Kategorie: Von der Tageskarte

Kaum passiert, schon gebloggt

Bricks

Neulich hatte ich am Vorabend einer längeren Zugreise zu Hause brav erst ein Backup meines iPhone 12 mini gemacht, sodann ein Update aller zu aktualisierenden Apps und anschließend nochmals ein Backup. So sah ich mich zusätzlich zum mitgeführten Gepäck und Proviant gut vorbereitet auf meine Fahrt.

Als ich schon in der U-Bahn saß, fiel mir noch ein, dass ich die in der Wohnung installierte IP-Kamera während meiner Abwesenheit einschalten könnte und rief die dazugehörige App auf dem Handy auf. Und just als ich den kleinen virtuellen Schalter zur Aktivierung der Kamera berührte, wurde mein Display schwarz. Ich tippte darauf. Nichts. Ich wischte nach oben, nach unten und zur Seite. Stumm und dunkel. Ich drückte die einzigen verfügbaren mechanischen Tipptasten an der Seite des Geräts – einzeln, gemeinsam, sowohl länger als auch kürzer. Keine Reaktion. »Aah-ja.«, hörte ich eine Loriot-Stimme in meinem Kopf sagen. Ich war jetzt nicht unbedingt panisch, obwohl mein Bahnticket auf dem Handy gespeichert war, denn ich könnte die Buchungsbestätigung und somit das Ticket auch noch auf dem eingesteckten Klapprechner abrufen und konnte unterwegs zur Not auch von selbigem Nachrichten und Mails versenden oder ein Telefonat führen, aber doof war das schon irgendwie.

Es war aber garnicht mal der ungelegene Zeitpunkt dieser Dysfunktion, der mich wurmte, sondern die »Kategorie« dieses Defekts. Wenn ein Gerät, das nahezu frei von mechanisch-haptischen Bedienelementen ist, ein fast komplett verkapseltes, nahezu nahtloses Gehäuse besitzt, ähnlich dem Monolithen in Kubricks »2001«, einen derartigen kompletten Funktionskollaps erleidet, lässt einen dies auf eine andere Art hilflos zurück wie beispielsweise eine Autopanne oder ein kaputter Toaster, finde ich.

Meine erste Begegnung mit dieser Art von Funktionsverweigerung hatte ich mit meinem ersten CD-Autoradio. Ich hatte es als ersten Preis bei einem Designwettbewerb im Auftrag der Firma Blaupunkt an meiner Hochschule gewonnen. Wir sollten frei und ohne gestalterische Vorgaben die Vorder- und Rückseite einer sogenannten »KeyCard« gestalten, mit der sich das Gerät vor Diebstahl schützen ließ, denn es funktionierte nur, wenn diese Karte zuvor in einen Slot des Radios eingesteckt wurde. Damals befand sich auch die Ära der »Telefonkarten« auf ihrem Höhepunkt, mit denen man bargeldlos(!) in Telefonzellen(!!) Anrufe tätigen konnte und so war auch die KeyCard ein durchaus hippes Accessoire und mein Entwurf sollte in limitierter Auflage real in Serie gehen. Ich war natürlich stolz wie Bolle, sowohl über diesen frühen »Ruhm« als auch über die elektronische Prämie für meinen kleinen Mexiko-Käfer. Doch nach einigen Jahren begann das Gerät zu meutern. Es weigerte sich immer häufiger, die in den Schlitz auf der Vorderseite des Radios geschobenen CDs nach dem Hörgenuss wieder auszuwerfen. Vermutlich gab es im Inneren eine oder mehrere Gummiwalzen, welche die Disc ein- und auswärts beförderten und diese waren nun abgenutzt oder mit reibungsmindernden Ablagerungen verschmutzt, was auch immer. Die CDs blieben immer häufiger drin und kamen anfangs nur nach längerem Verweilen beim der nächsten Autofahrt heraus, dann irgendwann immer seltener. Kein Stakkatotippen auf der Auswurftaste half, kein Gegenboxen oder Rütteln. Zwar gab es neben dem CD-Schlitz auch damals schon ein winziges Loch, in das sich zwecks mechanisch initiiertem Auswurf eine aufgebogene Büroklammer oder ähnliche dünne und stabile Hilfsmittel einführen ließen, aber die hatte ich erstens anfänglich natürlich nicht so ohne weiteres dabei und zweitens war auch diese »Lösung« weder in der Anwendung noch ihrer Wirkung sonderlich hilfreich. Ich hatte einen »Brick« im Auto.

Natürlich baute ich das Teil aus und prüfte, ob es irgendwelche Optionen gab, das Gehäuse zu öffnen, um wenigstens sehen zu können, was kaputt war, ungeachtet der Möglichkeit, dies selbst beheben zu können. Aber die gab es nicht. Ich probierte dann noch einmal, nach erfolgreichem Auswurf eines steckengebliebenen Mediums den Einsatz einer »Reinigungs-CD«, die man mit einem Reinigungsalkohol benetzen konnte und die dann im Gerät rotierend und gleitend für die Säuberung von Linsen und Transportrollen sorgen sollte, aber auch deren Effekt war nur von kurzer Dauer. Von da an hörte ich notgedrungen erstmal nur noch Radio beim Fahren.

