Monat: Oktober 2022

Herr Doktor, ich hab’ Hybris!

Vorhin telefonierte ich mit einem Kollegen und meldete mich dabei für eine kurze Abwesenheit ab, um in einem Sanitätshaus ein Rezept meines Orthopäden für temporäre Schuheinlagen einzulösen. Grund: gelegentliche lokale Beschwerden am Fuß während längeren Gehens, kann man behandeln, geht wieder weg. Er habe auch seit einiger Zeit morgens beim Aufstehen so seltsame Symptome am Fuß, berichtete der etwa gleichaltrige Kollege. »Du«, sagte ich, »ich habe eine unbequeme Wahrheit für Dich: Das ist vermutlich das Alter.« – »Hör bloß auf!« winkte er ab.

Dann fiel mir als nächstes ein Posting auf Twitter ins Auge: »Sarah von den Sarggeschichten«, die sich als Bestatterin beruflich, auch durch erklärende Kommunikation, mit dem Thema Tod beschäftigt, fragte: »(…) Du wird 1400 geboren, moderne Medizin gibt es noch nicht. Alles was deinem Körper in deinem Leben hier passiert ist, passiert Dir auch in 1400. Wie lange lebst Du und woran stirbst Du? Bei mir wäre es wohl der Blinddarm mit 13 gewesen.«

Inzwischen gibt es mehrere tausend Antworten auf den Tweet und sehr viele der Verfasser geben an, ohne moderne Diagnostik und Medizin sehr wahrscheinlich ihr heutiges Lebensalter nicht erreicht zu haben. Nicht wenige berichten sogar schon von Behandlungen kurz nach der Geburt, in der Kindheit oder Jugend.

Wenn ich diese Frage beantworte, kann ich mindestens fünf Gelegenheiten aufzählen, bei denen mich der Sensenmann ohne rechtzeitige Behandlung bereits jedesmal hätte abholen können: eine akute Blinddarmentzündung (etwa mit 15), eine Hodentorsion (mit ca. 17), ein gutartiger »mesenchymaler Tumor« im Oberschenkel, der jedoch unbehandelt durchaus Entartungspotenzial hat (mit 45), ein sich plötzlich mit rasenden Koliken manifestierender Nierenstein (mit 49) und schließlich – bislang erfolgreich per OP und Rezidiv-Bestrahlung behandelter – Prostatakrebs (mit 52). Dazu kommen noch einige »Glücksfälle« nichtmedizinischer Art, bei denen ich einfach großes Glück hatte, dass mir bei Stürzen, Unfällen und Ähnlichem nicht das passiert ist, was im schlimmsten Fall hätte passieren können – meine Beerdigung.

Wenn man das den Taten und Äußerungen etlicher Menschen gegenüberstellt, die sich im Internet abfällig über Krankheit, Tod, Behinderung, Unfallschäden, Immunsuppression und die davon betroffenen Personen äußern, muss man zwangsläufig vier Schlussfolgerungen ziehen:

  • Erstens scheint es eine ganze Menge Menschen zu geben, die in ihrem Leben noch niemals ernsthaft krank gewesen sind.
  • Zweitens scheinen diese Leute zu glauben, ihre beständige Gesundheit sei so etwas wie ein Zeitschriftenabonnement, das so lange geliefert wird, bis sie es persönlich abbestellen.
  • Drittens denken vermutlich ebenso viele, ihr womöglich bewusst »gesunder Lebenswandel« ohne Zigaretten, Alkohol, mit gesunder Ernährung, viel Sport etc. würde sie auch in ihrem künftigen Leben vor jeglicher Erkrankung bewahren.
  • Und viertens scheint dieses Geschenk der stabilen Gesundheit (denn es ist kein Verdienst, sondern eine Mischung aus Zufall und Glück) bei einer reichlich großen Gruppe nicht zu sowas wie Dankbarkeit oder Demut zu führen, sondern zu Hochmut und Arroganz.

Ich selbst bin dankbar dafür, erkrankt gewesen und wieder gesund geworden zu sein. Ich merke, dass mich das wertschätzender gegenüber dem Leben an sich macht und auch mitfühlender gegenüber Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft krank bzw. behandlungsbedürftig sind. Ich merke auch, dass das Alter (hier schließe ich wieder den Kreis zum oben erwähnten Telefonat mit dem Kollegen) nach mehreren glücklich überwundenen, riskanten Diagnosen etwas von seinem Schrecken verliert. Denn die einzige Alternative zum Altwerden ist leider, jünger zu sterben. Und deshalb ist älter werden nach jeder gut überstandenen Erkrankung eigentlich die Belohnung für den Behandlungserfolg. Vielleicht können nur dauerhaft Gesunde lautstark das Altern beklagen, denn es ist das Einzige, was sie zu beklagen haben. Frohlocken sollten sie. Aber, ach.

