Standardomas

Als ich Kind war, sahen gefühlt fast alle Omas gleich aus. Sie hatten zwar oftmals noch unterschiedliche Haarfarben und Frisuren, aber ansonsten waren sie einander äußerlich erstaunlich ähnlich. Ich sah sie während meiner Ferienaufenthalte in den kleinen Harzer Wohnorten meiner eigenen Omas – in dem kleinen Dorfsupermarkt, im Zeitschriftenladen, auf den Friedhöfen oder auf gelegentlichen Kaffeekränzchen, bei denen ich anwesend war. Manche Omas hatten kürzere, wellig-ondulierte Omafrisuren, manche hatten einen Dutt, einige hatten noch braunes oder dunkelblondes Haar, andere waren bereits ergraut oder auch schon schlohweiß. Die Omas von früher waren ziemlich klein, vielleicht, damit sie in die kleinen Häuser passten, in denen sie wohnten. Die Häuser hatten niedrige Decken und verwinkelte Zimmer und in mancher Stube bollerte noch ein Brikettofen. Zu Hause trugen die Omas meist bunte Kittelschürzen aus knisterndem Kunststoffgewebe und mit großen Knöpfen. Wenn eine Oma von damals das Haus verließ – und dazu gehörte schon, nur kurz vor die Tür zu gehen und die Zeitung reinzuholen oder ein Staubtuch auszuklopfen – musste sie auf jeden Fall »zurechtgemacht« sein. Die Haare mussten einigermaßen liegen und die Kleidung ordentlich sein, ein schnelles aus-dem-Haus-Huschen im Morgenmantel oder gar ungekämmt, das war undenkbar, das konnte man nicht machen, was sollten die Nachbarn sonst denken, wenn man sich derart gehen ließe. Bei etwas ausgedehnteren Aufenthalten außer Haus – etwa beim Friedhofsbesuch, anlässlich eines Einkaufs in der nächstgelegenen Stadt, zum Kaffeetrinken in der Konditorei oder für einen Verwandtenbesuch – war die nächste Stufe der Selbstherrichtung geboten. Die Frisur musste einwandfrei gekämmt, toupiert und eingesprüht sein, eine Bluse und ein adretter Rock waren vonnöten und manchmal auch etwas Schmuck, dezente Ohrstecker vielleicht, oder eine schlanke Damenuhr. Für festliche Anlässe wurde dann noch mal nachgelegt, nun war der vorherige Gang zum Friseur mit Erneuerung der Dauerwelle unabdingbar, die mehrreihige Perlenkette oder der Bernsteinschmuck wurden der Preziosenschatulle entnommen, eine Brosche an Bluse oder Revers gesteckt, in ein edles Kostüm aus Rock und farblich passender Jacke geschlüpft und ein besonderes Parfum aufgetragen. So machten es nahezu alle Omas und daran ist ja auch nichts auszusetzen, denn schließlich ist die Gepflogenheit der stufenweise gesteigerten Aufbrezelung auch heute noch gang und gäbe. Das Besondere daran war nur, dass Optik und Zusammenstellung der Omakluft bei fast allen Damen ähnlichen Alters hinterher so bemerkenswert gleichartig ausfielen. Eine Abart dieses Stils, wenngleich deutlich farbgewagter, pflegte auch die inzwischen verstorbene Queen. Eine schlichtere, ebenfalls britische Variante dieses Omastereotyps repräsentiert Margaret Rutherford als Miss Marple in den populären Agatha-Christie-Verfilmungen der frühen 1960er Jahre. Auch in deutschen Filmen dieser Zeit und bis in die 1970er hinein gab es Vertreterinnen solcher Omas, in meinem Kopf lagern noch dunkel die Namen der Schauspielerinnen Agnes Windeck oder Lina Carstens, die ich als Besetzungen für solche Rollen erinnere. 1988 und 1991 tauchten ähnliche Omafiguren in den Loriot-Kinofilmen »Ödipussi« und »Pappa ante Portas« in einigen Haupt- und Nebenrollen auf, allen voran Edda Seippel als Gerda Tietze, Katharina Brauren als herrische Mutter des Protagonisten Paul Winkelmann und Rose Renée Roth als Tante Mechthild.

