Kategorie: Außer Haus

Unterwegs in Stadt und Land, im Urlaub und auf Reisen

Letzte Male, erste Male

Nach einer knappen Woche wieder zurück aus dem Süden des Landes. Am letzten Freitag im Januar hatte der Mann abends noch mit seiner recht munteren Mutter in ihrer Teilzeit-Pflegeeinrichtung telefoniert. Am nächsten Morgen gegen halb zehn kam ein Anruf von dort, dass sie gestorben ist. Ein knappes Jahr nach ihrem Mann und ebenfalls nachts im Schlaf. Alle in Reichweite scheinenden Pläne zu ihrer baldigen betreuten Rückkehr nach Hause, nachdem sie sich im letzten Herbst aus gesundheitlichen Gründen in Behandlung und Pflege begeben musste, lösen sich in einem Moment in Luft auf. Aus meinem Wochenendbesuch in Berlin wird ein längerer Beistand, weitere Vorhaben für die nächsten Tage kippen, Theatertickets verfallen. Jetzt gibt es andere Prioritäten, neue Pläne sind vonnöten. Wir sollten baldmöglichst hinfahren, für einen Abschied, für die nötigsten Formalitäten, doch die Bahn streikt. Zwar womöglich kürzer als geplant, so ist zu lesen, aber mit einem Nachhall der Störungen durch den Ausstand wird gerechnet. Eine Autofahrt zum Elternhaus über 700 km wäre zwar möglich, aber wird nach Rücksprache mit den sich kümmernden Menschen vor Ort verworfen. Wir entscheiden uns für eine Zugfahrt am Dienstag nach dem sicheren Ende des Streiks. Am Abend des Dienstag treffen wir ein.

Surreal, am folgenden Tag in der Besprechung mit dem Bestatter, der auch beim Todesfall zuvor bereits tätig war, mehrmals den Satz »das machen wir dann genau wie letztes Mal« zu hören. Die gefestigte, ruhige und empathische Art des Bestatters glättet die Wellen des plötzlichen, traurigen Einschlags. Da ist jemand, der Halt gibt, weil er den Weg gut kennt, der jetzt zu gehen ist. Erste Male. Bei früheren Todesfällen in der Familie wurde der Anblick der Verstorbenen vor mir entweder ferngehalten, weil ich damals noch Kind war oder ich war erst bei der Beisetzung anwesend, wo ich nur Sarg oder Urne, Blumen und die Hinterbliebenen zu sehen bekam. Diesmal nun ein Abschiedsbesuch bei der toten Schwiegermutter in den Räumen des Bestatters, ein schlicht und doch feierlich eingerichtetes, gekühltes Zimmer. Sie erscheint mir kleiner, als ich sie von meinem letzten Besuch in Erinnerung habe. Ich hatte etwas Angst vor dieser für mich ersten letzten Begegnung, doch meine Beklommenheit weicht nun einer irgendwie warmen Traurigkeit. Ich spüre das Loch, das durch ihren Tod entsteht, aber auch Dankbarkeit, dass er so friedlich geschah und einen Anflug von Erleichterung über das, was ihr womöglich durch ihr hohes Alter oder die geschwächte Gesundheit erspart bleiben durfte. Mach’s gut – und gute Reise.

Wir sind für die Dauer unseres Besuchs im nun leeren Elternhaus eingezogen. Während der Wohnlichmachung stoße ich auf viele Kleinigkeiten, denen ich unter normalen Umständen keine Beachtung geschenkt hätte, die aber nun völlig neue Assoziationen auslösen. Der Name des Schwiegervaters, der noch auf dem Klingelschild steht. Ein angefangener handgeschriebener Einkaufszettel in der Küche: heller Balsamico und Heringsfilets in der Dose. Ausgeschnittene Rabattcoupons. Eine Deko-Sanduhr, die abgelaufen auf der Eckbank in der Küche steht.

In den Tagen danach weitere Begegnungen im engeren Umfeld, mit den Schwestern des Schwiegervaters, den Nachbarn, dem schon länger beschäftigten Gartenpfleger. Alle Menschen hier helfen, nehmen Anteil, bieten Beistand an. Schon am Tag zuvor hatte der Mann die Habseligkeiten seiner Mutter in der Betreuungseinrichtung abgeholt. Die Pflegekräfte hatten die Mutter sogar auf eigene Initiative direkt nach ihrem Tod bereits so vorbereitet und angekleidet, dass sogar der Bestatter keinen Anlass mehr sah, nachträglich noch etwas zu verändern. Keine Selbstverständlichkeit, auch dafür große Dankbarkeit. Und noch ein erstes Mal: selber eine Todesanzeige texten, setzen und gestalten.

Zwischendurch bleibt aber auch Zeit zum Durchatmen. Die bergige, bewaldete Landschaft bietet in direkter Umgebung alle Möglichkeiten, während steiler Anstiege und bei gemächlichem Wandern, den Kopf wieder etwas frei zu bekommen. Sogar ein Hauch von Frühling liegt ab und zu in der Luft, das zi-tüü, zi-tüü einer Kohlmeise ist zu hören, ein paar Blitzer blauen Himmels zwischen den Wolken. Auch das sorgt für Licht. Sogar Lachen fühlt sich okay an. Wir reden viel, der Mann und ich. Über das, was war, was kommt, was hätte sein können, was erstmal warten kann. Gute und tiefe Gespräche, die nicht so bald wieder verfliegen, sondern im Kopf bleiben werden. Nähe. Da-Sein.

Am Samstag, vier Tage nach Anreise, fuhren wir erst einmal wieder heim. Der nächste Besuch hier ist in gut sechs Wochen geplant, zur Beisetzung der Urne.

Das Leben geht weiter.

Chocverliebt

Gestern habe ich mich gefreut. Mit der Post kam ein gepolsterter Umschlag aus Dänemark an. Darin befanden sich zehn Tafeln einer meiner liebsten dänischen Schokoladensorten.

Wenn ich Lebensmittel kaufe, beschwere ich mich nicht immer, wenn ich zu Hause bei der Verarbeitung oder vor dem Verzehr bemerke, dass etwas damit nicht stimmt. Das liegt auch daran, dass ich an der Kasse beim normalen Supermarkteinkauf ein notorischer Bonverweigerer bin. Ich habe schon genug Geraffel im Portemonnaie: Kleingeld (insbesondere die unnützen Kupfermünzen), Scheine, Abholbelege für die Reinigung oder die Änderungsschneiderei, die eine oder andere Visitenkarte und natürlich Dutzende Plastikkarten: Kreditkarte Büro, Kreditkarte privat, Maestrokarte Büro und privat, Bonuskarte hier, Kundenkarte dort, BahnCard, Führerschein, METRO, diesdas. Ich nehme schon gar keine mehr an und hoffe sehnsuchtsvoll, dass die Plastikkartenmafia bald für all diesen Polymerballast eine Digitalisierungsmöglichkeit bereitstellt. Ich war hochentzückt, als ich neulich merkte, dass man an modernen Geldautomaten mit der NFC-Funktion des Handys eine darin gespeicherte Bankkarte zum Geldabheben nutzen kann. Das beschleunigt den inzwischen zwar seltener notwendigen, aber jedesmal enervierend umständlichen Prozess ungemein. Statt »Portemonnaie rausholen, Karte rausfieseln, Karte in Schlitz fummeln, die sekundenlangen Videorecordergeräusche aus dem Automaten abwarten, tippen, wählen, PIN eingeben, Geld rausholen, auf den Auswurf der Karte warten, Karte wieder ins Portemonnaiefach friemeln und es wegstecken« fallen so die ersten vier und die letzten zwei Schritte beim kontaktlosen Abheben einfach weg. Dit jefällt mer. Mitte der Neunziger noch war mein Portemonnaie nur halb so groß wie jetzt, doch über die Jahre musste ich mir beim verschleißbedingten Wechsel allmählich immer größere Geldbörsen kaufen, allein um die wachsende Zahl der Plastikkarten unterbringen zu können. Dabei habe ich sowas wie eine Paybackkarte oder Kundenkarten von Schuhgeschäften, Imbissen, Drogeriemärkten schon immer konsequent abgelehnt. Brauch ich nicht, will ich nicht, kann weg.