Was ebenfalls auffällt, ist, dass viele derjenigen, die vom Turm ihres gesegneten Wohlbefindens herunter die Kranken und Leidenden schmähen oder missachten, dem konservativen, neoliberalen und gerne auch neurechten Spektrum zuzuordnen sind. Fast schon salonfähig scheint die Floskel vom »gesunden Immunsystem«, dem Mikroben aller Art nichts anhaben können, im schlimmsten Fall predigen Unbelehrbare gar vom »Volkskörper«, dessen schwache Glieder zu entfernen seien.

»Sie ahnten nichts …«, würde eine unheilvoll sonore Stimme in einer Reality-Crime-Doku nun raunen. Denn auch der Mietvertrag im Gesundheitsturm kann vom Leben und dem Zufall jederzeit gekündigt werden. Es kann auch dich treffen, als Selbstoptimierer, Kraftstrotzer, Leistungsträger, Erfolgsmensch oder Rechtsaußenflirter jeden Geschlechts – egal, wie viele grüne Smoothies oder Vitamintabletten du dir eingeworfen hast, ob du viermal die Woche ins Fitnessstudio gehst oder Oma und Uropa fast hundert Jahre alt geworden sind. Ein Spalt in deiner Maske (so du sie trägst), während du im Supermarkt neben einer Person mit Grippe oder COVID-19 anstehst. Ein zufälliger Schreibfehler bei der Replikation deiner DNA während der Zellteilung, der zu einer bösartigen Mutation führt. Ein ungünstiger Aufprall bei einem Sturz. Eine infizierte Wunde. Ein Verkehrsunfall, ganz ohne eigene Schuld. Infektiöse Keime im Essen oder unbemerkte Giftstoffe in der Umwelt, in deiner Wohnung oder am Arbeitsplatz. Eine genetische Veranlagung, von der du nichts ahnst. Ein Aneurysma vielleicht. Du magst dich sicher fühlen, gesegnet, auserwählt, gefeit. Aber du bist es keineswegs. Dein Immunsystem ist nicht allmächtig, dein Körper nicht unverwundbar, der Zufall liebt dich nicht für immer. Und plötzlich stehst du unten am Fuß des Turms, brauchst eine langwierige Therapie mit eventuell unklarer Prognose oder siehst dich mit lebenslangen Folgen konfrontiert, und die Gesunden, Starken lachen auf dich herunter, verweigern dir die Behandlung, wollen dich als lästigen, mitgeschleppten Ballast zurücklassen, sprechen dir dein Recht auf Gesundheit oder ein Leben ohne Schmerzen ab. Selber schuld, werden sie sagen. »Stimmt nicht!«, möchtest du dann zurückrufen, ich bin doch einer von euch. Aber niemand von denen hört dir mehr zu.

Gesundheit ist ein Geschenk. Krankheit ist weder Schuld noch Strafe.
Und Älterwerden allein ist eigentlich gar nicht so schlimm.
 

Gesund geblieben? Schwein gehabt!

Destatis »Datenreport 2021«, Kapitel 9: Gesundheit – Gesundheitszustand der Bevölkerung

Wildsuppe mit dunkler Einbrenne nach Art von »Omas Ochsenschwanzsuppe«

Über das kürzliche lange Wochenende war ich gleich zweimal zu Gast im »Wirtshaus im Gut« in Wunsiedel und genoss dort als Vorspeise eine hervorragende Wildsuppe. Ich habe versucht, die Zutaten und die Zubereitung zu erschmecken, um zu versuchen, sie zu Hause nachzukochen. Heute hatte ich die Muße und Lust dazu, habe morgens auf dem Wochenmarkt und im Supermarkt alles Notwendige besorgt – und das Ergebnis kommt dem Original wunderbar nahe. Vom Aufwand und den feinen Zutaten her (die Pilzeinlage ist ein von mir hinzugefügtes Extra) ist es ein wahres Sonntagsessen – aber es lohnt sich.