Beliebte Standardtöne beim Omaoutfit waren zumeist gedeckte Farben wie beige, braun, violett, grau, oliv, schwarz oder bordeaux. Sehr häufig fielen mir hohe Glockenhüte oder feine Filzhüte auf, mit spitzem Federschmuck oder textilen Blumenrosetten. Aber auch gemusterte, unter dem Kinn verknotete Kopftücher waren bisweilen zu sehen. Unter dem gern getragenen braunmelierten Kamelhaarmantel lugte oft ein gedeckt getönter Faltenrock hervor, auch flache braune Halbschuhe mit Kreppsohlen und einer umlaufenden wulstig abgesteppten Einfassung um die Oberseite der Schuhkappe gehörten vielfach zur Ausstattung der uniformen Seniorin, ebenso eine große kantige Handtasche mit kräftigem Henkel und metallener Knipsverschlussleiste. Es wirkte, als mussten Omas so oder sehr ähnlich aussehen, als gäbe es eine offizielle behördliche Omaverordnung, in der die Komponenten, ihre Varianten und maximal erlaubte Abweichungen festgeschrieben waren und die zu missachten es sich schlicht nicht schickte. Womöglich wurden bei Verstößen gar Ordnungsgelder verhängt. Wenn Omas neue Kleidung brauchten, gingen sie in spezielle Läden, die sie »Schwickert«, »Erdmann« oder »Brenninkmeyer« nannten. Dort gab es Omakleidung und -accessoires in reichhaltiger Auswahl, augenscheinlich gefertigt von Omaschneidern in Omamodefabriken, von der festlichen pastellfarbenen Bluse mit elegantem Volant bis zum großblumig gemusterten Sommerkleid. Aber alles im Rahmen der erlaubten Toleranzen, denn gewiss beobachteten die Nachbarn auch solche Details.

Auch bei ihrer häuslichen Rollenzuweisung waren Omas an aus heutiger Sicht restriktive Konventionen gebunden. Ich erinnere mich tatsächlich noch an einige Sätze Ende der 1990er Jahre, das ich trotz eingehaltenem Diskretionsabstand in der Tresenwarteschlange einer Hamburger Sparkasse zum Teil mitbekam. Direkt vor mir wurde gerade eine alte Dame, eine sehr hamburgische, vornehm wirkende Oma, bedient. Mit leiser Stimme berichtete sie dem Bankmitarbeiter, ihr Mann sei verstorben und nun habe sie Post bekommen, die es erforderte, dass sie eine »Überweisung« tätigen müsste, sie hätte so etwas noch nie zuvor gemacht, wüsste überhaupt nicht, wie das geht und ob ihr der Bankkaufmann dabei wohl behilflich sein könnte, was er selbstverständlich tat.