Bevor mir die Berufstätigkeit einen Großteil meiner täglichen Bastelkapazitäten raubte, war ich ein recht neugieriger und auch in Teilen erfolgreicher Erkunder und Reparateur bei allen Arten technischer Fehlfunktionen. Ich reparierte schon als Teenager meinen damals sehr hippen orangefarbenen Astrosound-Cassettenrecorder, fand nach dem Aufschrauben dessen mürben Antriebsriemen gerissen vor und – Jahre vor dem Serienstart von »McGyver« – ersetzte ihn einfach durch einen passenden Haushaltsgummiring. Mutters »Krups 3 Mix« wurde ebenso erfolgreich repariert, es blieb zwar nach dem Auseinanderbauen und Zusammenschrauben ein seltsam geformtes Plastikteil über, aber er quirlte wieder wie neu. Auch an meinem Käfer erledigte ich bis zum Ende meines Studiums etliche, auch größere Reparaturen selber: Ölwechsel, Austausch von Zündkerzen, Verteilerkappe, Zündkabel, Heizbirnen und Drahtzüge der sehr eigenwilligen Käfer-Heizung, Reifenwechsel, Glühbirnen in Scheinwerfern – am Tresen der Werkstattmitarbeiter des örtlichen VW-Händlers war ich nahezu Stammgast und studierte oft genug neugierig mit ihnen auf einem klobigem Sichtgerät die auf Mikrofilm hinterlegten Explosionszeichnungen des Modells, um die Teilenummer des technischen Relikts ausfindig zu machen, das ich gerade ausgebaut hatte und das es zu erneuern galt.

Jahre später in Hamburg erzählte mir ein befreundeter Fotograf, als wir auf das Thema zu sprechen kamen, dass er seinen Citroën in die Werkstatt bringen müsse, wenn ein Lämpchen an Scheinwerfern oder Rückleuchten defekt sei, das könne er gar nicht mehr selber erledigen. »Die müssen den halben Kotflügel ausbauen, um da ranzukommen«, sagte er.

Das ist dann wieder ein anderes Thema. Denn ich finde, es gibt nochmal einen feinen Unterschied zwischen einerseits technischen Geräten, die aufgrund ihrer Konstruktion oder ihres Designs nicht erkennen lassen, was kaputt ist, so dass man keinerlei Anhaltspunkt zu Ursache oder Behebungsmöglichkeiten des Defekts bekommt und andererseits technischen Geräten, die so konstruiert sind, dass man sie im Falle eines Defekts entweder nicht selbst bzw. nur in einer (teuren) Fachwerkstatt, oder überhaupt nicht reparieren kann, was dazu führt, dass man sie ausmustern bzw. wegwerfen muss – eine Unsitte des Kapitalismus, die ganz besonders fragwürdig und verantwortungslos ist. Die erstgenannte Kategorie erscheint immerhin ein bisschen weniger vorsätzlich, denn wenn ein Gerät nun mal über nichts weiter als ein Touch-Interface und zarte Tipptasten verfügt, diese jedoch inaktiv sind, dann gibt es nichts mehr sanft zu touchen, elegant zu wischen oder diskret zu tippen. Das ist nicht nur funktional, sondern auch emotional frustrierend, denn in mancher Stresssituation hätte man gern Hebel, Tasten, Klappen, Scharniere, Deckel oder Regler, die man aufgewühlt malträtieren kann. Der Zorn oder der Stress ob der Funktionsverweigerung suchen ein Ventil, man möchte hämmern, klopfen, treten und Dinge beim Ausrasten wieder einrasten hören. Stattdessen wird man von einem aalglatten schwarzen Gehäuse angeschwiegen, das diese Optionen komplett verweigert. Dem echauffierten, emotional verwaisten User bleibt somit nur, sich entweder wieder abzuregen oder das komplette Teil in Rage in eine Ecke zu pfeffern. Dies ist hochgradig unbefriedigend und beinhaltet gerade bei größeren Geräten zudem die Gefahr beträchtlicher Kollateralschäden an Mensch und Ambiente.

Ich will ja gar nicht krückstockfuchteln oder lamentieren. Ich bin leidenschaftlicher SciFi-Fan und hätte mir damals nicht träumen lassen, dass ich mal einen Minicomputer, ähnlich einem Star-Trek-»Tricorder« in der Hosentasche tragen würde, der quasi das Fliewatüüt meines Alltagsmanagements darstellt und Kamera, Internet, E-Mail, Musik, Videos, Einkaufslisten, Bahntickets, Übersetzungshilfen, Terminkalender etc. pp in sich vereint. Und ich wische, touche und tippe gerne! Solange es funktioniert. Aber wenn ich dann von einem temporär oder dauerhaft defekten Gerät dieser Bauweise »ausgesperrt« werde und wie ein Gast auf der Hoteltoilette vor dem bewegungsgesteuerten Wasserhahn eine erfolglose und zunehmend verärgerte Aktivierungschoreographie performen muss, wünsche ich mir schon manchmal durchschaubarere Geräte wie meinen Astrosound-Cassettenrecorder zurück.