Aber zurück zum Gedankengang. Ich nehme oft keinen Bon an der Kasse mit. Dann stehe ich da zu Hause mit einem Blumenkohlkopf, der sich nach dem Aufschneiden innen braun und matschiggefault präsentiert oder mit einem Netz Mandarinen, in dem sich eine halb verschimmelte versteckt. Dann bin ich meist wenig geneigt, ohne Kassenbon extra noch mal zurück zum Laden zu gehen (der auch manchmal weiter weg liegt, wenn ich auf längeren Wegen durch die Stadt meine Besorgungen machte), dort glaubhaft zu machen, dass die Ware vor Ort gekauft wurde, daraufhin Ersatz oder Erstattung zu fordern und schließlich wieder zurück nach Hause zu fahren. Meistens entsorge ich das verdorbene Produkt, besorge mir in unmittelbarer Nähe ein neues und gut. Diesen Gleichmut pflege ich aber zumeist nur bei vergleichsweise preiswerten Waren. Würde ich bemerken, dass ein teures Biobrathähnchen oder ein Glas Edelpesto schon vor dem Kauf dem Verderb anheim fielen, würde ich natürlich reklamieren. Notfalls auch ohne Bon.

Während eines früheren Dänemarkurlaubs nun, hatte ich in einem dortigen Supermarkt eine Schokoladensorte entdeckt, deren Beschreibung sich spannend las, so dass ich eine Testtafel kaufte. 70% Kakogehalt, das entsprach schon mal meiner Grundvorliebe für dunkle Schokolade. Bio war sie, das ist ebenfalls begrüßenswert. Und »Coffee« stand auf der Packung, das fand ich zunächst zwar erst nicht so interessant, weil Kaffee als Schokoladenzutat gerne mal nur als in die Schokolade gerührte Flüssigzutat, als Aroma oder in irgendwelchen pastos-vertrüffelten Füllungen daherkommt, was ich alles nicht so gerne mag. Doch auf der Rückseite stand »ØKOLOGISK MØRK CHOCOLADE MED FORMALET KAFFE«, also »BIO-BITTERSCHOKOLADE MIT GEMAHLENEM KAFFEE« (10%, das ist nicht ohne). Und diese Angaben machten mich neugierig, denn der Kaffee schien hier sensorisch noch spürbar als feines Granulat beigefügt zu sein. Spannend. Mochte ich doch schon immer gerne die herben schokolierten gerösteten Kaffeebohnen, die man in manchen Restaurants zwecks Rechnungsversüßung beigelegt bekommt und die so schön krachen beim Zerbeißen. Und tatsächlich fiel der Test des herben Naschwerks ausgesprochen angenehm aus. Feine, nicht zu säuerliche dunkle Schokolade, die beim Schmelzen im Mund die feinen Kaffeepartikel freisetzte. Vor der Abreise nahm ich einige Tafeln mit zurück nach Deutschland und so hielt ich es auch bei den seither folgenden Urlauben in Dänemark. Auch beim letzten Jahresendurlaub 2023/24 in der Nähe von Nørre Nebel in Westjütland, dem Ort, wo mein Mitnehmseleinkauf in der Filiale der Marktkette »Super Brugsen« erfolgte.

Wieder zu Hause, verschenkte ich von den vier mitgebrachten Tafeln zwei an einen Freund, der während des Urlaubs meinen Wohnungsschlüssel verwahrt hatte, die anderen beiden behielt ich. Kurz darauf erhielt ich von dem Beschenkten ein Foto geschickt, mit der Schokolade stimme etwas nicht. Bei beiden Tafeln.

Daraufhin prüfte ich auch meine beiden Packungen. Und es war bei mir genauso. Die Tafeln waren innerhalb der Alufolienverpackung längs um etwa 20% »zusammengerutscht« (was man bereits von außen sehen und ertasten konnte) und wiesen auf der Oberfläche Bläschen und einen hellen Belag auf, als seien sie in der Packung leicht geschmolzen, hätten sich verformt und wären dann wieder erkaltet. Ich wusste, dass ich die Schokolade nach dem Kauf, auf allen Transportwegen und bei jeder Lagerung trocken und kühl verwahrt hatte. Außerdem war es seltsam, dass die Längsrichtung der Verformung bei allen Tafeln identisch und seltsamerweise quer zur senkrecht aufgestellten Regalpräsentation im Supermarkt verlief. Sehr wahrscheinlich hatte die Ware also vor dem Einräumen ins Ladenregal bereits derart gelitten.

Man kennt es, dieses peinliche Gefühl, wenn man jemandem etwas fertig Verpacktes schenkt oder ihn/sie in ein Lokal einlädt und anschließend entpuppt sich das Geschenk als beschädigt, unbenutzbar oder ungenießbar oder der Gastronomiebesuch verläuft geschmacklich oder anderweitig katastrophal – alles außerhalb des eigenen Verschuldens, aber trotzdem fühlt man sich irgendwie mitverantwortlich und mitbeschämt. Deshalb beschloss ich auch ohne Bon und trotz der 350 km entfernten Bezugsquelle jenseits der Landesgrenze, einen höflichen Reklamationsversuch zu starten. Ich durchlief zunächst die Reklamationsprozedur auf der Website, deren Adresse auf der Verpackung angegeben war, die schwedische Mutterfirma »Coop«, welche die Produkte dieser Marke herstellt und/oder vertreibt und fügte auch Fotos bei. Man antwortete schnell und höflich aus Schweden, dass für Reklamationen in Dänemark der jeweilige Supermarkt der korrekte Ansprechpartner sei und auf der Website der Supermarktkette konnte ich tatsächlich im Nu eine spezifische Mailadresse für genau diese Filiale ausfindig machen. Ich kopierte meinen (englischen) Beschwerdetext in eine Mail, hängte die Bilder der entstellten Tafel an und wiederum erhielt ich schon am nächsten Werktag eine Antwort, direkt vom Marktleiter:

»thank you for your complain and the photos.

I just took a few samples from differents packages, and the result is unfurtunately the same as the choclate in the pictures.

I would be happy to sent you some new packages, but for now i will make a request to Coop Danmark about full quality control of this product in Coop Danmark. When i have new and fresh products in the shop i will sent you a package with new choclate.

I hope the solution will be fine for you :)«

Ich dankte freundlich, dass das in der Tat fine for me sei und erwartete nun eine ein- bis mehrwöchige Pause für die angekündigte interne Prüfung. Doch schon vier Tage später traf das Entschädigungspaket bei mir ein – mit zweieinhalbmal so viel Schokolade, wie ich ursprünglich gekauft hatte. Glücklicherweise liegt das MHD hinreichend weit spät in diesem Jahr und ich bin zudem von etlichen Menschen umgeben, die (dunkle) Schokolade ebenfalls schätzen.

Das war eine Serviceerfahrung, wie ich sie liebe. Und einmal mehr mag ich sie wieder insgesamt sehr, die Dänen.

Wischiwaschi

Gestern Abend war ich mit dem Mann im Omnipollos, einem unserer gern besuchten Craft-Beer-Pubs in Hamburg. Da der Pub recht klein ist, Wochenende und Samstag war und wir zu einem ähnlichen Zeitpunkt dort schon mal aufgrund größeren Andrangs nicht mehr untergekommen waren, reservierten wir vorher sicherheitshalber online einen Tisch. Um noch etwas Bewegung zu praktizieren, hatten wir uns vorgenommen, nur die erste Hälfte des Weges mit der U-Bahn zu fahren und den Rest durchs winterliche Hamburg zu Fuß zurückzulegen. Kurz vor dem Aufbruch begann es wieder heftig zu schneien, was der kleinen Stadtwanderung eine zusätzliche besondere Atmosphäre verlieh: es war bereits dunkel, aufgrund des Schneefalls waren merklich weniger Autos und Fußgänger unterwegs, in den Lichtkegeln der Laternen und Scheinwerfer stoben die Flocken und das gemütliche Knirschen unter den Sohlen bei jedem Schritt, in Verbindung mit den schneegedämpften Stadtgeräuschen machten aus dem ansonsten profanen Fußweg einen richtig schönen Winterstreifzug.

Als wir in dem Pub ankamen, erwies sich unsere Tischreservierung als überflüssig, es waren kaum andere Gäste da, so dass wir freie Auswahl bei unseren Sitzplätzen hatten. Die Wände und Möbel im Schankraum sind fast komplett in Pink gehalten, was die Netzhaut zwar anfangs etwas irritiert, aber in Verbindung mit der schummrigen Beleuchtung dann bald eine gemütliche Stimmung erzeugt. Auch die im Hintergrund spielende Musik war sowohl ungewöhnlich als auch der besonderen Stimmung förderlich – sehr jazzy und groovig, zwei der Stücke musste ich gleich mal shazamen: »Cat’s Groove« (Kaelin Ellis feat. Tony Rosenberg) und »Jimmy’s Groove« (Delvon Lamarr Organ Trio) – mir bislang komplett unbekannte, aber sehr coole Songs.

