Alles im Fluss

Am 14. November war die Releaseparty im Wiesbadener RUEXIV (leider ohne mich) und vor etwa einer Woche trafen meine bestellten vier Exemplare per Post ein – es ist da: das neue Stijlroyal Magazin. Dies bietet nicht nur wegen der exorbitanten Größe von DIN A3, der glamourösen Goldprägung auf dem Titel, den famosen Fotos und dem bahnbrechenden Industriefleischsalattest allen Grund zum Jauchzen, sondern auch, weil neben vielen anderen fulminanten Twitterern auch mir die Ehre zuteil wurde, einen Text dafür verfassen zu dürfen. Zum ersten Mal ein selbstverfasster Prosatext in einer gedruckten Publikation. Für mich ein ganz besonderer Moment.

Als im Sommer die Anfrage von Huck Haas aka @stijlroyal kam, wusste ich sofort: mein Beitrag würde eine Kurzgeschichte sein. Und den Anfang hatte ich auch schon: einen Tweet, der am 24. Juli 2010 meinem Hirn entperlte und mir sofort als ein perfekter Geschichtenanfang erschien.

Im kurz darauf folgenden Sommerurlaub begann ich zu schreiben. Ich war schon ziemlich weit, als ich das Mail von Huck mit den Wunschkriterien für die Texte noch einmal las. »Schreibt Maximal 5.000 Zeichen« stand da. Mist. Ich hatte schon 9.831 geschrieben und noch mindestens 3.000 spukten in meinem Kopf herum. Also beschloss ich kurzerhand, für das Magazin eine Kurzversion zu erstellen, in der der Mittelteil einfach fehlt – im nachfolgenden Text markiert durch die Auslassung (…) – und in weiteren Urlauben oder Mußestunden am langen »Director’s Cut« weiterzuschreiben. Somit erzählt die jetzt abgedruckte Textfassung – es geht um einen Traum – noch nicht alles, was der namenlose Protagonist darin erlebt. Vielleicht reizt Euch ja mein Beitrag, den ich heute hier zweitveröffentlichen möchte, das Stijlroyal-Magazin zu kaufen. Dann tut es. Es ist jeden Euro wert.
Kommentare, die mich zum Weiterschreiben ermuntern – oder davon abhalten wollen, können natürlich gerne unten eingetragen werden.

Sein Traum vom Fluss

Er erinnerte sich noch gut an den Traum, nach dessen Schilderung sein Therapeut kurz darauf die Praxis schloss und aus der Stadt verschwand. Es war einer von diesen Träumen, durchdringend real, die mehrere Nächte zu dauern schienen und aus denen sich das Bewusstsein beim Erwachen schwerfällig, wie durch eine meterdicke Schicht aus feuchtwarmem Humus, erst wieder einen Weg zurück in die Realität graben musste.

Licht.
Jetzt.
Ein Zimmer. Seins.
Zahlen. Eine Uhrzeit.
Welcher Tag?
Liegen und atmen.
Ein und aus.
Ein Fluss.
Sein Traum handelte von einem Fluss.

Zu Beginn stand er an einer Art Hafenkai, auf ein kühles eisernes Geländer gestützt und sah hinaus auf das Wasser. Es musste früh am Morgen sein, der kupferfarbene Dunst ließ keinen Blick auf das gegenüberliegende Flussufer zu. Hier, wo der Fluss am breitesten war, trug er auch am meisten Unrat mit sich. Die Luft roch salzig in seinem Traum, nach Diesel und Brackwasser. Irgendwo in Richtung der rostig verschleierten Stille, jenseits des dumpfen Rhythmus’ dieser übervölkert menschenleeren Stadt, die er nicht kannte, musste das Meer sein, das sich dem schlammigen Andrang des Flusses erst entgegenstemmte, mit trotzigen Strudeln dagegen ankämpfte und dann doch nachgab und ihn in sich aufnahm.
Er blickte hinunter auf den müden, trübbraunen Strom. Auf der Oberfläche trieben Holzstücke und Blätter. Müll und Verpackungsreste dümpelten träge vorbei: eine alte Plastiktasche, aufgebläht wie eine tote Qualle, der Werbeaufdruck PRIMA war kaum noch zu lesen. Eine Milchtüte – FAMOS. HAPPY – der Folienbeutel einer Fruchtgummimischung. Eine aufgerissene Kondompackung – PLEASURE. Das aufgeweichte Etikett einer Colaflasche – FUN. Ein lautlos klagender Jubelchor. Die öligen Schlieren dazwischen im Wasser formten verzerrte Gesichter, bewegten in munchesker Zeitlupe die Lippen dazu. Er schloss die Augen.
(…)

Er öffnete sie wieder, viel später, im Wald. Die Sonne streute gelbgrünes Konfetti durch das Dach aus Blättern über ihm und dem Fluss. Von hier aus sah er die Quelle, hoch oben, in einer senkrechten Spalte der Felswand. Das klare, kalte Wasser fiel in Kaskaden nach unten und sammelte sich in einem kleinen, von Moos gesäumten Becken, von wo aus es in einem flachen Bett seine Reise antrat. Es war seltsam: obwohl er dem Lauf von der Stadt am Meer bis hierhin gefolgt war, wusste er, dass der Fluss zurück einen anderen Weg nehmen würde. Er würde ein kräftiger, lebendiger Strom werden und bleiben, fernab von Straßen und Häusern, Menschen und Städten. Das Wasser fühlte sich frisch an, aber nicht kalt. Er trat in das Bachbett und legte sich in das seichte, perlende Wasser. Sein Kopf lag auf den Kieseln, das Lied der Strömung in seinen Ohren klang hell, vertraut und uralt. Winzige Gischttröpfchen tanzten in der Luft, die er einsog. Er spürte, wie der Bach ihn umspülte, erst lösten sich winzige Fasern aus seiner Kleidung, schließlich Haare und Hautschüppchen. Der Fluss nahm ihn mit, ganz sanft, es tat nicht weh.

Bald würde er wieder am Meer sein.

Fluss_Szene
Foto und Montage: © formschub