Ach ja: Mein iPhone funktionierte übrigens nach etwa zehn Minuten schwarzen Schweigens wieder ganz normal, als ob nichts gewesen wäre.

Bildmotiv K.I.-generiert via »Midjourney«

Hier.

Vor fast genau acht Jahren schrieb ich hier im Blog einen Artikel zum Thema »Heimat«. Darin stellte ich fest, dass ich rein geografisch kaum einen Ort aus meiner Biografie benennen könnte, der für mich einer »Heimat« entspricht. Heimat sind für mich eher Orte und Lebenssituationen, in denen ich von Menschen umgeben bin, mit denen mich Sympathie, Freundschaft oder Liebe verbinden.

Derzeit befinde ich mich im Urlaub in Schweden. Ich habe dieses Land und seine Menschen schon öfter besucht, gelegentlich verbunden mit einem oder wenigen Tagen in einer Stadt wie Stockholm, Malmö, Helsingborg oder Göteborg, aber meistens für eine oder zwei Wochen in einem Ferienhaus, möglichst etwas abgelegen und naturnah, im Wald und/oder an einem See. So ist es auch diesmal wieder, die aktuelle Unterkunft liegt in der Region Värmland an einem See in der Nähe des Ortes Sunne. Jeden Tag wandern wir hier zwischen 5 und 10 Kilometer durch Wald und Berge, der Mann und ich. Manchmal streife ich auch für eine Stunde mal alleine in der Umgebung im Wald herum, das habe ich schon als Kind in den Harzferien bei der Oma gerne gemacht. Es ist wunderbar still hier, die nächste Straße liegt 100 Meter entfernt und ist nur sehr sporadisch befahren, der Abstand zu den nächsten Nachbarn ist ähnlich großügig. Nur drei Häuser stehen hier, inklusive unserem, außerhalb einer Ortschaft, bis zum nächsten »größeren« Ort (gut 2.000 Einwohner) sind es knapp 8 Kilometer.

Ich habe schon etliche Orte bereist, einige als vorübergehendes Zuhause (als Kind mit den Eltern jeweils zwei Jahre in Algerien und Nigeria), einige während mehrwöchiger Urlaube und manche nur für Kurzreisen (zumeist Städte). Im Jahr 2012 hatte ich mal eine Google-Karte erstellt, auf der meine Reiseziele in Europa mit Pins markiert waren. Transatlantikreisen reisen habe ich seit meiner Schulzeit nur drei unternommen: 1992 nach Chicago, 1996 nach New Orleans und 1998 nach New York (beruflich, leider kaum mit Gelegenheit zur Erkundung der Stadt). Vergleichbar weite oder noch weitere Fernreisen habe ich nicht unternommen.

Es gibt kaum ein Reiseziel, das ich im Nachhinein nicht gerne besucht hätte. Es war immer neu, schön, interessant oder aufregend, woanders zu sein. Ich bin ein neugieriger Mensch und sauge neue, ungewohnte Eindrücke begeistert auf. Dazu muss ich nicht zwingend beliebte oder spektakuläre Locations aufsuchen, manchmal ist ein Bummel durch eine Markthalle, über einen Basar oder Wochenmarkt oder durch die Gänge eines großen Supermarkts an einem fremden Ort genauso spannend wie die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten. Generell meide ich Orte, an denen sich Touristen drängen, weil dort ein Panorama, ein Bauwerk oder andere pittoreske Brennpunkte zu bestaunen sind. Tausende von Menschen fahren dorthin, um in ihrer Reisechronik vermerken zu können, »dagewesen« zu sein, tausende Menschen machen von denselben Standpunkten aus dieselben Fotos, nur Variationen bei Jahreszeit, Wetter und mitgeknipsten Personen machen ihre Bilder unterscheidbar. Touristische Sehenswürdigkeiten sind die Gassenhauer der meisten Reisenden. Genauso wie z.B. in den meisten Konzerthallen der Welt jahraus, jahrein die immer gleichen Werke der immer gleichen klassischen Komponisten auf dem Programm stehen: Bach, Mozart, Beethoven, Tschaikowsky, Chopin, Vivaldi usw. Keine Frage, die genannten Künstler haben geniale Werke geschaffen und es bereitet auch Freude, sie anzuhören. Aber die Popularität ihrer Werke drängt Dutzende anderer, ebenso famoser Komponisten und Werke ins Abseits und damit in die Vergessenheit, die es verdient hätten, ebenso häufig auf den Programmen der großen Orchester zu stehen, wie etwa John Field, Wilhelm Stenhammar, Erich Wolfgang Korngold, Howard Hanson, Frederic Mompou, Frederick Delius oder George Enescu, deren Entdeckung meine eigene Musikwelt sehr bereichert hat. Und ganz ähnlich verdrängen die von Touristen überrannten Sehenswürdigkeiten als »Must Sees« viele unbekanntere Orte, Panoramen, Gebäude und Monumente und werden, wie Marlene Dietrich einmal auf sich bezogen sagte, »zu Tode fotografiert«. Ich hatte einmal den Gedanken, dass unaufhörlich oft gespielte Musikstücke überall auf der Welt mit jeder Aufführung und Wiedergabe eine Spur leiser werden sollten, ohne dass es dafür ein technisches oder physikalisches Gegenmittel gäbe – ganz so, als ob sie sich abnutzen würden. Irgendwann wären sie dann (für eine gewisse Zeit) unhörbar leise, egal ob von CD, Magnetband, MP3 oder als Live-Aufführung, so dass sich die Menschen, die Lust auf schöne klassische Musik haben, zwangsläufig mit anderen vorhandenen Werken und Komponisten befassen müssten. Analog könnten totfotografierte und überbesuchte Touristenattraktionen auf Film, Video und in digitalen Bilddateien fortwährend immer blasser und blasser abgelichtet werden, so dass man zwar hinfahren und sie live ansehen könnte, fotografieren müssten die Reisenden jedoch andere Motive. Zwar nur ein Gedankenexperiment, aber eins, das die Menschen womöglich motivieren könnte, wieder neugierig zu werden und sich selber auf die Suche nach unentdeckten schönen Dingen zu begeben, welche zwar nicht neu, aber genauso z.B. erlebenswert sind. Wer weiß.

