Letzte Male, erste Male

Nach einer knappen Woche wieder zurück aus dem Süden des Landes. Am letzten Freitag im Januar hatte der Mann abends noch mit seiner recht munteren Mutter in ihrer Teilzeit-Pflegeeinrichtung telefoniert. Am nächsten Morgen gegen halb zehn kam ein Anruf von dort, dass sie gestorben ist. Ein knappes Jahr nach ihrem Mann und ebenfalls nachts im Schlaf. Alle in Reichweite scheinenden Pläne zu ihrer baldigen betreuten Rückkehr nach Hause, nachdem sie sich im letzten Herbst aus gesundheitlichen Gründen in Behandlung und Pflege begeben musste, lösen sich in einem Moment in Luft auf. Aus meinem Wochenendbesuch in Berlin wird ein längerer Beistand, weitere Vorhaben für die nächsten Tage kippen, Theatertickets verfallen. Jetzt gibt es andere Prioritäten, neue Pläne sind vonnöten. Wir sollten baldmöglichst hinfahren, für einen Abschied, für die nötigsten Formalitäten, doch die Bahn streikt. Zwar womöglich kürzer als geplant, so ist zu lesen, aber mit einem Nachhall der Störungen durch den Ausstand wird gerechnet. Eine Autofahrt zum Elternhaus über 700 km wäre zwar möglich, aber wird nach Rücksprache mit den sich kümmernden Menschen vor Ort verworfen. Wir entscheiden uns für eine Zugfahrt am Dienstag nach dem sicheren Ende des Streiks. Am Abend des Dienstag treffen wir ein.

Surreal, am folgenden Tag in der Besprechung mit dem Bestatter, der auch beim Todesfall zuvor bereits tätig war, mehrmals den Satz »das machen wir dann genau wie letztes Mal« zu hören. Die gefestigte, ruhige und empathische Art des Bestatters glättet die Wellen des plötzlichen, traurigen Einschlags. Da ist jemand, der Halt gibt, weil er den Weg gut kennt, der jetzt zu gehen ist. Erste Male. Bei früheren Todesfällen in der Familie wurde der Anblick der Verstorbenen vor mir entweder ferngehalten, weil ich damals noch Kind war oder ich war erst bei der Beisetzung anwesend, wo ich nur Sarg oder Urne, Blumen und die Hinterbliebenen zu sehen bekam. Diesmal nun ein Abschiedsbesuch bei der toten Schwiegermutter in den Räumen des Bestatters, ein schlicht und doch feierlich eingerichtetes, gekühltes Zimmer. Sie erscheint mir kleiner, als ich sie von meinem letzten Besuch in Erinnerung habe. Ich hatte etwas Angst vor dieser für mich ersten letzten Begegnung, doch meine Beklommenheit weicht nun einer irgendwie warmen Traurigkeit. Ich spüre das Loch, das durch ihren Tod entsteht, aber auch Dankbarkeit, dass er so friedlich geschah und einen Anflug von Erleichterung über das, was ihr womöglich durch ihr hohes Alter oder die geschwächte Gesundheit erspart bleiben durfte. Mach’s gut – und gute Reise.

Wir sind für die Dauer unseres Besuchs im nun leeren Elternhaus eingezogen. Während der Wohnlichmachung stoße ich auf viele Kleinigkeiten, denen ich unter normalen Umständen keine Beachtung geschenkt hätte, die aber nun völlig neue Assoziationen auslösen. Der Name des Schwiegervaters, der noch auf dem Klingelschild steht. Ein angefangener handgeschriebener Einkaufszettel in der Küche: heller Balsamico und Heringsfilets in der Dose. Ausgeschnittene Rabattcoupons. Eine Deko-Sanduhr, die abgelaufen auf der Eckbank in der Küche steht.

In den Tagen danach weitere Begegnungen im engeren Umfeld, mit den Schwestern des Schwiegervaters, den Nachbarn, dem schon länger beschäftigten Gartenpfleger. Alle Menschen hier helfen, nehmen Anteil, bieten Beistand an. Schon am Tag zuvor hatte der Mann die Habseligkeiten seiner Mutter in der Betreuungseinrichtung abgeholt. Die Pflegekräfte hatten die Mutter sogar auf eigene Initiative direkt nach ihrem Tod bereits so vorbereitet und angekleidet, dass sogar der Bestatter keinen Anlass mehr sah, nachträglich noch etwas zu verändern. Keine Selbstverständlichkeit, auch dafür große Dankbarkeit. Und noch ein erstes Mal: selber eine Todesanzeige texten, setzen und gestalten.

Zwischendurch bleibt aber auch Zeit zum Durchatmen. Die bergige, bewaldete Landschaft bietet in direkter Umgebung alle Möglichkeiten, während steiler Anstiege und bei gemächlichem Wandern, den Kopf wieder etwas frei zu bekommen. Sogar ein Hauch von Frühling liegt ab und zu in der Luft, das zi-tüü, zi-tüü einer Kohlmeise ist zu hören, ein paar Blitzer blauen Himmels zwischen den Wolken. Auch das sorgt für Licht. Sogar Lachen fühlt sich okay an. Wir reden viel, der Mann und ich. Über das, was war, was kommt, was hätte sein können, was erstmal warten kann. Gute und tiefe Gespräche, die nicht so bald wieder verfliegen, sondern im Kopf bleiben werden. Nähe. Da-Sein.

Am Samstag, vier Tage nach Anreise, fuhren wir erst einmal wieder heim. Der nächste Besuch hier ist in gut sechs Wochen geplant, zur Beisetzung der Urne.

Das Leben geht weiter.

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