Was mich daran beschäftigt, ist der gefühlte Widerspruch zwischen dieser Hilflosigkeit einerseits und der Resolutheit und Durchsetzungskraft andererseits, den ich bei vielen der im bisherigen Text als Omas bezeichneten Frauen, auch aus meinem eigenen Umfeld, beobachten konnte. In meiner Kindheit nahm ich Omas schon als solche wahr, wenn sie etwa 60 waren. Heute würde ich dazu erst jene zählen, die 85 oder älter sind. Die Spanne der Geburtsjahrgänge ist somit recht breit, sie endet aber etwa um 1940. Viele dieser Frauen nahm ich als ausgesprochen starke Frauen wahr. Sie mussten während des Krieges und in den Jahren danach, sofern sie schon verheiratet und Mütter waren, oft ohne ihre Männer Kinder großziehen, vielleicht ältere Familienmitglieder versorgen, erlebten Flucht, Vertreibung, die Vernichtung oder den Verlust ihres Heims, mussten harte Arbeit im Haushalt oder andernorts leisten, sich unter schwersten Bedingungen um Nahrung, materielles Auskommen und medizinische Versorgung kümmern, ihre Gefühle und Bedürfnisse den unglaublichen Zwängen dieser von Krieg, Mangel und Zerstörung geprägten Zeit unterordnen. Sie mussten sich durchsetzen, sich gegenüber Männern behaupten und viele Arbeiten und Pflichten übernehmen, für die zuvor Männer »zuständig« waren. Das Wort »gleichberechtigt« fühlt sich dafür irgendwie falsch an, weil es nicht aus freiem Willen geschah, vielleicht wäre »gleichbelastet« passender. Trotz dieser Stärken und Fähigkeiten jedoch, die auch nach dem Krieg bei den Frauen innerhalb der Familie eigentlich hätten weiterbestehen und genutzt werden können, beobachtete ich bei Ehepaaren dieser Generation dann in den Nachkriegsjahren eine sonderbar strikte Aufgabenteilung, so auch in den Haushalten meiner eigenen Omas, in der Familie einer Tante dieser Generation oder auch bei den inzwischen verstorbenen Eltern meines Mannes. Viele Frauen schienen die Selbstständigkeit, die sie sich während der Kriegsjahre aneignen mussten, wieder abgelegt zu haben. Fortan ging der Mann arbeiten, kümmerte sich um Geldangelegenheiten, Behördengänge oder Versicherungsdinge, erledigte handwerkliche Arbeiten in Haus und Garten, stutzte Hecken und Bäume, mähte den Rasen, grub die Beete um und pflegte und wartete das Auto. Die Frau hingegen kochte, putzte, erledigte die Wäsche, kümmerte sich um die Kinder, im Garten war sie für Blumen und Gemüse zuständig, sie plante die Einkäufe (bei denen der Mann dann wieder als Fahrer und Träger involviert wurde) und kümmerte sich generell darum, Haus und Heim »wohnlich« zu halten. Diese Aufgabenteilung war so konsequent, dass sich beide komplett aus Zuständigkeiten des jeweils anderen heraushielten. War nun eine(r) der beiden vorübergehend oder dauerhaft abwesend oder nicht handlungsfähig, etwa durch Kur- oder Krankenhausaufenthalt, Reisen, Pflegebedürftigkeit oder Tod, brach dem/der anderen plötzlich ein Kompetenzbereich, der für die Alltagsbewältigung notwendig war, komplett weg. Der Ehemann war ohne die Frau unfähig, sich eine Mahlzeit zuzubereiten, und sei es, tiefgekühlte Brötchen aufzutoasten oder sich einen Topf Nudeln zu kochen. Er wusste nicht, wo das Klopapier gelagert wurde oder die Kaffeefiltertüten, hatte keine Ahnung, wie die Waschmaschine bedient wurde und konnte sich kein Hemd bügeln. Die Ehefrau hingegen war ohne ihren Mann komplett hilflos bei Finanz- und Versicherungsthemen, wusste nichts über laufende Daueraufträge, Leasing- und Ratenzahlungen, hätte nicht den zuständigen Gas- oder Heizöllieferanten benennen können, hatte keine Ahnung, ob und wann das Auto wieder zum TÜV musste oder wusste nicht, wo wichtige Unterlagen abheftet waren. Es machte auf mich oft den Eindruck, als sei diese Aufteilung der Zuständigkeiten nicht vom Mann oder der Frau explizit »angeordnet« worden oder als hätten sich beide Eheleute in einem ausführlichen Gespräch abgestimmt und darauf geeinigt. Es wirkt eher so, als sei diese Zuteilung in einer Art stiller Selbstorganisation entstanden – geformt durch eine Mischung aus extern vermittelten Rollenbildern und eigenen Neigungen, Abneigungen, Fähigkeiten, Unfähigkeiten, Talenten, Defiziten, Ansprüchen und Erwartungen. Und in diese Ordnung haben sich dann beide gefügt. Der Mann hätte ja theoretisch zumindest Interesse daran zeigen können, was die Frau kann, tut und weiß (und sei es ohne die Absicht, die Erkenntnisse daraus sofort praktisch anzuwenden) und umgekehrt. Oder beide hätten die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten einander nach und nach proaktiv vermitteln können, gerade weil vielleicht mit fortschreitendem Alter nicht mehr jede(r) die übernommenen Aufgaben erledigen kann. Aber das geschah einfach nicht, beide verharrten in diesem Zustand der gegenseitigen Abhängigkeit bzw. weitreichenden Unfähigkeit. Ich finde die Häufung dieser Konstellation und der Fügung darin bemerkenswert. Ähnlich dem typischen Erscheinungsbild der Standardomas scheint es bei unzähligen Ehepaaren dieser Generation eine Standard-Zuständigkeitszuweisung gegeben zu haben. Das machte man wohl eben so.