Neugier ist einer der Haupt-Antriebe für mich, zu reisen und wann immer möglich, sind selbstbestimmte Tagesabläufe ein Muss. Ich bin kein Typ für Busreisen, Kreuzfahrten oder Reisegruppen, wo ich inmitten einer Gruppe oder gar größeren Schar Mitreisender an eine Route oder ein Verkehrsmittel gebunden bin, wo die Abläufe der Reisetage, Zeiten und Orte für Ausflüge oder Stunden-Slots für »Freizeit« oder die täglichen Mahlzeiten vorgegeben sind. Ich mag keine überfüllten Züge, Schiffe, Flugzeuge oder Hotels, sondern möchte im kleinstmöglichen Kreis mit angenehmen und »pflegeleichten« geschätzten Menschen meine Ferien verbringen. Unangenehme, aber unvermeidliche Phasen der An- und Abreise mit Schlangestehen oder Warten sowie notwendige Zeitabschnitte mit Fortbewegung oder Unterbringung inmitten größerer Menschengruppen versuche ich, auf ein Minimum zu reduzieren. Am Ziel der Reise wünsche ich mir Autonomie, Stille, Genuss und auch etwas Komfort, der nicht unbedingt »luxuriös« sein muss. Dazu genügen bequeme Betten, eine gut ausgestattete Küche zur Selbstverpflegung nebst allen Utensilien zum Zubereiten und Servieren, eine stabile und schnelle Internetverbindung und einige gemütliche Sitzecken draußen oder drinnen zum Entspannen, Filme schauen, lesen oder Musikhören. Ich möchte schlafen, so lange ich will und anschließend trotzdem noch, ohne Rücksicht auf örtliche Buffet-Öffnungszeiten, ausgiebig frühstücken können. Ich möchte selbst in Geschäften oder auf Märkten einkaufen können, dabei vielleicht lokale, mir unbekannte Köstlichkeiten entdecken und meinen täglichen Speiseplan nach Angebot und Appetit zusammenstellen. Ich möchte Tage mit Muße und Ruhe verbringen, wenn mir danach ist. Wenn ich unternehmungslustig bin, möchte ich – auch spontan – selbstgeplante Ausflüge machen und wenn ich einfach nur in der Natur wandern oder Zeit an einem (gerne wenig besuchten) Badestrand verbringen möchte, sollte auch das möglich sein, ohne auf eine vorgegebene Agenda Rücksicht nehmen zu müssen. Ich möchte selbst entscheiden, wann ich mich, z.B. bei einem Stadtausflug, in größeren Trubel und unter Menschen begebe und wann ich mich in eine ruhige und ungestörte Umgebung zurückziehen will. Luxus bedeutet für mich, mich ohne Fremdbestimmung erholen und etwas unternehmen zu können und dabei das jeweilige Maß an Geräusch und Geselligkeit selbst bestimmen zu können.

