Kategorie: Haar in der Suppe

Alles, was schlechte Laune macht

An ocean of emotion. Live.

Weil ich heute nach der Tagesschau aus Unkenntnis über den weiteren Programmverlauf nicht schnell genug aus dem Ersten wegzappte, landete ich ahnungslos in der großen Anti-Leukämie-Charity-Show »José Carreras Gala 2006«. Vorab sei gesagt: Wohlwollen und Zuspruch, und je nach Finanz- und Sachlage auch gern eine Spende, bin ich jeder seriösen Initiative zur Minderung von Elend, Krankheit und Not bereit, entgegenzubringen. Doch die klebrig-süße Kitschtsunami, die bereits mit den ersten Takten des begleitenden Bühnenzaubers mein Wohnzimmer flutete, ertränkte augenblicklich jegliche altruistische Regung.

Im Zentrum des wohltätigen Entertainmentstrudels: gnadenlos off-synchrones Vollplayback angesagter bis betagter Showgrößen. Begleitende Havarie auf der Nebenbühne: Gruppenausdruckstanz in Paillettencatsuits. Untermalt waren die musikalischen Episoden des Spektakels wechselnd mit kalkuliert aufwallendem Orchestergetöse oder uninspirierten Benefizpopmelodien, die dem Wort »Mit-Leid« für mich als Zuschauer einen ganz neuen Sinngehalt gaben. Ach ja, Liedtexte gab es auch noch. Assoziationen herzchenverzierter Poesiealbumseiten mit Glitzer-Lackbildchen zogen angesichts der geballten Aufmunterungs- und Betroffenheitslyrik an meinem geistigen Auge vorbei.

Sorry, Leute, aber ihr müsst jetzt ganz doll tapfer sein: für mich ist das Plastikrührung, synthetischer Gefühlskleister, primetimetauglich grellbunt garniert und weit abseits von Authentizität und echter Anteilnahme. Immerhin – wenigstens die eingespielten Filmbeiträge brachten es hinreichend ungesüßt fertig, zu vermitteln, wie grausam Leukämie für jeden einzelnen Betroffenen ist.
Aber Fernsehen manchmal auch.

Fernsehen in Nahkose

Wie rasant sich die Technik beim Fernsehen weiterentwickelt hat, wird am ehesten sichtbar, wenn Jahre oder Jahrzehnte alte Werbespot-Klassiker, Tagesschauschnipsel mit Karl-Heinz Köpcke, Triumphmomente vergangener Sportmeisterschaften oder geschichtsträchtige (Talk)showhäppchen in Wiederholung über den Bildschirm flimmern. Körnige, verwaschene Szenen und muffiger Ton malträtieren Auge und Ohr und machen bewußt, dass dies einmal der ganz gewöhnliche Medienalltag war. Gottseidank ist das inzwischen – mit hochauflösenden Kameras, digitaler Sendetechnik und erschwinglichen High-Tech-Fernsehern – anders. Klarer. Schärfer. Bunter. Man ist einfach »näher dran«. Manchmal aber auch ein Ideechen zu nah.

Speziell bei Interviewszenen mit Sportlern, Promis und Politikern packt mich in letzter Zeit der Reflex, mich weiter weg zu setzen, wenn es denn ginge, weil mir die gesendete Nähe regelrecht auf den Pelz rückt. »Dichter!« befiehlt die Regie bei Sabine C., Günther J. und Co. – und die Kamera gehorcht und umspielt gnadenlos jedes Detail im Gesicht der geladenen Gäste. Ein bei der Rasur vergessenes Barthaar des Fraktionsvorsitzenden – glasklar. Ein winziger Speiserest zwischen den Zähnen des Unternehmensvorstands – gestochen scharf. Die zart verschmierte Wimperntusche am Lid der Presseprecherin – erbarmungslos sichtbar. Speichelfäden beim Sprechen, rinnende Schweißtropfen, Hautrötungen, Schuppen, Falten, Pickel, Poren, Nasenhaare. Alles wird bildschirmfüllend gesendet. Kontrast 10.000:1, High Definition, Millionen von Farben. Zwischenzeitlich verrät nur die Stimme, wer gerade spricht; erst, wenn sich der Bildausschnitt weitet, werden dermatologische Strukturen wieder zu bekannten Gesichtern. Hinter den fesselnden mikroskopischen Details tritt schon mal der Inhalt der Rede zurück, was aber – je nach Redner – den Informationsgehalt der Szene nicht zwangsläufig mindert. Aus Fernsehen wird Nahsehen.

Ich selbst habe noch keinen 40-Zoll LCD- oder Plasma-TV. Aber, liebe Fernsehhersteller, eine Idee: Wie wär’s mit einem schicken Retro-Feature namens »Makro-Mercy« oder »Zoom-Escape«, das auf Knopfdruck die Bildqualität sofort um 30 Jahre zurückschaltet? Denn die Gnade der niedrigen Auflösung kann manchmal ein echter Fortschritt sein.

Fernsehmakro

Bäckerlatein

Mittagspause im Büro. Jetzt ein kleiner Snack! Schön, wenn das lokale Umfeld der Arbeitsstätte geschmackliche Abwechslung auf dem Speiseplan zulässt. Aus Praxen, Kanzleien und Agenturen strömt das Officevolk, um sich mit Salaten, Süppchen, Wraps, Burgern und ähnlichen Imbissen für das weitere Tagewerk zu stärken. So auch ich. In der Auslage einer Bäckerkettenfiliale lockt appetitlich belegtes Backwerk. Warum nicht? denke ich und reihe mich ein in die vor dem Tresen wartenden Kunden. Als ich auf den Vitrinenschildern die Namen der angebotenen Snacks lese, bekomme ich Hitzewallungen.

Ich erinnere mich an auffällige kleine Schwarzweißanzeigen, die mir früher in preiswerteren Fernsehzeitungen wie z.B. Funk Uhr oder TV Hören und Sehen aufgefallen waren. Sie bewarben Mittel gegen Potenzprobleme, Durchfall, Inkontinenz und andere heikle Indispositionen. Mit einem besonderen Service für den bedürftigen Leser: einem kleinen Couponabschnitt, auf dem der Name des Therapeutikums stand. Das erspart in der Apotheke peinliche Wortwechsel und ermöglicht einen diskreten und zügigen Kauf. Ich bin dankbar, dass ich solcher Coupons niemals bedurfte, doch jetzt wäre mir eine ähnliche Einkaufshilfe willkommen. Scharfer Segler. Bäckwich Hawaii. Wikinger Pute. Die Schlange wird kürzer. Gleich bin ich an der Reihe. Gibt es denn nichts ohne albernen Namen? Auch unbelegtes Gebäck und Kuchen bieten keinen Ausweg: Zimt-Wuppi. Goldkrüstchen. Rübli. Röggli. Kornbatzen. »Ich hätte gern einen Apfeltraum?« Niemals. Bestimmt sind an den Regalen versteckte Mikrofone und Kameras. Die lachen sich tot da hinten. Jetzt bin ich dran. Ich deute mit dem Finger in die Vitrine. Ich will das nicht sagen – dann lieber als Analphabet oder Brillenvergesser dastehen: »So eins, bitte.« Klappt. Einpacken, zahlen und raus. Bäck to reality.

Ich glaube, ich geh jetzt zur Entspannung noch was Ehrliches kaufen. Irgendwas, was einfach nach sich selbst benannt ist. Holzschrauben oder Briefumschläge oder so.