Wir saßen also da in dieser wenig besuchten, funky beschallten Bar, tranken unser Bier, unterhielten uns angenehm, draußen fiel Schnee und ich wollte diese Stimmung irgendwie in einem Foto einfangen, wusste aber, dass jede korrekt belichtete Aufnahme, egal mit welchem Motiv oder gleich aus welcher Perspektive, dem nicht würde gerecht werden können. Da kam ich darauf, zu versuchen, ob ich mit der Smartphonekamera vielleicht eine »Lomographie« hinbekommen würde – ein langzeitbelichteter Zufallsschnappschuss, bei dem man nicht durch den »Sucher« schaut, sondern einfach aus dem Stegreif in die Szene hineinknipst und sich vom Ergebnis überraschen lässt. Et voilà.

An meiner Sammlung analoger Fotos, die ich bis etwa 2005 im Alltag, auf Reisen und im Urlaub geschossen habe, haben lomographische Schnappschüsse einen ziemlich großen Anteil. Diese Art des Knipsens war gegen Mitte der 1990er Jahre ein ziemlicher Hype und als fotografisch interessierter Grafikdesigner kam auch ich nicht umhin, mir bald die spezielle, dafür prädestinierte Kamera zuzulegen: eine Lomo LC-A. Die zwei Besonderheiten der kleinen, sehr robusten mechanischen Kamera (anfangs noch aus original russischer Produktion) waren, dass sie erstens einen recht tiefentoleranten Fokusbereich hatte, man also das Motiv nicht extra scharfstellen musste und zweitens einen Belichtungssensor, der die Verschlusszeit noch während der Aufnahme regelte – auch bei schwankender Lichtstärke wurde immer so viel Belichtungszeit »gesammelt«, dass auf jeden Fall etwas auf dem späteren Foto erkennbar war. Fotografiert wurde »aus der Hüfte« – man hielt die Kamera einfach mit der Hand spontan in Richtung des anvisierten Motivs und drückte ab, ruhig gehalten oder auch bewegt. Und anders als heute, bei der (von mir sehr geschätzten und ausgiebig praktizierten) Digitalfotografie, konnten die experimentellen Resultate dieser Art zu fotografieren natürlich erst Tage oder Wochen später, nach der Filmentwicklung sowie Anfertigung der papierenen Fotoabzüge begutachtet werden.

Die kleine LOMO hab ich immer noch, die letzte Benutzung liegt aber lange zurück …

Trotz dieses riskanten Ansatzes – denn es gab natürlich auch viel »Ausschuss« in Form missratener oder uninteressanter Bilder – war die große Stärke der gelungenen lomografischen Schnappschüsse aus meiner Sicht immer, dass sie perfekt die Stimmung in einem bestimmten Moment einfangen konnten. Bei schummrigem Licht erhielt man verwischte oder unscharfe Fotos, die Bildmotive waren meist abgeschnitten oder standen sonderbar schräg bzw. in gewagten Perspektiven im Format, die Gestik und Mimik der abgelichteten Personen waren meist total zufällig, zumal sie ja oft gar nicht merkten, dass sie fotografiert wurden, weil die Kamera »undercover«, am spontan gereckten Arm, statt gezielt mit Blick durch den Sucher auf sie gerichtet, zum Einsatz kam. Bei einer Urlaubsreise etwa, 1997 mit einer Gruppe von sechs Freunden in die Toskana, verfuhren wir uns auf der Anreise zum gemieteten Ferienhaus derart, dass wir erst nachts um eins am Ziel ankamen und uns die Vermieterin, im Nachthemd und mit einer Laterne in der Hand, auf dem Schotterweg der Zufahrt zum Haus entgegenkam, um uns das letzte Stück des Weges zu leuchten. Erschöpft und aufgekratzt saß unsere Clique danach noch bis in die Nacht bei reichlich Rotwein in der Küche der Unterkunft und die schrägen, verschwommenen Fotos dieser gleichermaßen angeheiterten wie ausgelaugten Gesellschaft, die ich in jener Nacht schoss, sind für mich in ihrer Unvollkommenheit bis heute die bestmögliche Essenz dieses besonderen Moments. Kein korrekt belichtetes, gerade ausgerichtetes oder scharf fokussiertes Foto hätte das genauso perfekt einzufangen vermocht.

Ich habe eben mal etwas in meinem Fotoarchiv gekramt und neun beispielhafte Papierabzüge aus meiner »lomografischen Periode« ohne Nachbearbeitung abfotografiert. Und ich glaube, ich kriege gerade Lust, diese nostalgische und herrlich unperfekte Art des Fotografierens – wenn auch mit der digitalen Smartphonekamera – künftig öfter mal wieder zu praktizieren.

Fotorückblick 2023

Diese schöne Idee habe ich mir heuer von der Kaltmamsell abgeguckt. Interessant war, dass mir erst im Rückblick auffiel, wie voll mit Reisen und schönen Momenten das Jahr für mich im engsten Kreis doch war. Anscheinend hatten die zwei Todesnachrichten am Anfang und am Ende des Jahres und die generelle Krisen- und Katastrophendurchwachsenheit, die gefühlsmäßig alles mit ihrem Endzeitmehltau überzog, die Fülle der schönen Erinnerungen schneller verblassen lassen, als mir lieb war. Insofern hielt die Rückschau aufmunternd viel Gutes bereit. Da sowohl ich als auch der Mann theoretisch »von überall« arbeiten können, soweit Termine, die persönliche Anwesenheit erfordern, rechtzeitig eingeplant werden, sind bei weitem nicht alle der nachfolgend genannten Reisen »echte« Urlaube gewesen. Aber ein »Homeoffice« in schönen Gegenden abseits des Wohnortes bietet nach Feierabend, in Pausen und an Wochenenden dann doch spürbar häufiger die Möglichkeit, immerhin stunden- oder tageweise urlaubsähnliche Stimmung aufkommen zu lassen und für dieses Privileg bin ich sehr dankbar. Von mir aus kann es 2024 gerne so weitergehen, dann aber auch global wieder deutlich freud- und friedvoller, bitte. Kommt gut rein!

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Dezember

Hier.

Vor fast genau acht Jahren schrieb ich hier im Blog einen Artikel zum Thema »Heimat«. Darin stellte ich fest, dass ich rein geografisch kaum einen Ort aus meiner Biografie benennen könnte, der für mich einer »Heimat« entspricht. Heimat sind für mich eher Orte und Lebenssituationen, in denen ich von Menschen umgeben bin, mit denen mich Sympathie, Freundschaft oder Liebe verbinden.

Derzeit befinde ich mich im Urlaub in Schweden. Ich habe dieses Land und seine Menschen schon öfter besucht, gelegentlich verbunden mit einem oder wenigen Tagen in einer Stadt wie Stockholm, Malmö, Helsingborg oder Göteborg, aber meistens für eine oder zwei Wochen in einem Ferienhaus, möglichst etwas abgelegen und naturnah, im Wald und/oder an einem See. So ist es auch diesmal wieder, die aktuelle Unterkunft liegt in der Region Värmland an einem See in der Nähe des Ortes Sunne. Jeden Tag wandern wir hier zwischen 5 und 10 Kilometer durch Wald und Berge, der Mann und ich. Manchmal streife ich auch für eine Stunde mal alleine in der Umgebung im Wald herum, das habe ich schon als Kind in den Harzferien bei der Oma gerne gemacht. Es ist wunderbar still hier, die nächste Straße liegt 100 Meter entfernt und ist nur sehr sporadisch befahren, der Abstand zu den nächsten Nachbarn ist ähnlich großügig. Nur drei Häuser stehen hier, inklusive unserem, außerhalb einer Ortschaft, bis zum nächsten »größeren« Ort (gut 2.000 Einwohner) sind es knapp 8 Kilometer.