Heutzutage sieht man Standardomas nur noch selten, sie sterben allmählich aus. Und wie die gängigste Aufgabenteilung in gemeinschaftlichen Haushalten gegenwärtig aussieht, kann ich nur raten. Zeitgemäß wäre, wenn sie klar abgesprochen, fair verteilt, in gegenseitigem Einvernehmen und nach Möglichkeit im Rahmen der individuellen Vorlieben oder Eignungen geschieht. Ich zum Beispiel bin in unserer Beziehung für Handwerkliches zuständig, der Mann ist darin weder begabt noch dem zugeneigt. Kochen tun wir beide, weil wir es können und lieben, aber nur ich backe Brot, der Mann eher Süßgebäck. Er plant gerne Unternehmungen und Reisen, ich übernehme immer gerne das Steuer, sofern ein Auto als Verkehrsmittel dient. Putzen, waschen und aufräumen müssen wir beide, da jeder für (s)eine Wohnung zuständig ist. Bügeln verschmähen wir gleichermaßen, also lassen wir es ganz oder »outsourcen« den seltenen Bedarf. Finanz- und Behördenkram wird organisch von Fall zu Fall separat oder auch gemeinsam erledigt.

Ich finde, die Zuständigkeiten für und Kenntnisse über die notwendigen Alltagstätigkeiten einer Lebensgemeinschaft sollten so organisiert sein, dass jede(r) zwar den Alltag bei Bedarf auch komplett alleine bewältigen könnte, man aber die einvernehmlich gewählte Aufteilung beibehält, weil es sich genau so, wie es abläuft, für alle richtig anfühlt.

Das wäre doch ein guter Standard.

Mit Hilfe von Midjourney und Photoshop gelang es mir, diese ziemlich repräsentative Standardoma darzustellen.

2 Kommentare

  1. Danke für den schönen und treffenden Text. Das deckt sich zum größten Teil mit meinen Erfahrungen, nur hatten die Omas auf dem Dorf eher selten einen Hut.

  2. Wie sich das Bild der Omas verändert hat, ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Gesellschaft verändert/entwickelt hat. Es ist vieles freier und weniger konform geworden, so eben auch die Tätigkeiten und Kleidungsstile von Frauen ü60. Selbst meine Schwiegermutter, 98, kleidet sich schicker als die durchschnittliche alte Frau vor 40 Jahren. Allerdings auch nur, wenn sie rausgeht, was nur noch selten vorkommt. Das Verhalten scheint tief verankert zu sein in der Generation.

    Gleichbelastet ist wirklich ein oft viel treffenderes Wort als gleichberechtigt.

    Hier gibt es eine klare Aufgabenverteilung und viele Sachen, die sich über die Jahre ergeben haben. Mein Mann fährt zum Beispiel meistens, weil er das bequemer Auto hat. Wollen wir irgendwo hin, wo es eng mit Parkplätze ist, nehmen wir mein kleines Auto, dass dann ich fahre. Wo ich merke, dass es wichtig ist, dass beide im Thema sind, sind digitale Sachen. Wenn man das wenig macht, bleibt der Umgang damit sperrig. Das also auch mal bewusst den anderen machen zu lassen, finde ich wichtig.

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