Gemischte Gefühle

Es gibt einen Film namens »Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss« und was mich betrifft, stimmte das in den letzten Jahren auch meistens. Ein schöner langer, ruhiger Fluss, muss ich sogar sagen, denn Ruhe muss ja nicht Langeweile bedeuten. Aber manchmal ändert sich das. Dann sinkt plötzlich der Wasserstand im Fluss, der Wasserlauf wird schmaler, gewundener, flacher und man spürt bisweilen, wie Steinbrocken im Flussbett unten am Bootsrumpf entlangkratzen.

Am Mittwoch Vormittag, ein für uns ungewöhnlicher Zeitpunkt, ruft mich der Mann an. Festnetz. Noch ungewöhnlicher. »Irgendwas ist«, denke ich noch beim Abheben. Er ruft von unterwegs an, auf dem Weg zum Bahnhof, sein Vater sei in der Nacht zum Mittwoch gestorben und er nun auf dem Weg zur Mutter, die jeden denkbaren Beistand gebrauchen könne. Es kommt nicht ganz überraschend, eine schwere Erkrankung und deren begleitende, sehr massive medikamentöse Therapie ließen mit ernsten gesundheitlichen Unwägbarkeiten rechnen, aber es ist dann doch noch mal etwas anderes, wenn diese sich manifestieren. Es war ein Tod im Schlaf, unter den gegebenen gesundheitlichen Umständen die denkbar friedlichste Art des Abschieds.

In unserem Bekanntenkreis sind viele etwa in unserem Alter (Mitte fünfzig) und während der letzten zwei, drei Jahre gab es häufiger Todesmeldungen des einen oder anderen Elternteils. Robust formuliert wird das durch den Spruch »Die Einschläge kommen näher«. Logisch formuliert: je länger man sich immer älterer Eltern erfreuen darf, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Glück in einem immer kürzer werdenden Zeitraum unweigerlich wird enden müssen. Einerseits ist es ein Segen, dass der menschliche Verstand innerhalb einer friedlichen Alltagsumgebung in der Lage ist, den Tod so effektiv zu verdrängen, andererseits führt diese Verdrängung zu um so größerer Disruption, wenn er sich dann plötzlich unverdrängbar ereignet. Dinge wie das eigene Testament, eine Patientenverfügung, wichtige Vollmachten oder gar die Zusammenstellung eines Dokumentenordners mit gesammelten Informationen und Schriftstücken für Hinterbliebene (so einer war in diesem Fall gottlob vorhanden) schiebe nicht nur ich leichtfertig vor mir her, ich bin doch noch fast jung, was soll schon passieren? Nachlassprokrastination. Das anzugehen, fühlt sich jetzt anders an. Ratsamer, vernünftiger, überfälliger. Der Mann berichtet am Telefon, wie viele Maßnahmen nach einem Todesfall mit extrem kurzen Fristen zu erledigen sind. Wohl niemand möchte als Hinterbliebener, schon genug befasst mit dem eigenen Schmerz, noch hilflos verstreute und unsortierte Unterlagen des Verstorbenen suchen und sichten. Und doch passiert das vermutlich jeden Tag hundertfach.

Ich bin erkältet, seit Mittwoch. Im Lichte der Ereignisse eine Lappalie, es ist immerhin kein Corona, sagen sowohl mein Selbsttest am Morgen als auch der Schnelltest in der Apotheke am Nachmittag. Noch bin ich optimistisch, am nächsten Tag fit genug für die FFP2-bemaskte Teilnahme an einem Kundenmeeting zu sein, aber noch am Abend sage ich ab und gebe der Anwesenheit per Videochat den Vorzug. Zu matt, zu »verrotzt«. Ich frage den Mann am Telefon, ob ich auch anreisen soll, helfen kann, aber wir einigen uns darauf, dass ich einfach jederzeit telefonisch oder per Messenger »da bin«, wann immer er mich braucht. In nächster Zeit werden absehbar auch bereits gebuchte Tickets, Zugreisen, Tischreservierungen, Konzertkarten entweder verfallen oder storniert werden müssen. Nebensachen. Nichtigkeiten.

Am Freitag, ich hatte ihr selbst überlassen, wann, spreche ich erstmals mit der Schwiegermutter. Ich mache mir Gedanken, was ich sagen soll. Floskeln wie »herzliches Beileid« oder »aufrichtige Teilnahme« liegen mir so fern wie nichts anderes. Ich sage einfach, dass ich sehr traurig bin, sie gern umarmen würde. Weinen am Telefon ist eigentlich gar nicht so schlimm. Man fühlt sich besser hinterher. Über sechzig Jahre waren beide verheiratet. Ich kann nur erahnen, welches Loch der Tod in ein so langes gemeinsames Leben reißt, vielleicht kann ich nicht einmal das. Aber auch hier lauert die Logik, der sich jede/r stellen muss, der/die eine Ehe oder eine andere lebenslange Partnerschaft eingeht. Wenn sich zwei Menschen dafür entscheiden, miteinander so alt wie möglich zu werden, kommt eine/r der beiden nicht umhin, den Tod des anderen überleben zu müssen. Ein grausamer, harter Tribut, aber entrichtet für etwas eigentlich Unbezahlbares. Der Tod macht so viele Dinge unermesslich. Das sind auch so Dinge, über die ich nachdenke, in diesen Tagen.