Ich habe schon etliche Orte bereist, einige als vorübergehendes Zuhause (als Kind mit den Eltern jeweils zwei Jahre in Algerien und Nigeria), einige während mehrwöchiger Urlaube und manche nur für Kurzreisen (zumeist Städte). Im Jahr 2012 hatte ich mal eine Google-Karte erstellt, auf der meine Reiseziele in Europa mit Pins markiert waren. Transatlantikreisen reisen habe ich seit meiner Schulzeit nur drei unternommen: 1992 nach Chicago, 1996 nach New Orleans und 1998 nach New York (beruflich, leider kaum mit Gelegenheit zur Erkundung der Stadt). Vergleichbar weite oder noch weitere Fernreisen habe ich nicht unternommen.

Es gibt kaum ein Reiseziel, das ich im Nachhinein nicht gerne besucht hätte. Es war immer neu, schön, interessant oder aufregend, woanders zu sein. Ich bin ein neugieriger Mensch und sauge neue, ungewohnte Eindrücke begeistert auf. Dazu muss ich nicht zwingend beliebte oder spektakuläre Locations aufsuchen, manchmal ist ein Bummel durch eine Markthalle, über einen Basar oder Wochenmarkt oder durch die Gänge eines großen Supermarkts an einem fremden Ort genauso spannend wie die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten. Generell meide ich Orte, an denen sich Touristen drängen, weil dort ein Panorama, ein Bauwerk oder andere pittoreske Brennpunkte zu bestaunen sind. Tausende von Menschen fahren dorthin, um in ihrer Reisechronik vermerken zu können, »dagewesen« zu sein, tausende Menschen machen von denselben Standpunkten aus dieselben Fotos, nur Variationen bei Jahreszeit, Wetter und mitgeknipsten Personen machen ihre Bilder unterscheidbar. Touristische Sehenswürdigkeiten sind die Gassenhauer der meisten Reisenden. Genauso wie z.B. in den meisten Konzerthallen der Welt jahraus, jahrein die immer gleichen Werke der immer gleichen klassischen Komponisten auf dem Programm stehen: Bach, Mozart, Beethoven, Tschaikowsky, Chopin, Vivaldi usw. Keine Frage, die genannten Künstler haben geniale Werke geschaffen und es bereitet auch Freude, sie anzuhören. Aber die Popularität ihrer Werke drängt Dutzende anderer, ebenso famoser Komponisten und Werke ins Abseits und damit in die Vergessenheit, die es verdient hätten, ebenso häufig auf den Programmen der großen Orchester zu stehen, wie etwa John Field, Wilhelm Stenhammar, Erich Wolfgang Korngold, Howard Hanson, Frederic Mompou, Frederick Delius oder George Enescu, deren Entdeckung meine eigene Musikwelt sehr bereichert hat. Und ganz ähnlich verdrängen die von Touristen überrannten Sehenswürdigkeiten als »Must Sees« viele unbekanntere Orte, Panoramen, Gebäude und Monumente und werden, wie Marlene Dietrich einmal auf sich bezogen sagte, »zu Tode fotografiert«. Ich hatte einmal den Gedanken, dass unaufhörlich oft gespielte Musikstücke überall auf der Welt mit jeder Aufführung und Wiedergabe eine Spur leiser werden sollten, ohne dass es dafür ein technisches oder physikalisches Gegenmittel gäbe – ganz so, als ob sie sich abnutzen würden. Irgendwann wären sie dann (für eine gewisse Zeit) unhörbar leise, egal ob von CD, Magnetband, MP3 oder als Live-Aufführung, so dass sich die Menschen, die Lust auf schöne klassische Musik haben, zwangsläufig mit anderen vorhandenen Werken und Komponisten befassen müssten. Analog könnten totfotografierte und überbesuchte Touristenattraktionen auf Film, Video und in digitalen Bilddateien fortwährend immer blasser und blasser abgelichtet werden, so dass man zwar hinfahren und sie live ansehen könnte, fotografieren müssten die Reisenden jedoch andere Motive. Zwar nur ein Gedankenexperiment, aber eins, das die Menschen womöglich motivieren könnte, wieder neugierig zu werden und sich selber auf die Suche nach unentdeckten schönen Dingen zu begeben, welche zwar nicht neu, aber genauso z.B. erlebenswert sind. Wer weiß.

Neugier ist einer der Haupt-Antriebe für mich, zu reisen und wann immer möglich, sind selbstbestimmte Tagesabläufe ein Muss. Ich bin kein Typ für Busreisen, Kreuzfahrten oder Reisegruppen, wo ich inmitten einer Gruppe oder gar größeren Schar Mitreisender an eine Route oder ein Verkehrsmittel gebunden bin, wo die Abläufe der Reisetage, Zeiten und Orte für Ausflüge oder Stunden-Slots für »Freizeit« oder die täglichen Mahlzeiten vorgegeben sind. Ich mag keine überfüllten Züge, Schiffe, Flugzeuge oder Hotels, sondern möchte im kleinstmöglichen Kreis mit angenehmen und »pflegeleichten« geschätzten Menschen meine Ferien verbringen. Unangenehme, aber unvermeidliche Phasen der An- und Abreise mit Schlangestehen oder Warten sowie notwendige Zeitabschnitte mit Fortbewegung oder Unterbringung inmitten größerer Menschengruppen versuche ich, auf ein Minimum zu reduzieren. Am Ziel der Reise wünsche ich mir Autonomie, Stille, Genuss und auch etwas Komfort, der nicht unbedingt »luxuriös« sein muss. Dazu genügen bequeme Betten, eine gut ausgestattete Küche zur Selbstverpflegung nebst allen Utensilien zum Zubereiten und Servieren, eine stabile und schnelle Internetverbindung und einige gemütliche Sitzecken draußen oder drinnen zum Entspannen, Filme schauen, lesen oder Musikhören. Ich möchte schlafen, so lange ich will und anschließend trotzdem noch, ohne Rücksicht auf örtliche Buffet-Öffnungszeiten, ausgiebig frühstücken können. Ich möchte selbst in Geschäften oder auf Märkten einkaufen können, dabei vielleicht lokale, mir unbekannte Köstlichkeiten entdecken und meinen täglichen Speiseplan nach Angebot und Appetit zusammenstellen. Ich möchte Tage mit Muße und Ruhe verbringen, wenn mir danach ist. Wenn ich unternehmungslustig bin, möchte ich – auch spontan – selbstgeplante Ausflüge machen und wenn ich einfach nur in der Natur wandern oder Zeit an einem (gerne wenig besuchten) Badestrand verbringen möchte, sollte auch das möglich sein, ohne auf eine vorgegebene Agenda Rücksicht nehmen zu müssen. Ich möchte selbst entscheiden, wann ich mich, z.B. bei einem Stadtausflug, in größeren Trubel und unter Menschen begebe und wann ich mich in eine ruhige und ungestörte Umgebung zurückziehen will. Luxus bedeutet für mich, mich ohne Fremdbestimmung erholen und etwas unternehmen zu können und dabei das jeweilige Maß an Geräusch und Geselligkeit selbst bestimmen zu können.

Die schon erwähnte Neugier(de) – eigentlich gefällt mir das deutsche Wort überhaupt nicht, weil da das unsympathische »Gier« drinsteckt, ich finde das englische »curiosity« viel netter – umfasst jedesmal alles, was mir am Zielort begegnet. Zwar werden die Hin- und Rückreise, die Unterkunft, eventuelle wichtige Einkaufsmöglichkeiten vor Ort und einige wenige Anlaufstellen wie ein erstes Restaurant, ggf. ein Bahnhof für Ausflüge oder, falls die Unterkuft etwas abgelegener liegt, die nächstgrößere Ortschaft vorab recherchiert, aber das meiste andere, Wochenmärkte, Ausflugsziele, Wanderrouten, Einkaufszentren, Fußgängerzonen, am liebsten erst vor Ort erkundet. Nach der Ankunft nehme ich mir möglichst bald gerne einige Stunden Zeit, um einfach ziellos in der Gegend herumzustromern, die Nachbarschaft der Unterkunft zu erkunden, egal, ob in einer Stadt oder mitten im Wald. Ich will wissen, wie sich das Urlaubsziel anfühlt, wie es aussieht, wie es riecht. Ich möchte wissen, was draußen wächst, wo die Straßen, Wege und Trampelpfade hinführen, wie die Sprache, der Dialekt oder der Akzent der Leute klingen, auch wenn ich ihre Sprache nicht oder kaum beherrsche. Ich möchte wissen, wie die Menschen aussehen, wie sie gekleidet sind, wie ihr Alltag auf der Straße abläuft, wie ihre Häuser gebaut sind, wie die Pflanzen in ihren Gärten aussehen, was auf ihren Balkons steht, was man von außen beiläufig durch die Fenster ihrer Wohnungen sehen kann. Ich beobachte den Verkehr, die Fußgänger, die Radfahrer, studiere Straßenschilder, Wegweiser, Beschriftungen und Leuchtreklamen, betrachte Werbeplakate und Schaufenster, besuche kleine und große Geschäfte und stöbere im lokalen Warensortiment. Besonders Markthallen finde ich großartig. Am beeindruckendsten waren für mich bislang die in Florenz, in Kopenhagen, in Budapest und in Malmö. Das Treiben der Marketender und Kunden, die unzähligen Lebensmittel und Delikatessen und – die Gerüche! Wie viele Düfte und Gerüche habe ich im Kopf aus Urlauben mit nach Hause genommen und werde jedesmal an den Ort ihrer Wahrnehmung zurückkatapultiert, wenn mir zu Hause irgendwo zufällig ein Anklang daran begegnet. Der Duft frisch gebackenen Fladenbrotes oder knuspriger Pizza, der leicht metallische Geruch frischen Fleisches, die Aromen von Käse, von geräuchertem Fisch oder Würsten, gerade geröstete Kaffeebohnen, Putzmittel, Parfum, Überbackenes, Kandiertes, Gebratenes, die Düfte von Schnittblumen und Gewürzen, der trockene Geruch von Kleidung, Tuchwaren und Teppichen. Ich gehe wie ein Schwamm durch die neue Umgebung und sauge alles auf, was durch meine Sinnestore passt. Nach Möglichkeit und Budget müssen die Spezialitäten all dieser Fülle natürlich auch verkostet und ausprobiert werden. Das ist Reisen für mich.