Die schon erwähnte Neugier(de) – eigentlich gefällt mir das deutsche Wort überhaupt nicht, weil da das unsympathische »Gier« drinsteckt, ich finde das englische »curiosity« viel netter – umfasst jedesmal alles, was mir am Zielort begegnet. Zwar werden die Hin- und Rückreise, die Unterkunft, eventuelle wichtige Einkaufsmöglichkeiten vor Ort und einige wenige Anlaufstellen wie ein erstes Restaurant, ggf. ein Bahnhof für Ausflüge oder, falls die Unterkuft etwas abgelegener liegt, die nächstgrößere Ortschaft vorab recherchiert, aber das meiste andere, Wochenmärkte, Ausflugsziele, Wanderrouten, Einkaufszentren, Fußgängerzonen, am liebsten erst vor Ort erkundet. Nach der Ankunft nehme ich mir möglichst bald gerne einige Stunden Zeit, um einfach ziellos in der Gegend herumzustromern, die Nachbarschaft der Unterkunft zu erkunden, egal, ob in einer Stadt oder mitten im Wald. Ich will wissen, wie sich das Urlaubsziel anfühlt, wie es aussieht, wie es riecht. Ich möchte wissen, was draußen wächst, wo die Straßen, Wege und Trampelpfade hinführen, wie die Sprache, der Dialekt oder der Akzent der Leute klingen, auch wenn ich ihre Sprache nicht oder kaum beherrsche. Ich möchte wissen, wie die Menschen aussehen, wie sie gekleidet sind, wie ihr Alltag auf der Straße abläuft, wie ihre Häuser gebaut sind, wie die Pflanzen in ihren Gärten aussehen, was auf ihren Balkons steht, was man von außen beiläufig durch die Fenster ihrer Wohnungen sehen kann. Ich beobachte den Verkehr, die Fußgänger, die Radfahrer, studiere Straßenschilder, Wegweiser, Beschriftungen und Leuchtreklamen, betrachte Werbeplakate und Schaufenster, besuche kleine und große Geschäfte und stöbere im lokalen Warensortiment. Besonders Markthallen finde ich großartig. Am beeindruckendsten waren für mich bislang die in Florenz, in Kopenhagen, in Budapest und in Malmö. Das Treiben der Marketender und Kunden, die unzähligen Lebensmittel und Delikatessen und – die Gerüche! Wie viele Düfte und Gerüche habe ich im Kopf aus Urlauben mit nach Hause genommen und werde jedesmal an den Ort ihrer Wahrnehmung zurückkatapultiert, wenn mir zu Hause irgendwo zufällig ein Anklang daran begegnet. Der Duft frisch gebackenen Fladenbrotes oder knuspriger Pizza, der leicht metallische Geruch frischen Fleisches, die Aromen von Käse, von geräuchertem Fisch oder Würsten, gerade geröstete Kaffeebohnen, Putzmittel, Parfum, Überbackenes, Kandiertes, Gebratenes, die Düfte von Schnittblumen und Gewürzen, der trockene Geruch von Kleidung, Tuchwaren und Teppichen. Ich gehe wie ein Schwamm durch die neue Umgebung und sauge alles auf, was durch meine Sinnestore passt. Nach Möglichkeit und Budget müssen die Spezialitäten all dieser Fülle natürlich auch verkostet und ausprobiert werden. Das ist Reisen für mich.

Doch trotz des immer vorhandenen Interesses für Land und Leute fühlen sich manche Orte, Reiseziele oder Urlaube für mich unterschiedlich an. In manchen Ländern bleibe ich immer der Reisende. Ich bin zu Gast und fühle mich zu Gast, ich bin Besucher, Beobachter, Zuschauer. Die Unterkunft ist perfekt, das Wetter hervorragend, alle Unternehmungen laufen nach Plan, das Essen schmeckt köstlich, die Eindrücke sind überwältigend, neu und interessant, die Landschaften und Bauwerke atemberaubend, die einheimischen Menschen sind freundlich, hilfsbereit und famose Gastgeber und doch bleibt immer eine hauchdünne Barriere zwischen mir und meiner Urlaubsumgebung spürbar. Als wäre ich in einem Zug oder einem gläsernen Fahrzeug wie dem »Papamobil« unterwegs, vieles ist und bleibt mir fremd, obwohl es mich fasziniert, mir gefällt oder mich beeindruckt. Ich nehme viel wieder mit nach Hause, habe Dutzende Fotos gemacht, schöne Erlebnisse gehabt, vortreffliche Speisen gekostet, tausend neue Dinge gesehen, bin netten Menschen begegnet und doch bleibt es eine Reise, von der ich wieder »nach Hause« zurückkehre.

In Skandinavien und insbesondere in Schweden ist das etwas anders. Wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, ich sei bereits vor meinem allerersten Besuch schon einmal hier gewesen und auch, als wäre ich den Menschen hier auf seltsame Weise verbunden. Wenn ich alleine durch den Wald gehe, ist es zwar still, aber ich höre die Bäume und Felsen flüstern »willkommen zurück!«. Auch der Wind, der durch die Bäume streicht oder das Rauschen eines kleinen Waldbaches sagen »da bist du ja wieder!«. Ich fühle mich nicht wie in einem fremden Land, sondern wie in einem Ur-Zuhause, wandere nicht als Beschauer umher, sondern bin an einem Ort angekommen, der sich anfühlt, als gehörte ich dorthin. Es fühlt sich an wie ein Einrasten, als spürte ich ein »Klick« und fügte mich an einem Platz ein, der genau der richtige für mich ist.

Mich würde interessieren, ob das nur mir so geht oder ob auch andere an manchen Orten, egal ob im Ausland oder in »ihrem« Inland, ein ähnliches Gefühl oder vergleichbare Unterschiede bei der Wahrnehmung ihrer Reiseziele haben.

Nächstes Jahr, wenn nichts dazwischen kommt, Schweden, komme ich wieder.