Ein guter Bestatter, noch so ein Thema. In der Hast des Unerwarteten geriet die Familie hier glücklicherweise durch einen Zufall sofort in die Hände der bestmöglichen Betreuung: der nächstgelegene Bestatter, eher intuitiv und praktisch gewählt, erwies sich als unglaublich empathisch, hilfreich, tröstend und sympathisch. Vielleicht auch etwas, das sich »vorher« schon mal zu sondieren lohnte, denke ich und in meinem Kopf ziehen Bilder unangenehmer Bestatter aus Filmen und Serien vorbei, quasi Gebrauchtwagenhändler im Sargbusiness, das würde ich für mich nicht wollen. Auf Twitter folge ich einigen Bestattern, manchmal sehe ich im ÖPNV Werbeaufkleber für Bestatter an den Fenstern, aber so richtig kundig, wer sich an meinem Wohnort in dieser Branche hervortut oder anbietet, bin ich nicht. Und damit wohl gleichsam nicht allein.

Im Supermarkt sehe ich ein Schild an der Kasse. Der Drahthalter, wo sonst die Rezeptzeitungen als Quengelware für Erwachsene lagern, ist leer. Auf der bedruckten Rückfläche steht sinngemäß »Kein Heft mehr da? Nicht wütend werden!« Ich denke, gibt es wirklich Leute, die an der Kasse wütend werden, weil eine Rezeptgazette ausverkauft ist? Ist das Schild schon ein Zugeständnis an die Wutbürger, die Pöbler, Zeterer, Geiferer, die im Netz schon unumgänglich sind, mit ihrer permanent zu kurzen Lunte, stets in Mentos-Cola-Laune? Sind die jetzt auch draußen schon so präsent, dass es vorbeugend solcher Schilder bedarf? Oder bewerte ich das nur über? Kurz darauf begegne ich im Feuilleton eines Mailportals der eher unverfänglichen Überschrift »Sechs Dinge, die Sie besser nicht mit dem Staubsauger aufsaugen sollten«, als erster Kommentar darunter erbost sich ein/e Kommentator*in sinngemäß, leider könne man die inkompetente, an ihren Sesseln klebende linksgrünversiffte Bande der Ampelregierung nicht mit einem Staubsauger einsaugen, ein halbes Dutzend Ausrufezeichen folgen. Mittlerweile sind die Kommentare zu dieser belanglosen Liste »aufgrund zahlreicher Verstöße gegen die Kommentar-Regeln« geschlossen. Es scheint Menschen zu geben, die ernste Probleme mit der Einschätzung der Bedeutsamkeit von Dingen und der eigenen Frustrationstoleranz haben. Es müsste auch ohne Todesfälle eine Möglichkeit geben, die Maßstäbe der Menschen ab und an wieder auf ein gesünderes Maß zurechtzurütteln, denke ich. Die neue Situation hat mir anscheinend eine Brille aufgesetzt, durch die ich vorübergehend fast alles aus einer davon durchdrungenen Perspektive betrachte. Aber vielleicht hat das ja ebenfalls was Gutes.

Ein Satz aus den Telefonaten mit dem Mann ist mir noch im Ohr hängengeblieben. Er ist so kurz, fast lapidar, und doch steckt darin sehr viel von dem, was der Tod mit denen macht, die weiterleben: »Den Aufbahrraum habe ich als ein anderer Mensch verlassen, als der ich hineingegangen bin.« Es ist schon eigenartig – wir möchten uns an Verstorbene erinnern als die Personen, die sie immer waren. Und sie hinterlassen uns durch ihren Tod gleichzeitig so verändert, wie wir zu ihren Lebzeiten nie gewesen sind.

Dass wir erschraken,
da du starbst, nein,
dass dein starker Tod
uns dunkel unterbrach,
das Bisdahin
abreißend vom Seither:
das geht uns an;
das einzuordnen wird
die Arbeit sein,
die wir mit allem tun.

(Rainer Maria Rilke) | Auszug aus »Requiem –
Für eine Freundin (Paula Modersohn-Becker)« [1908]«

2 Kommentare

  1. Der Verlust tut mir sehr leid. Ja, er wird im Freundes- und Bekanntenkreis häufiger, und mit jedem intensiviert sich das Bewusstsein, das er unvermeidbar ist. Möge es ihnen wohl ergehen, und das lange, unseren verbliebenen Eltern und Freundeseltern.

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