Doch trotz des immer vorhandenen Interesses für Land und Leute fühlen sich manche Orte, Reiseziele oder Urlaube für mich unterschiedlich an. In manchen Ländern bleibe ich immer der Reisende. Ich bin zu Gast und fühle mich zu Gast, ich bin Besucher, Beobachter, Zuschauer. Die Unterkunft ist perfekt, das Wetter hervorragend, alle Unternehmungen laufen nach Plan, das Essen schmeckt köstlich, die Eindrücke sind überwältigend, neu und interessant, die Landschaften und Bauwerke atemberaubend, die einheimischen Menschen sind freundlich, hilfsbereit und famose Gastgeber und doch bleibt immer eine hauchdünne Barriere zwischen mir und meiner Urlaubsumgebung spürbar. Als wäre ich in einem Zug oder einem gläsernen Fahrzeug wie dem »Papamobil« unterwegs, vieles ist und bleibt mir fremd, obwohl es mich fasziniert, mir gefällt oder mich beeindruckt. Ich nehme viel wieder mit nach Hause, habe Dutzende Fotos gemacht, schöne Erlebnisse gehabt, vortreffliche Speisen gekostet, tausend neue Dinge gesehen, bin netten Menschen begegnet und doch bleibt es eine Reise, von der ich wieder »nach Hause« zurückkehre.

In Skandinavien und insbesondere in Schweden ist das etwas anders. Wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, ich sei bereits vor meinem allerersten Besuch schon einmal hier gewesen und auch, als wäre ich den Menschen hier auf seltsame Weise verbunden. Wenn ich alleine durch den Wald gehe, ist es zwar still, aber ich höre die Bäume und Felsen flüstern »willkommen zurück!«. Der Wind, durch die Bäume streicht oder das Rauschen eines kleinen Waldbaches sagen mir »da bist du ja wieder!«. Ich fühle mich nicht wie in einem fremden Land, sondern wie in einem Ur-Zuhause, wandere nicht als Beschauer umher, sondern bin an einem Ort angekommen, der sich anfühlt, als gehörte ich dorthin. Es fühlt sich an wie ein Einrasten, als spürte ich ein »Klick« und fügte mich an einem Platz ein, der genau der richtige für mich ist.

Mich würde interessieren, ob das nur mir so geht oder ob auch andere an manchen Orten, egal ob im Ausland oder in »ihrem« Inland, ein ähnliches Gefühl oder vergleichbare Unterschiede bei der Wahrnehmung ihrer Reiseziele haben.

Nächstes Jahr, wenn nichts dazwischen kommt, Schweden, komme ich wieder.

Ferien in Sagrotan

Eine schöne Urlaubswoche in Schweden liegt hinter mir und ich werde nachträglich auch bestimmt dazu noch etwas bloggen. Es ist jedesmal eine Wohltat, weit weg vom Großstadtlärm, nah an der Natur, zwischen Seen, Bergen und inmitten unfassbar weiter Wälder dieses Land zu bereisen. Entsprechend haben der Mann und ich auch von unserem einsam gelegenen Ferienhaus in der Provinz Värmlands län zahlreiche Ausflüge zu Wanderungen durch die schöne Landschaft unternommen.

Im Urlaub bin ich der Chauffeur. Da ich selbst kein eigenes Auto mehr besitze, hält mich das in Übung, ich mache es gerne und der Mann kann mich lotsen und die Fahrten genießen. Win-win. Auf einer der Touren fuhren wir an einem der typischen blau-weißen Wegweiserschilder vorbei, auf dem ich auf den ersten Blick den Ortsnamen SAGROTAN zu lesen glaubte. Tatsächlich hieß es jedoch SEGOLTAN, wie sich an der nächsten Abzweigung erwies. Witzig, ein Ort der heißt wie ein Putzmittel, dachte ich und ging in Gedanken andere Markennamen in diesem Segment durch, um zu schauen, ob es in Schweden noch weiteres Potenzial für solcherlei Verwechslungen gäbe. Und tatsächlich, etliche reale Produkte aus deutschen Drogeriemärkten könnten ohne weiteres schwedische Orte bezeichnen. Und umgekehrt habe ich allein in einer Liste aller Dörfer und Städte in Värmlands län spontan fast fünfzig Ortsnamen ausmachen können, nach denen man durchaus werbewirksam neue Putz- oder Reinigungsmittel benennen könnte. Faszinierend.

Vielleicht ist das auch ein Grund, warum es hier überall so schön sauber aussieht.

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Hintergrundbild von Bara Karall auf Pixabay

Gradwanderung

Es ist Sommer und ich leide. Mir ist es zu heiß und mir ist es zu schwül. Seit ich mich erinnern kann, ist eher der Frühling meine liebste Jahreszeit, schon vor der Zunahme von »Rekordsommern«. Vielleicht liegt es daran, dass ich an der Schwelle zum Frühling, Anfang März, Geburtstag habe und in den ersten 2–3 Monaten meines Daseins auf der Erde auch mein Wohlfühlthermometer geeicht wurde. Das erschiene mir einleuchtender als irgendwelche Prägungen, die mit Sternenkonstellationen zu tun haben sollen. Ich liebe Temperaturen zwischen 19 und 25 °C, dazu ein paar schattenspendende Schäfchenwolken am Himmel und eine leichte Brise. Schweden kriegt so ein Wetter selbst im Sommer oft noch ziemlich gut hin, deshalb mache ich da vermutlich so gerne Urlaub.

Ich erinnere mich sogar noch an ein paar Zeilen aus einem Kinderbuch, das ich wegen der übersprudelnd fantastischen Geschichten darin bis heute aufgehoben habe. Ähnlich wie in den Büchern von J. R. R. Tolkien erlebt in diesem Buch eine Truppe von Gefährten auf einem langen Weg viele märchenhafte Abenteuer. Ein Mitglied der Gruppe ist ein Wassermann, der sich von den Mitstreitern überreden ließ, seinen Teich zu verlassen und mitzuziehen. Als die Abenteurer auf einem Stück des Weges unter großer Hitze leiden, überlegt der Wassermann, obgleich er von seinen Freunden fortwährend mit Wasser besprenkelt wird, die Mission aufzugeben:

Der Wassermann jammerte: »Das halte ich nicht aus! Ich muss umkehren. Ich will zurück in meinen Teich!« – »Aber Wassermann«, meinte ich, »denkst du denn gar nicht an das arme Mondschaf?« – »Ich kann nicht mehr denken«, blubberte er. »Wenn ich schwitzen muss, schlägt mein Gehirn Blasen!«

(Wolf Dieter von Tippelskirch: »Jeremias Schrumpelhut erzählt – Die Reise zum Stern Traumatia«)

Bestimmt habe ich mir diesen Absatz gemerkt, weil ich schon im Alter von 8 oder 9 allzu heißem Wetter nichts abgewinnen konnte. Ich erinnere mich, dass ich eine ziemliche »Wasserratte« war und mich im kühlen Schwimmbadwasser eher wohlfühlte als an Sandstränden, auf Liegewiesen oder glühenden Spielplätzen. Oft blieb ich auch im Sommer einfach drin (einige Jahre lang hatte ich ein riesiges Kinderzimmer im Keller unseres Mietshauses, das auch im Sommer wunderbar kühl blieb) und musste mir dann anhören, ich sei ein »Stubenhocker« und solle doch mal »an die frische Luft gehen«, dabei war die überhaupt nicht frisch. Erwachsene sagen auch nicht immer die Wahrheit, das wurde mir in den Sommern meiner Kindheit klar.