Ferien in Sagrotan

Eine schöne Urlaubswoche in Schweden liegt hinter mir und ich werde nachträglich auch bestimmt dazu noch etwas bloggen. Es ist jedesmal eine Wohltat, weit weg vom Großstadtlärm, nah an der Natur, zwischen Seen, Bergen und inmitten unfassbar weiter Wälder dieses Land zu bereisen. Entsprechend haben der Mann und ich auch von unserem einsam gelegenen Ferienhaus in der Provinz Värmlands län zahlreiche Ausflüge zu Wanderungen durch die schöne Landschaft unternommen.

Im Urlaub bin ich der Chauffeur. Da ich selbst kein eigenes Auto mehr besitze, hält mich das in Übung, ich mache es gerne und der Mann kann mich lotsen und die Fahrten genießen. Win-win. Auf einer der Touren fuhren wir an einem der typischen blau-weißen Wegweiserschilder vorbei, auf dem ich auf den ersten Blick den Ortsnamen SAGROTAN zu lesen glaubte. Tatsächlich hieß es jedoch SEGOLTAN, wie sich an der nächsten Abzweigung erwies. Witzig, ein Ort der heißt wie ein Putzmittel, dachte ich und ging in Gedanken andere Markennamen in diesem Segment durch, um zu schauen, ob es in Schweden noch weiteres Potenzial für solcherlei Verwechslungen gäbe. Und tatsächlich, etliche reale Produkte aus deutschen Drogeriemärkten könnten ohne weiteres schwedische Orte bezeichnen. Und umgekehrt habe ich allein in einer Liste aller Dörfer und Städte in Värmlands län spontan fast fünfzig Ortsnamen ausmachen können, nach denen man durchaus werbewirksam neue Putz- oder Reinigungsmittel benennen könnte. Faszinierend.

Vielleicht ist das auch ein Grund, warum es hier überall so schön sauber aussieht.

  • ALMAR
  • ASP
  • BLAXMO
  • FJALL
  • FORS
  • GAMBOL
  • GATAN
  • GRAV
  • HVISSLE
  • JONSONA
  • KARR
  • KIL
  • KLAXAS
  • KOLSTAN
  • LAXVIK
  • LERHOL
  • LIAN
  • LOVAS
  • MALMA
  • MYRA
  • NAST
  • NEVA
  • OBYN
  • PARSBOL
  • RADA
  • RAXED
  • RINNA
  • RULLAN
  • SALLOM
  • SAXAN
  • SEGOLTAN
  • SKAL
  • SMADAL
  • SNARKIL
  • SOLLOM
  • SORBY
  • SULVIK
  • TAPPAN
  • TJARN
  • TORP
  • TORTAN
  • TVETA
  • UPRAN
  • VANG
  • VIK
Hintergrundbild von Bara Karall auf Pixabay

Blögchen, wechsel dich!

Letzten Samstag bekam ich einen Schreck. Als ich mich als Admin ins WordPress-Backend meines Blogs einloggen wollte, ging nichts mehr. Der vermeintliche Login-Prozess dauerte ewig, am Ende wurde lediglich eine Fehlermeldung eingeblendet: »502 Proxy Error – The proxy server received an invalid response from an upstream server. The proxy server could not handle the request. Reason: Error reading from remote server«. Uff.

Die gute Nachricht: Das Blog war abseits des Login-Fehlers im Netz fehlerfrei aufrufbar. Die schlechte Nachricht: Das letzte Backup war einige Monate her (KEIN MITLEID!). Also suchte ich nach Berichten und Tipps in Foren, Blogs und auf Hilfeseiten, was die Ursache sein könnte. Am Abend zuvor hatte ich noch vor dem Einschlafen mit dem mobilen WordPress-Client vom Bett aus einen Beitragskommentar freigegeben und beantwortet, doch auch dieser App war nun jeder Login-Zugriff verwehrt. Über Nacht hatten keine protokollierten Updates von Plugins, der PHP-Version oder WordPress selbst stattgefunden. Es blieb ein Rätsel. Die Recherche ergab, dass oftmals Plugins für diese Fehlermeldung verantwortlich sind und es gab auch Tipps, wie ich alle oder einzelne Plugins mittels eines FTP-Clients – der glücklicherweise eingerichtet vorhanden war und auch funktionierte – deaktivieren und so systematisch prüfen konnte, wo der Übeltäter zu vermuten war. Inzwischen war auch eine E-Mail aus dem Backend eingetroffen, die zwar nochmals für Herzklopfen sorgte mit Betreff und Einleitung (»Deine Website hat ein technisches Problem« / »ein Plugin oder ein Theme hat einen fatalen Fehler auf deiner Website verursacht«) , aber auch zwei wichtige Hinweise zur Fehlerbehebung enthielt, nämlich den Namen des Plugins sowie einen Login-Link, der Zugriff auf das WordPress-Backup im »Wiederherstellungsmodus« ermöglichen sollte. Und das klappte!

