich eine ganz allmähliche Metamorphose, die sich von ihnen selbst unbemerkt vollzog, in hohem Alter vielleicht auch bedingt durch einen Sehkraftverlust, Einschränkungen der Wahrnehmung oder nachlassende motorische Fähigkeiten.

Ich selbst hatte auch mal an mir das Phänomen der unmerklich wandernden Selbstverzierung beobachten können. In den späten Neunziger Jahren fand ich es eine Zeitlang schick, mir einen fein gestutzten »Goatee«-Kinnbart stehen zu lassen, Haare und Bart waren passend zueinander leicht kastanienfarben getönt und jeden Morgen wurde vor dem großen und gut ausgeleuchteten Badezimmerspiegel der schmale Oberlippenteil des Bartes, seine dünnen herabführenden Ausläufer und der Kinnbereich mit einem Klingenrasierer präzise in Form gehalten. Dachte ich. Damals™ machte man noch deutlich seltener »Selfies« als heute, aber eines Tages wurde ich mit einem Fotoabzug konfrontiert, auf dem mich jemand fotografiert hatte. Ich erschrak und dachte »Ups, mein Bart ist ja total schief!«. In der Tat hatte ich zwar die Form des Bartes konstant gehalten, aber offensichtlich war er mir unmerklich im Laufe der Wochen (Monate?) ca. 8 mm aus der Gesichtsmitte gerutscht. Im Spiegel fiel mir das nicht auf, der gewohnte (spiegeverkehrte) Anblick schien jeden Tag derselbe, aber das ungewohnt seitenrichtige Foto führte mir die Abweichung unwiderlegbar vor Augen. Ich glaube, kurz darauf änderte ich meinen Bartstil zu einer Variante, die weniger präzise Stylingmaßnahmen erforderte.

An manchen Tagen, meistens im anbrechenden Frühjahr, scheint die Sonne durch die Fenster in meine Wohnung, in der ich als sehr ortsfester Mieter mittlerweile seit über 20 Jahren wohne, und entlarvt unbarmherzig die Oberflächen und Stellen, die in den düsteren Herbst- und Wintermonaten ganz offensichtlich beim Putzen vorübergehend vernachlässigt wurden. Da muss ich dann ran und zu geeigneter Zeit mal wieder etwas gründlicher in den Ecken, auf Simsen und Leisten, zwischen Heizkörperrippen und auf senkrechten Kachel- und Schrankflächen wischen und putzen. Kein Problem, das lässt sich vergleichsweise unaufwendig, wenn auch mittels lästiger Arbeit, korrigieren. Aber die Sonne bescheint noch andere Details und lässt mich stutzen, dass ich diese nicht schon früher bemerkt habe. Da findet sich »plötzlich« eine dünne Leiste Rost an der Unterkante des blaulackierten Badezimmerspindes. Die Griffe am Geschirrschrank in der Küche sind »auf einmal« stark abgenutzt, der Lack abgeblättert. Die Messingtürklinken haben matte, dunkel angelaufene Stellen. Die Wohnung »verwittert«, jeden Tag ein winziges Bisschen, ohne dass ich es auf Anhieb mitbekomme. Jemandem, der nur alle vier Jahre bei mir zu Besuch käme, würden diese Veränderungen bis hin zum Renovierungs-oder Erneuerungsbedarf, definitiv viel deutlicher auffallen.

Wenn sich etwas Plötzliches ereignet, das unbeabsichtigt zu Entstellung, Wandel, Zerstörung oder Veränderung führt, sei es ein Wohnungsbrand, ein Wasserschaden, ein Verkehrsunfall, eine Verletzung, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen oder Erdbeben, tritt der neue Zustand in so kurzer Zeit ein, dass der Unterschied zu vorher unübersehbar ist. Das nennt man dann »Umbruch«, »Unglück«, »Katastrophe« oder »Desaster«. Ich glaube aber mittlerweile, dass die stillen, unmerklichen, sich in mikroskopischem Tempo außerhalb unserer bewussten Zeitwahrnehmung vollziehenden Veränderungen uns und die Welt mit viel brachialer Wucht verändern, als den meisten Menschen bewusst ist. In maximal langen Zeiträumen können sich Milliarden Tonnen Gestein zu kilometerhohen Gebirgen emporfalten, ganze Kontinente verschieben. Säße man auf einem ewig haltbaren Stuhl daneben, unsterblich und mit hinreichend haltbarem Proviant, würde es hingegen sehr schnell langweilig werden. Es passiert ja nichts.

Ein gutes Beispiel ist auch der Klimawandel. In der schönen, oberflächlich sauberen Wohnung unserer Zivilisation vollzieht sich eine Veränderung, die bislang viel zu langsam offenbar wurde, als wir es bemerken konnten. Aber nun scheint die Sonne ins Zimmer und beleuchtet die Risse und Verwerfungen, die ein baldiges Handeln erfordern, wenn die Behausung nicht unbewohnbar werden soll. Innerhalb der letzten rund 260 Jahre stieg die CO₂-Konzentration um ca. 130 ppm von ungefähr ~280 ppm im Jahr 1750 auf ~410 ppm im Jahr 2010 (Werte und Jahreszahlen habe ich bewusst ausgewählt für einfacheres Rechnen). Somit kam im Schnitt alle zwei Jahre ein ppm hinzu. Ein ⁠ppm⁠ entspricht einem Molekül Kohlendioxid pro einer Million Moleküle trockener Luft. Es dauerte also ganze zwei Jahre, bis innerhalb dieser Maßeinheit aus 280 CO₂-Teilchen 281 wurden. Lächerlich langsam, lächerlich wenig. Genauso wie der Meeresspiegelanstieg, der im Zeitraum zwischen 1901 bis 2010 popelige 1,7 bis 3,7 mm pro Jahr betrug. Jede Pfütze nach einem Regenschauer ist tiefer, wie sollten davon Städte und Inseln überflutet werden? Noch lachen sie.

Oder das stetig gestiegene Aufkommen an Automobilen. Wie kämen jemandem, der etwa aus dem Jahr 1930 mit dem damals nur sehr überschaubarem Autoverkehr hierher »gebeamt« werden würde, unsere heutigen Städte und Straßen vor? Ich vermute, er oder sie wäre zu Recht entsetzt, dass überall derartige Massen an Fahrzeugen fahren und vor allem herumstehen, für uns hingegen ist das ganz allmählich über Jahre und Jahrzehnte leider zu einem alltäglichen Bild geworden (siehe dazu auch dieser wunderbare Sketch aus der Satiresendung »extra 3«).

Ich glaube, das Langsame, Allmähliche ist es, das die Welt wirklich prägt und verändert. Sedimente, Patina, Erosion, Oxidation, Verwitterung, Diffusion, Plattentektonik. Überall um uns herum wallt, wandelt, altert, haucht, schabt, driftet und knistert es unmerklich. Menschen, die lautstark fordern, es solle doch bitte alles so bleiben, wie es früher immer war, setzte ich gerne eine VR-Brille auf, die ihnen die Welt milliardenfach beschleunigt vorführt. Danach könnten wir uns gerne weiter unterhalten.