Ich muss einkaufen gehen, der Kühlschrank braucht neuen Content. Ich würde gern Fahrrad fahren, aber dann zerflösse ich endgültig. Ich schwitze relativ schnell, leider. Im Sommer gibt es für Menschen, die leicht schwitzen, eigentlich nur eine tragbare Klamottenfarbe: schwarz. Weiß geht gar nicht, das schmiegt sich in den nassgeschwitzten Zonen sofort eng an die Haut und man sieht das Epidemisrosa in klebrigen Inseln durchs trockene Textil schimmern. Farben wie Orange, Blau, Violett, Grün, Grau, Rot oder Rosa – abgesehen davon, dass mir die meisten davon nicht stehen – werden in den durchfeuchteten Transpirationszonen sofort markant abgedunkelt und man läuft mit weithin sichtbaren, tellergroßen Hitzeflecken unter den Armen, an Bauch und Rücken durch die Welt. Schwarz absorbiert die Feuchte, ändert dabei nur minimal die Farbe und lässt nichts durchscheinen. Nur nach längerer Anstrengung und anschließender Trocknung entstehen manchmal helle Streifen getrockneter Elektrolyte an einigen Stellen. Salzränder. Wie bei einem Margarita. Ein kleiner weiterer Nachteil: Schwarz wird in der Sonne noch eine Idee heißer als hellere Farben. Aber das ist irgendwann egal, genauso wie es egal ist, ob man sich an einer Tasse Tee mit 62 °C oder 65 °C die Zunge verbrennt.

Auf dem Weg durch die aufgeheizten Straßen fallen mir an mehreren Stellen auf dem Asphalt bei Lindenbäumen bemerkenswert große dunkle Flecken unter deren Baumkronen auf. Dass Linden im Sommer herumkleckern, ist mir geläufig, ich bewohnte 4 Jahre lang eine Wohnung, deren estrichbeschichteter Balkon unter einen Lindenbaum ragte. Dieser sorgte mit seinen Absonderungen im Sommer für ein pappiges Gehgefühl auf dem Balkonboden und versah alle dort abgestellten Dinge, wie etwa Klappstühle, mit einer klebrigen Glasur (als effektives Hausmittel zu deren Entfernung stellte sich übrigens, nach langen und ausführlichen Testreihen, ein Backofenspray mit dem Inhaltsstoff 2-Aminoethanol heraus). Aber in diesem Sommer scheinen die Linden geradezu vor Zuckersaft zu triefen, an manchen Stellen glänzte der Gehweg unter ihnen, die Schicht schien millimeterdick, als hätte jemand eine Flasche Sirup vergossen. Dank Internet lernte ich, dass Linden nicht selbsttätig tropfen, sondern dass die zuckerhaltigen Ausscheidungen einer auf Linden spezialisierten Läusepopulation dafür verantwortlich sind. Ist 2023 also ein Läusejahr? Es ist ja auch schon ein Orcajahr, und – wie mir letzte Woche an der Ostseeküste auffiel – offenbar auch ein Greifvogeljahr. Vielleicht sind manche vermeintlichen Häufungen aber auch nur gefühlt. In Zeiten des sich immer weiter manifestierenden Klimawandels mit seinen jährlich neu eskalierenden Anomalien guckt man womöglich ja auch genauer hin, hat feinere Antennen, eine geschärfte Aufmerksamkeit. Nicht normal ist das neue normal, man droht sich daran zu gewöhnen. Nicht schön.

Die Pflanzen auf den Grünstreifen neben Straße und Gehweg lassen welk Stängel und Blätter hängen. Mehr Vegetation in den Städten könne im Sommer an heißen Tagen die Temperatur merklich senken, liest man. Flächen sollten entsiegelt, von Beton und Asphalt befreit und üppig begrünt werden. Ich fände das wunderbar, allein optisch. Aber gleichzeitig vermelden die Nachrichten auch Dürren, Wassermangel und ausbleibende Niederschläge allerorten. Da kommt die Frage auf, ob und wie die zusätzlichen Stadtpflanzen in den dräuenden immer heißeren und trockeneren Jahren bewässert werden sollen, wenn die vorhandenen Gewächse derzeit schon dürsten.

Auch ich dehydriere allmählich auf meinem Weg. Ich hätte eine Wasserflasche mitnehmen sollen, bereits der mäßig weite Weg zum gewählten Supermarkt erweist sich als Durststrecke. Im Laden kaufe ich mir ergänzend zu den notierten Einkäufen ein isotonisches Sportgetränk. An heißen Sommertagen ist auch Gehen Sport.

Mit Blick aufs Thermometer ist es dieser Tage eigentlich noch gar nicht übermäßig heiß. 28 °C in Hamburg, sagt die Wetter-App. Der Hochsommer liegt noch vor uns, es könnten Tage mit 30, 34, 36 °C bevorstehen. Da fällt mir ein weiterer Textausschnitt ein, der mir im Kopf hängengeblieben ist – aus einer Satire des wunderbaren Ephraim Kishon:

Ich weiß nicht, auf welchem Breitengrad unsere Wohnung liegt. Es kann nicht sehr weit vom Äquator sein. Im Schlafzimmer haben wir 42 Grad gemessen, an der Nordwand unserer schattigen Küche 48 Grad. Um Mitternacht.
Seit den frühen Morgenstunden liege ich da, bäuchlings, die Gliedmaßen von mir gestreckt, wie ein verendendes Tier. Nur dass verendende Tiere kein weißes Schreibpapier vor sich haben, auf das sie etwas schreiben und mit ihrem Namen zeichnen sollen. Ich, leider, soll. Aber wie soll ich? Um den Kugelschreiber aufzuheben, müsste ich mich hinunterbeugen, in einem Winkel von 45° (45 Grad!), und dann würde der auf meinem Hinterkopf ruhende Eisbeutel zu Boden fallen, und das wäre das Ende.

(Ephraim Kishon: »Hitze«)

Meine Strategie gegen Hitze in der Wohnung – soweit die tageszeitlichen Schwankungen Außentemperatur das zulassen – ist, möglichst nur nachts zu lüften. Gegen Mitternacht reiße ich alle Fenster und Türen auf – außer der Wohnungstür natürlich – und lasse den linden Nachthauch durch meine Klause strömen. Morgens zwischen 7 und 8 wird dann wieder alles verrammelt, auf der Sonnenseite zuerst, auf der Schattenseite warte ich gern noch ein bisschen. Es gibt etliche Tipps und Tricks im Netz, wie sich eine sommerheiße Wohnung mit »Life Hacks« runtertemperieren lassen soll, viele davon nutzen das Prinzip der Verdunstungskühle. Man kann z.B. nasse Handtücher vor den Ventilator hängen und ihn dagegenblasen lassen. Das mag tatsächlich einen gewissen Temperaturabfall erzielen, aber ich frage mich, was passieren würde, wenn ich das den ganzen Tag und vielleicht auch nachts machte? Die viele Feuchtigkeit, die da verdunstet, bliebe ja in der Wohnung. Was nützte es mir, wenn ich vier, fünf Grad Abkühlung erziele, doch dafür wellten sich die Seiten meiner Bücher im Regal, die Tapete löste sich ab, Holzmöbel quöllen auf, Schimmel eroberte Winkel und Ecken? Ich bin ein bisschen skeptisch.