Ich beschloss daraufhin, nicht nur das vermeintlich fehlerhafte Plugin zu deaktivieren bzw. zu ersetzen, sondern das Blog insgesamt einer Generalüberholung zu unterziehen: alle Plugins auf Kompatibilität prüfen, nicht (mehr) benötigte abzuschalten und zu entfernen bzw. durch neue oder besser bewertete zu ersetzen, die PHP-Version zu aktualisieren und das jüngste Update des WordPress-Core selbst zu installieren. Doch auch mein Backup-Plugin »BackWPup« wies nun Fehlfunktionen auf. Trotz der bis zum Ende durchgeführten Backup-Prozedur wurden bei mehreren Durchgängen und mit unterschiedlichen Backup-Konfigurationen zwischen 9.000 und 20.000 »Warnungen« ausgegeben: »Trying to access array offset on value of type bool«. Also auch dieses Plugin ausgetauscht. Das neue, »UpdraftPlus« lief anstandslos, na also. Nach dem Schreck erschien es mir sinnvoll, ein Backup-Schema mit regelmäßigen Sicherungsintervallen einzurichten und schließlich funktionierte alles wieder fehlerfrei. Hurra!

Dennoch wollte ich es dabei nicht bewenden lassen. Die Anzahl der Plugins könnte noch weiter verringert werden, mein schon etwas betagtes Theme »Treville« auf eine neuere, komfortabler zu handhabende Generation umgestellt werden und das Design einem behutsamen »Facelift« unterzogen werden. Also, auf ans Werk!

Als ich den »Look« des Blogs kritisch betrachtete, war ich damit insgesamt immer noch recht zufrieden. Mein Farbschema, die gewählten Schriften, die vom »EXPO2000«-Logo inspirierte Headergrafik, das Seitenlayout – eigentlich war das immer noch »ich«, obwohl dieser Look bereits seit November 2012 im Einsatz ist. Ein gutes Zeichen, also beschloss ich, das Design nur minimal zu aktualisieren und ansonsten dabei zu bleiben.

Da die Arbeit mit HTML und CSS nicht mein täglich Brot ist und meine Kenntnisse darin begrenzt sind, suche ich beim »Blogbasteln« recht oft Unterstützung auf Seiten wie mdn web docs‘ CSS reference oder W3Schools, bislang auch stets mit Erfolg. Diesmal beschloss ich, versuchsweise zusätzlich ChatGPT zur Prüfung und Optimierung meiner selbstgebastelten Codeschnipsel hinzuzuziehen. Das klappte im Prinzip auch sehr gut, lediglich bei der Schlussprüfung der lokalen Schrifteinbindung baute mir die K.I. einen ziemlich groben Fehler bei der Auszeichnung der »Fallback-Schriften« in den CSS-Code ein, der zwar anfangs plausibel aussah, aber bei der Anwendung zum kompletten Versagen des Stylesheets führte. Erst mithilfe menschlicher Ratgeber via Mastodon konnte ich den Lapsus wieder ausmerzen.

Jetzt sieht alles so aus, wie es aussehen soll, funktioniert (der ersten Prüfung nach) fehlerfrei, auf dem neuesten Stand mit einem neuen WordPress-Theme und gut gesichert mit einem periodischem Backup-Plan. Ich hoffe, meinen Besuchern und Lesern gefällt’s.

Ausschnitt einer deutschen Originalzeichnung für die »Lustigen Taschenbücher«, selbst geknipst im Erika-Fuchs-Haus in Schwarzenbach (Saale).

Kleine Teilchen, kluge Worte

Wenn bei mir ein »Fernsehabend« auf dem Sofa ansteht, teile ich das Programm gerne in zwei Abschnitte: der frühe Abschnitt vollzieht sich – außer es wird ein aufwendigeres, mehrgängiges Menü serviert – meist zeitgleich mit der Einnahme des warmen oder kalten Abendessens und besteht zumeist aus einer interessanten Dokumentation. Nach dem Essen wechselt das Programm dann zu Serienfolgen oder Speilfilmen von der beharrlich nicht schrumpfenden Watchlist.

Bei den Dokumentationen stellen Reise-/Länder-, Tier- oder Naturdokus einen großen Teil, ein zweites großes Segment widmet sich wissenschaftlichen Themen. Von Kindesbeinen an bin ich fasziniert von Wissenschaft, es begann mit »WAS IST WAS?-Büchern«, TIME LIFE Bildbänden und allerlei weiteren Sachbüchern, erst aus der Schulbibliothek, später auch in Form eigener Anschaffungen für die heimische Bibliothek. Hirnforschung, Psychologie, Mathematik, Physik, Astronomie, Chemie, Informatik – wenn das Medium ein Thema fesselnd und anschaulich rüberbringt, bin ich für alles offen. Gute Wissenschaftler geben nicht auf, wenn ein Experiment misslingt, sie versuchen, den Grund herauszufinden und versuchen, es zu wiederholen. Wenn ein Experiment einer ihrer Theorien widerspricht, sind sie höchstens kurz frustriert, dann versuchen sie auf Basis der neuen Daten ihre Prämissen anzupassen und forschen weiter. Glauben steht über wissen, erforschen über vermuten. Das kommt meiner eigenen Attitüde sehr nahe, deshalb sind mir Wissenschaftler vom Wesen her oft sehr sympathisch.