Zutaten (für 3–4 Teller)

300 g Wildgulasch (z.B. Reh oder Wildschwein)
1 große Karotte*
1 mittelgroße Zwiebel
1 kleine Stange Lauch*
1 etwa mandarinengroßes Stück Knollensellerie*
3 EL Tomatenmark
200 ml Rotwein
1200 ml Wildfond aus dem Glas
1 Handvoll frische oder tiefgekühlte Waldpilze (z.B. Pfifferlinge oder Steinpilze)
neutrales Öl zum Braten und Gemüse-Rösten (z.B. Rapsöl)
4 schwarze Pfefferkörner
8 Pimentkörner
6 ganze Gewürznelken
1 Lorbeerblatt
Salz
Pfeffer aus der Mühle
60 ml Madeira oder Sherry
50 g Mehl
35 g Butter
1 El Balsamico
2–3 Zweige Petersilie*

(* = kann man auch im Bundle als Suppengrün kaufen)

Zubereitung (alles in allem dauert sie ca. 2½–3 Stunden)

Das Gemüse putzen und in ca. würfelzuckergroße Stücke schneiden. Mit etwas Öl vermengen, einlagig auf einem mit Backpapier belegten Blech verteilen und im vorgeheizten Backofen bei 220 °C etwa 20–30 Minuten anrösten, bis es deutliche dunkelbraune Stellen bekommt.

Derweil die Pilze putzen und fein würfeln. In einem großen Suppentopf mit etwas Öl oder Butter kurz anschmoren, rausnehmen und beiseitestellen. Ggf. Öl nachgießen und die Wildgulaschstücke im selben Topf scharf von allen Seiten braun anbraten. Ebenfalls herausnehmen und beiseitestellen.

Nochmals ggf. Öl nachgießen und das geröstete Gemüse in den Suppentopf geben. Mit dem Tomatenmark unter Rühren anrösten und mit dem Rotwein ablöschen. Hitze reduzieren und den Rotwein fast völlig einkochen lassen. Das gebratene Fleisch zugeben, mit dem Wildfond aufgießen und die Gewürze zugeben. Mit geschlossenem Deckel 45 Minuten leicht vor sich hin köcheln lassen, dann nochmal 15 Minuten mit geöffnetem Deckel simmernd einkochen lassen.

Das Fleisch aus der Suppe herauslesen und beiseitestellen. Die Suppe durch ein feines Sieb in einen kleineren Suppentopf gießen und das getränkte Gemüse im Sieb gut ausdrücken – es hat damit seine Schuldigkeit getan und kann in den Bioabfall.

In einem trockenen kleinen Topf bei mittelstarker Hitze das Mehl trocken unter ständigem Rühren erhitzen, bis es goldbraun wird (nicht anbrennen lassen!). Die Butter zugeben und unterrühren, bis eine streuselartige, aber homogene Masse entsteht. Zwei Kellen der durchgesiebten Suppe zugeben und mit einem Schneebesen glattrühren. Die entstandene Mehlschwitze zum Rest der Suppe zurückgießen und alles unter Rühren mit dem Schneebesen nochmals einige Minuten leicht aufkochen lassen. Den Sherry/Madeira zugeben und mit Salz, Pfeffer und Balsamico würzig abschmecken.

Das gekochte Wildfleisch in kleine Stücke schneiden, zusammen mit den angeschmorten Pilzen und der kleingehackten Petersilie in die heiße Suppe geben und unterrühren.

Hier der Link zum Rezept, das ich als Basis für meine Anpassung genommen habe

Da capo

Es ist Donnerstag, der 29. September. Ich sitze im ICE 587 auf der Strecke Hamburg – Nürnberg, um nach Umstieg und Weiterfahrt ein langes Wochenende über den 3. Oktober mit dem Mann im Fichtelgebirge zu verbringen. Mein DB-Reiseplan gewährt mir 10 Minuten Umsteigezeit in Nürnberg in den RE-Anschlusszug, aber ich weiß bereits jetzt, dass das nicht klappen wird, denn der ICE muss aufgrund einer technischen Störung in der Zugkoppelung langsamer fahren als geplant und daher hat er bereits 15 Minuten Verspätung. Ich bin ohne Groll, denn weitere Anschlusszüge ab Nürnberg fahren regelmäßig.

