Fotoblogstöckchen (II)

Auf der Suche nach weiteren Gegenständen, mit denen ich hier etappenweise das wundervolle Erinnerungsstöckchen von creezy auffangen möchte, stieß ich in einem Schmuckkästchen auf ein weiteres Souvenir meiner Kindheit. Für mich überraschend: nicht wenige der Erinnerungsstücke, die ich auf dieser Suche entdecke, haben etwas mit Tieren zu tun. Und das, obwohl ich nur sporadisch selbst welche besaß. Eines davon – mein erstes eigenes Tier – war Karlinchen.

Karlinchen war eine Schildkröte und ich war sechs Jahre alt. Mein Vater hatte sich etwa ein Jahr zuvor entschlossen, für zwei Jahre einen Job im nordafrikanischen Algerien anzutreten und die gesamte Familie mitzunehmen. Und so kam es, dass von 1973 bis 1975 ein kleiner Bungalow in einer kleinen deutschen »Gastarbeitersiedlung« nahe der algerischen Stadt Constantine mein Zuhause war. Ich wurde dort eingeschult, hatte bereits in der 1. Klasse Unterricht in der Landessprache Französisch (bis zu den späteren Gymnasialkursen allerdings das meiste wieder vergessen), lernte neue Freunde kennen – und bekam Karlinchen.

Sie wohnte in einer kleinen Holzkiste hinter dem Haus, ich fütterte sie mit Kopfsalatblättern, gab ihr Wasser und studierte fasziniert die seltsamen Züge dieses vorsintflutlichen Tieres: den glänzenden, braungeschuppten Kopf, der sich sofort ins Innere des Panzers zurückzog, wenn das Streicheln mit dem Finger etwas zu unsanft ausfiel, oder die kleine rosa Zunge, die bei jedem Biss ins bereitgelegte Grünfutter kurz zwischen den Schnappkiefern aufblitzte. Und die stoische Langsamkeit, mit der sie außerhalb ihrer Kiste den mauerbegrenzten kleinen Hinterhof durchwanderte. Ein bodentiefes eisernes Gatter bildete den Zugang, eine kleine Stufe führte vom Hof aus ins Wohnzimmer des ebenerdigen Hauses – der ideale Ort zur Unterbringung des kleinen Urviechs, denn selbst außerhalb ihrer Kiste konnte es von dort nicht ausreißen. Jedenfalls nicht ohne Hilfe.

Doch eines Tages sollte ausgerechnet ich selbst ihr genau diese Hilfe anbieten. Es war Wochenende, nachmittags, und ich war auf dem Hof mit Karlinchen beschäftigt, als plötzlich ein Auto vorfuhr und meine Eltern riefen, Familie B. sei zu Besuch angekommen. Dies weckte sofort mein aufgeregtes Interesse, denn die beiden Söhne dieses Arbeitskollegen meines Vaters zählten zu meinen Freunden und Spielkameraden. Ich sprang auf und rannte vom Hof, um die eingetroffenen Freunde zu begrüßen – und vergaß, das Gatter zu schließen. Plötzlich war anderes wichtiger.
Gegen Abend, nach Abreise der Gäste, fand ich hinter dem Haus nur noch die leere Holzkiste vor. Die aufgeregte gemeinsame Suche mit den Eltern auf dem Hof und in der näheren Umgebung des Hauses war vergebens. Karlinchen hatte genug Zeit gehabt, für immer zu verschwinden. Ich war traurig.

Ein paar Wochen später, vielleicht im Bauchladen eines Strandhändlers, vielleicht in der Auslage eines algerischen Basars, sah ich meine Schildkröte wieder. Viel kleiner, silbern, und mit einer ovalen Öse am Kopf. Es war ein Kettenanhänger. Ich bekniete meine Eltern, mir die metallene Reinkarnation meines geflohenen Schützlings zu kaufen. Und der Verkäufer ließ mit sich handeln. Eine Zeit lang trug ich sie an einer silbernen Kette um den Hals. Weglaufen ließ ich sie nicht noch einmal.

Karlinchen
Foto: © formschub | (to be continued)