Letzte Nacht gab es ein Gewitter in Hamburg, das war schön. Endlich mal länger als nur drei Minuten Regen, der sich ansammelt, anstatt sofort zu verdampfen und die Luft lediglich in ein atembares Heißgetränk zu verwandeln. Die Kühle hielt bis in den Morgen hinein an, ich wertschätze das. Überhaupt fühlt sich Sommer tagsüber und nachts, selbst bei annähernd gleich warmer Luft, für mich komplett anders an, erst recht in einer großen Stadt wie Hamburg. Wenn die emsigen Geräusche des Tages verstummen, kaum noch Autos und Fußgänger unterwegs sind, die Sonne untergegangen ist, in der Nachbarschaft überall die dunklen oder noch beleuchteten Fenster und Balkontüren weit offenstehen, nur ab und zu ein Lufthauch das Laub der Straßenbäume zum Rascheln bringt oder die nächtliche Stille ab und zu von fern durch ein Martinshorn oder das Rumpeln einer Hochbahn durchbrochen wird, hat eine Stadt im Sommer eine ganz besondere Atmosphäre. Kupferfarbene Zeitlupe. Ein früher Song der Eurythmics ist für mich seit einer Reise nach Chicago, als ich einmal mitten in der Nacht in der Maihitze auf dem Hotelbalkon diese Nachtstimmung einsog, deren perfekte musikalische Inkarnation:

Vorhin hatte ich ja gemutmaßt, meine persönliche Temperaturpräferenz könne mit der Jahreszeit meiner Geburt korrelieren. Aber in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es auch Gegenbeispiele. Eine ehemalige Kollegin, der es im Sommer nie warm genug sein konnte und die quasi gleich nach der ersten sonnigen Mittagspause eines Jahres braungebrannt wieder zurück ins Büro kam, hat Anfang Januar Geburtstag. Ein anderer Freund, der den Sommer und die Hitze liebt, ist im Mai geboren. Ein Kollege, der kurz oberhalb normaler Zimmertemperatur zu zerfließen beginnt, erblickte das Licht der Welt Anfang Juni. Kann also nicht sein. Sind es die Gene? Ist die Darmflora schuld? Gerne läse ich dazu von Indizien und weiteren Vermutungen in den Kommentaren. Von Max Goldt gibt es einen Text, der den Missmut der Thermophoben über alle Sternzeichen hinweg ganz gut in Worte fasst:

Viele Menschen hassen den Sommer. Doch niemand ist verpönter als einer, der den Mut besitzt, sich und andern einzugestehen, dass er dem Sommer nicht nur für sich persönlich keine gute Seite abgewinnen kann, sondern ihn regelrecht hasst und ihm den Vorwurf macht, an Übellaunigkeit und Antriebsschwäche schuld zu sein.
Dabei hat auch der Sommer durchaus schöne Tage, an denen es nur 15 Grad hat, ein freundlicher Wind die Windjacken wölbt und der Himmel die durstige Schöpfung labt. Doch dann wird gemault und gejammert, und die Medien überbieten einander mit langweiligen, leutseligen Wetterbedauerungen.
Doch freilich sind’s die heißen Tage, die uns Sommerverächtern am meisten auf die Nerven gehen. Sofort reißen sich die Leute die Kleider vom Leibe und finden es offenbar völlig normal, in Unterwäsche Kunden zu bedienen, Kinder zu unterrichten oder Kirchen zu besichtigen.

(Max Goldt: »Der Sommerverächter«)

Die steigenden Temperaturen führen auch dazu, dass ich eine Abneigung entwickele, Wärme absondernde Haushaltsgeräte in Betrieb zu nehmen. Gern äße ich eine Scheibe Toast zum Frühstück, aber die glühenden Drähte im Brotschacht knuspern ja nicht bloß die Brotscheibe rösch, sondern heizen daneben auch die Küche mit auf. Pinienkerne für Pesto im Backofen rösten? Inakzeptabel. Irgendwas auf einer Herdplatte kochen oder braten? Abwegig. Staubsaugen und sich die Abwärme in die Bude föhnen lassen? Schauderhaft. Den Geschirrspüler einschalten und beim Öffnen der Klappe, selbst nach Stunden noch, von einem warmen Dunstschwall umfangen werden? Unerquicklich. Gibt es schon den Begriff »Sommerverwahrlosung«?

Aber ich will auch nicht nur klagen, der Sommer hat schließlich immer noch auch ein paar schönen Seiten, trotz Klimawandel. Es gibt lecker heimisches frisches Obst und viel saisonales Gemüse, es blüht und grünt überall (sofern genug Regen fiel), man kann Eis essen und baden gehen, picknicken und im Schatten einer Kastanie im Biergarten oder auf dem Balkon sitzen. Aber manchmal habe ich das Gefühl, wenn ich über den Sommer klage, wird es für die Dauer meiner Tirade ein kleines bisschen kühler. Vielleicht senken ja nicht nur nasse Handtücher vor dem Ventilator die Temperatur in der Wohnung, sondern auch ein bisschen Hitzejammern.


Wie kommt Ihr mit Hitzetagen klar? Was glaubt Ihr, wodurch Eure Präferenz geprägt wurde? Was sind Eure »Life-Hacks«, wenn Ihr Linderung sucht? Welche Texte oder Musikstücke assoziiert Ihr mit extrem heißen Tagen? Ich freue mich über Kommentare.

Eine Woche in Stralsund

Seit einigen Jahren hat sich in der jährlichen Reiseplanung des hiesigen »Haushalts« eine schöne Gepflogenheit herausgebildet: Schon seit 2016 zog es uns bisweilen Anfang/Mitte Juni nach Stralsund, um einzelnen Konzerten der »Greifswalder Bachwoche« beizuwohnen (Mit übrigens wirklich interessanten Ideen abseits des klassischen Mainstreams, in diesem Jahr z.B. ein Konzert mit Synthesizer und Theremin in einer Dorfkirche [S. 29 im PDF des Programmhefts] und eine Aufführung mit Breakdance zu Bachs »Wohltemperiertem Klavier« [S. 55 im PDF des Programmhefts]! Beides passte aber leider nicht mehr in die diesjährige Unternehmungsplanung.). Nachdem der Mann und ich im Juni 2019 dann hier in der Nähe auf einem Aussichtsturm standesamtlich geheiratet haben, kommen wir nach Möglichkeit jedes Jahr her, um neben dem Musikgenuss diesen Jahrestag zu feiern – und Geburtstag hat der Mann einen Tag zuvor auch noch.

Dieses Jahr war es wieder soweit. Eine Woche Stralsund bei schönem, wenn auch für die Natur deutlich zu trockenen Wetter und viel Zeit für Wanderungen, Ausflüge und Schlemmereien in der Umgebung der Hansestadt und auf Rügen.

Am Samstag reisten wir an und holten abends noch die vorher reservierten Fahrräder ab. Das Rad ist zu dieser Jahreszeit und angesichts vieler sehr gut ausgebauter Radrouten in der Gegend die absolut beste Art, sich fortzubewegen. Am Abend machten wir dann nur einen kleinen Ausflug an den Hafen, um dort – nach einem Bier-Aperitif im Braugasthaus »Dolden Mädel« – im italienischen Restaurant »Bellini« das Abendessen zu genießen. Ich freute mich, als ich eine Vorspeise, die ich noch aus dem letzten Jahr kannte, immer noch auf der Karte wiederfand: eine Cremige kühle Burrata mit einem warmen Cherrytomaten-Vanille-Ragout. Das hatte mir 2022 so gut geschmeckt, dass ich schon letztes Jahr das Gericht in »Kitchen Impossible«-Manier versucht habe, daheim nachzukochen. Sehr gelungen, wie ich finde, das Rezept steht auch hier im Blog.

Am Sonntag nach dem späten Frühstück holten wir unsere damalige Trauzeugin vom Bahnhof in Stralsund ab, sie ist Musikerin und sollte am Montag das Eröffnungskonzert der Bachwoche spielen. Nachmittags, während sie noch einmal fleißig übte, machten wir zu zweit eine kleine lokale Wanderung (mit einigen Sackgassen, die im Widerspruch zum Wegenetz der zuvor geplanten Komoot-Wanderroute standen) und probierten am Abend gemeinsam das im Netz zwar gut bewertete, aber im Vergleich mit bisher erlebten Highlights eher durchschnittliche orientalische Lokal »Shammaas Küche« aus. Schmeckte alles gut, aber reichte nicht an z.B. Shady (Leipzig), Qadmous (Berlin) oder Fardi (Hamburg) heran.

Am Montag musste ich vormittags einige Stunden im »Ostsee-Homeoffice« arbeiten, während sich am frühen Nachmittag Künstlerin und Mann schon zum Konzertort aufmachten. Ich fuhr, nach einigen Besorgungen in der Stralsunder Innenstadt, mit dem Zug hinterher (»Praise the Lord for the 49-Euro-Ticket!«) um ebenfalls das zarte, schöne Konzert zu genießen. Nach dem Konzert und der Rückfahrt in die Unterkunft, eine hübsche private Ferienwohnung nahe am Wasser des Sunds, ließen wir uns dann abends zu dritt Bier und Dinner im »Dolden Mädel« schmecken.