Wir erreichen den vorletzten Zwischenhalt Würzburg. Kurz nach der Weiterfahrt – ich kann aus dem Fenster den Bahnsteig und das Stationsschild des Ortsbahnhofs Rottendorf sehen – bleibt der Zug plötzlich stehen. Einige Minuten vergehen, dann erfolgt die Durchsage, dass auf der vor uns liegenden Strecke »Sicherheitsbedenken« für eine Weiterfahrt bestehen. Der ICE müsse ab hier eine Umleitungsstrecke nehmen und es käme zu einer weiteren Verzögerung von 40 bis 50 Minuten. Auch das nehme ich als regelmäßiger Bahnfahrer eher gleichmütig zur Kenntnis, als ein anderer Fahrgast nahebei zum Handy greift und mit deutlich im ganzen Wagen vernehmbarer Stimme zu telefonieren beginnt. Ich gebe den Inhalt des Telefonats aus dem Gedächtnis wieder und er wird daher zwangsläufig nicht 100% korrekt sein, aber darum geht es auch gar nicht, sondern um das Muster innerhalb seines Telefon-»Monologs«. Ich habe schon öfter bemerkt, dass einige Menschen dazu neigen, nach erfolgter Übermittlung ihrer Gesprächsbotschaft diese nochmals und nochmals mit leicht variierten Formulierungen zu wiederholen und ich frage mich, wieso die das machen. Man könnte mutmaßen, das Gegenüber bei dem nachfolgenden Telefonat sei hochbetagt und/oder vielleicht schwerhörig, vielleicht nicht mehr im Besitz der vollen geistigen Kapazitäten, aber ich war auch schon »Live-Zeuge« solcher da-capo-Monologe, bei denen der oder die Zuhörer*innen im besten Alter und geistig absolut rege schienen.

Es bleibt mir ein Rätsel.

»Hallo? Ja, ich bin’s. Du … ich bin hier im Zug nach Nürnberg und wir stehen gerade … Ja, ich weiß auch nicht, wieso. Ich wollte nur bescheid sagen, dass ich mich dann heute nicht mehr melde. Ich fahre direkt nach Hause. … Keine Ahnung, wie lange das dauert und wann ich dann ankomme. Ja … nee, das kann spät werden. Ok? … Ja, wie stehen hier immer noch. Eine Durchsage, wann es weitergeht, gab es noch nicht. … Hm … Ja, okay? Ich melde mich dann heute nicht mehr. Wisst Ihr Bescheid. … Ja.«

(Der Zug setzt sich auf einmal nach einer kurzen Durchsage des Zugchefs wieder in Bewegung)

»Ah, wir fahren wieder. Bis eben standen wir ja, aber jetzt fahren wir wieder. ›Und sie bewegt sich doch!‹, könnte man sagen, haha! Ja, jetzt fahren wir weiter. Aber ich komme wohl trotzdem dann erst spät abends an, heute. Wir hatten ja schon eine Viertelstunde Verspätung, das wird jetzt also noch später. … Ja. … Ich rufe dann nachher nicht mehr an, ne? Wer weiß, wann ich dann zu Hause bin. Sonst hätte ich mich ja nochmal gemeldet, aber so wird das dann zu spät. … Weißte Bescheid, ne? Das kann ja noch dauern hier, die Umleitung geht über Schweinfurt. Eine Stunde kommt dann ja bestimmt noch dazu. Und dann muss ich ja noch weiter bis nach Hause. … Ja. … Das wird bestimmt zehn oder später, da rufe ich dann lieber nicht mehr an, das ist ja dann auch für Euch zu spät. Ja. Wir fahren jetzt eine Umleitung über Schweinfurt weiter bis Nürnberg, eben gab es eine Durchsage. Nee, das macht keinen Sinn. Ich kann ja so spät nicht mehr anrufen. Wollte ich nur kurz Bescheid sagen, damit Ihr Euch nicht wundert. Ich bin ja dann erst weiß Gott wann zu Hause. … Nee. Ja … mal sehen, wann wir dann endlich ankommen. Aber zu spät ist das dann auf jeden Fall. … Gut. … Weißte Bescheid, ne? Nicht, dass Ihr wartet, dass ich noch anrufe. Wir sprechen dann später. … Ja. … Okay. Na, zumindest fahren wir wieder. Alles klar. … Also, nicht wundern. Ich fahre dann nach Hause und melde mich dann morgen. … Ja. … Okay, gut. Dann tschüs.«

Wir wollen mal hoffen, dass die Botschaft angekommen ist und verstanden wurde. Er hat dann übrigens abends nicht mehr angerufen. Es war ja auch schon ziemlich spät.