Am Dienstag mussten wir uns schon wieder von der Musikerfreundin verabschieden (Termine, Termine …). Für den Nachmittag war dann tatsächlich mal wieder eine etwas längere Wanderung (Komoot-Link) angesetzt: Vom Parkplatz der Rügener Insel-Brauerei (nicht ohne Hintergedanke der Ausgangspunkt der Tour) wanderten wir im Bogen über den kleinen Ort Grabitz bis an die Küste zum Kubitzer Bodden und im Bogen wieder zurück zur Brauerei, wo uns eine hopfige Erfrischung belohnte. Aus Geburtstagsgründen war die Einkehr zum Abendessen heute deutlich feiner: im Restaurant »Zum Scheele« des Stralsunder Hotels Scheelehof genossen wir köstliche »Sterneküche ohne Sterne«, denn der Koch des Lokals hat dem Stress der Verteidigung seiner früheren Sterne entsagt und kocht nun einfach genausogut und ohne diese Auszeichnung weiter. So schmeckt Work-Life-Balance!

Am Mittwoch wollten wir dann mal die Räder so richtig ausnutzen und so plante der Mann eine Tour, die wir im Sattel sitzend zurücklegen konnten. Es begann am Stralsunder Fährhafen, von wo wir mit den Rädern nach Altefähr auf Rügen übersetzten und dann ab dort einer schönen 28 km langen Rundroute folgten (Komoot-Link). Nach einer Zwischenstation bei der Insel-Brauerei (schon wieder!), wo im benachbarten Hofladen frischer Räucherfisch fürs Abendessen – das heute mal in der Unterkunft serviert werden sollte – besorgt wurde, radelten wir weiter, vervollständigten die Verpflegung mit Möhren und Ingwer für eine asiatisch aromatisierte Gemüsebeilage und machten es uns den Rest des Abends dann »inhouse« gemütlich. (Seit der Ankunft hier war eine abendliche Folge »Picard« täglicher Teil des Abendprogramms; die dritte Staffel hat m.E. gegenüber den ersten beiden deutlich an Spannung und Tempo zugelegt und bietet erhebliches Binge-Potenzial.)

Update: Ich hatte ganz vergessen, dass wir es am Mittwoch morgen wagten, am nahegelegenen Sund-Badestrand das »Anbaden 2023« zu vollziehen. Das Wasser war frisch, nicht zu kalt und wenn man erst einmal drin und abgekühlt war, fühlte es sich sehr angenehm an. Das Gefälle ins Meer hinein ist an diesem Stand sehr moderat, so dass man noch gut 100 m vom Strand entfernt gerade mal hüfthoch im Wasser steht. Als ich mit Schwimmbewegungen begann, spürte ich zwischen den Fingern plötzlich kleine götterspeisige Klümpchen hindurchgleiten und als ich mich aufrichtete und von oben ins Wasser sah, bemerkte ich Hunderte kleiner, etwa walnussgroßer Quallen mit dünnem violettem Ornament auf der Oberseite, die im Wasser umherschwammen. Da sie aber offensichtlich nicht nesselten, denn bei einer Berührung war nichts zu spüren, schwamm ich einfach weiter umher. Interessanterweise waren sie dann am Donnerstag und Freitag wieder komplett aus dieser Badezone verschwunden.

Der heute etwas kürzere Ausflug am Donnerstag Nachmittag führte zur Südspitze der Insel Rügen, dem »Palmer Ort« in der Nähe des Ortes Zudar. Auf sandigem Grund und durch von Kiefern dominierte Wälder ging der Hinweg, am kiesigen Strand der fast brandungslosen Küste entlang, lag dann der Rückweg (Komoot-Link). Während der Wanderung kam, nach einer eher bewölkten ersten Tageshälfte, die Sonne noch einmal überraschend zum Vorschein, so dass wir streckenweise möglichst im Schatten der Bäume zu bleiben versuchten. Sonnenwärme macht bekanntlich durstig, und so musste natürlich die Insel-Brauerei nochmals als Erfrischungsort herhalten. Nach der Rückfahrt stiegen wir um aufs Rad und fuhren zum Hafenlokal »Fischermänns«, wo die Wahl zum Abendessen auf eine Portion »Fish & Chips« und eine sehr schmackhafte Currywurst fiel. Schon auf dem Hinweg zum Restaurant spürte ich einige vereinzelte Regentropfen auf meiner Haut und tatsächlich sah man auf dem Regenradar – endlich einmal! – ein mäßig großes Regengebiet heranziehen. Die Rückfahrt vom Lokal zur Unterkunft verlief noch annähernd trocken bei ganz leichtem Tröpfeln, aber später »zu Hause« war deutlich das Klopfen des Regens auf den Fensterscheiben zu hören. Die Natur brauchte es dringend, von mir aus hätte es die Nacht durchregnen können.

Am Freitag war während der Wandertour ein eingebettetes Bad im Meer nach etwa 2/3 der Strecke vorgesehen. Während der Stralsund-Tour vor einem Jahr hatten wir in der Nähe des Ortes Lauterbach mitten im Wald am Meeresufer einen wunderschönen kleinen, feinsandigen, versteckten Badestrand entdeckt. Bei dem schönen Wetter heute schrie das förmlich nach einer Wiederholung. Also wurden Badehosen und Handtücher in den Rucksack gepackt und los ging’s. Der Weg durch den Wald war fast noch schöner als im letzten Jahr, man merkte, dass die letzten Monate mit mehr Niederschlag als 2022 gesegnet waren, Bäume und Vegetation am Waldboden waren üppiger und grüner. Doch als wir an dem Strändchen ankamen, war die Enttäuschung groß: Das Wasser und der Strand waren voll mit glitschigen braunen Algen, der komplette Gegensatz zum klaren sauberen Zustand von vor einem Jahr. Dort, wo sich die Algen in dicker Schicht an Land türmten, waren sie bereits in Fäulnis übergegangen und stanken, im Wasser waberten sie auf einem ca. 75 m breiten Streifen im Wasser, man konnte dazwischen kaum auf den Grund sehen. Sehr schade! Die Badepause musste somit entfallen und wir setzten unseren Rundweg weiter bis zum Ausgangspunkt fort.

Nach dem obligatorischen »Bierstopp« an der Inselbrauerei fuhren wir zurück zur Unterkunft, wechselten zur Badehose, stiegen aufs Rad und holten das Bad im Meer einfach an der algen- und quallenlosen Badestelle quasi vor der Haustür nach. Dann kurz zurück, geduscht, stadtfein gemacht und zum »Abschiedsessen« an den Bootshafen geradelt. Ziel heute: das feine Restaurant »Lara« direkt gegenüber dem Ozeaneum. Die Speisekarte ist frisch und regional und wird so spontan nach Marktlage erstellt, dass sie nicht im Internet einsehbar ist. Enttäuscht wurden wir dort aber bislang noch nie – und so war es auch diesmal. Nach einem Körbchen mit hausgebackenem Brot und einigen kross frittierten Blumenkohlnuggets mit einem Klecks fein gewürzter Mayonnaise als Küchengruß genoss ich als Vorspeise gebratete Jakobsmuscheln auf Mandel-Knoblauch-Schaum mit marinierten Pfirsichstückchen und als Hauptgericht ein zart-rustikales gebratenes Kotelett vom Duroc-Schwein mit Chorizo-Kartoffelstampf und grünen Bohnen. Als der Kellner abräumte und fragte, ob es geschmeckt habe, antwortete ich »Duroc’n’Roll!« und man sah ihm an, wie sehr ihm dieses Lob gefiel.

Zurück in der Unterkunft musste dann vor der abendlichen »Hygge« noch die Abfahrt am Samstag vorbereitet werden: Aufräumen, zusammensuchen, sortieren, einpacken. Bei einem Glas Wein streamte dann vor dem Schlafengehen noch eine (die vorletzte!) Folge »Picard«, dann war der letzte Tag vorüber. Morgen früh um 10 Uhr folgt erstmal die Rückreise nach Berlin und am Montag für mich dann die Heimkehr nach Hamburg.

Mach’s gut, Stralsund, bis nächstes Jahr!