Vor zwei Tagen sah ich auf dem GEO-Channel bei Amazon Prime die Teilchenphysik-Doku »Particle Fever« aus dem Jahre 2013, die auch auf YouTube zu finden ist. Größtenteils im O-Ton und ohne darübergelegten Off-Kommentar dokumentiert sie die Arbeit von Wissenschaftlern auf der Suche nach dem »Gottesteilchen« genannten Elementarteilchen namens »Higgs-Boson« im LHC. Der LHC oder »Large Hadron Collider« ist ein Teilchenbeschleuniger am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf (mehr bei Wikipedia).

»Zum ersten Mal kann das Publikum in einem Film einen bedeutenden und inspirierenden wissenschaftlichen Durchbruch aus der ersten Reihe miterleben, während er geschieht. ›Particle Fever‹ begleitet sechs brillante Wissenschaftler beim Start des Large Hadron Collider, dem größten und teuersten Experiment in der Geschichte der Menschheit, das an die Grenzen des menschlichen Erfindergeistes stößt.

Auf der Suche nach den Geheimnissen des Universums haben sich 10.000 Wissenschaftler aus über 100 Ländern zusammengetan, um ein einziges Ziel zu verfolgen: die Bedingungen, die nur wenige Augenblicke nach dem Urknall herrschten, zu reproduzieren und das »Higgs-Boson« zu finden – ein Elementarteilchen, das möglicherweise den Ursprung aller Materie erklären könnte. Doch die Protagonisten stehen vor einer noch größeren Frage: Haben wir bereits unsere Grenzen erreicht, wenn es darum geht zu verstehen, warum wir existieren?

Die Dokumentation ist entstanden unter der Regie von Mark Levinson, einem Physiker, der zum Filmemacher wurde, auf Anregung und Initiative des Produzenten David Kaplan und meisterhaft geschnitten von Walter Murch (›Apocalypse Now‹, ›Der englische Patient‹, ›Der Pate‹-Trilogie). ›Particle Fever‹ ist eine Hommage an den Forschergeist und erzählt die menschlichen Geschichten hinter der gigantischen Maschine des LHC.«

(Übersetzt und leicht editiert nach dem Begleittext bei YouTube)

Zwei Zitate der interviewten Forscher sind mir dabei besonders aufgefallen, denn sie spiegeln eine Geisteshaltung wider, die in der Gegenwart immer seltener zu werden scheint: das Hinterfragen dessen, ob alles, in das Geld und Zeit investiert wird, wirklich immer einen messbaren materiellen oder ökonomischen Nutzen erbringen muss und das Verhältnis zu objektiver Wahrheit und belegbaren Fakten. Deshalb möchte ich die von mir transkribierten Zitate hier gerne weitergeben, verbunden mit der Anregung, die Dokumentation bei Interesse komplett anzuschauen.

David Kaplan, Theoretischer Physiker am CERN:
»Es fällt Physikern schwer, zu erklären, warum wir diese Experimente machen. Die Maschine dient nicht militärischen Zwecken. Es sind keine kommerziellen Zwecke. Es geht darum, die Grundgesetze der Physik zu verstehen. (…) Man kann es damit vergleichen, einen Menschen auf den Mond zu schicken. Es ist eine gemeinsame Anstrengung. Ich würde sogar sagen, noch größer. Es ist mehr wie der Bau der Pyramiden. Warum machten die Ägypter das? Warum machen wir das? (…) Wir reproduzieren die Physik, die Bedingungen gleich nach dem Urknall. Wir machen das in diesem Collider, damit wir sehen können, wie es war, als das Universum entstand. Wir versuchen die Grundgesetze der Natur zu verstehen. (…) Falls das Higgs-Boson tatsächlich existiert, werden wir es entdecken.«

Zwischenfrage:
»Ich bin Ökonom (…) Nehmen wir an sie sind erfolgreich und alles klappt so wie geplant. Was haben wir davon? Was ist der ökonomische Ertrag? Womit rechtfertigen Sie das alles?«

Kaplan:
»Was ist der finanzielle Gewinn eines solchen Experimentes und aus den Erkenntnissen, die wir daraus gewinnen? Es gibt eine sehr einfache Antwort: Ich habe keine Ahnung. Wir haben keine Ahnung. Als einst die Funkwellen entdeckt wurde, nannte man sie nicht Funkwellen, weil es noch keinen Funk gab. Sie wurden als eine Art Strahlung entdeckt. Grundlagenwissenschaft und große Durchbrüche müssen auf eine Ebene passieren, auf der man nicht nach finanziellem Gewinn fragt. Man fragt: Was wissen wir nicht? Und wo können wir Fortschritte machen? Vielleicht ist es für nichts anderes gut, als alles zu verstehen.«

(eigenes Transkript)

Das zweite Zitat stammt von einem anderen Wissenschaftler.

Savas Dimopoulos, Teilchenphysiker an der Universität Stanford:
»Ich wuchs als Kind griechischer Eltern in der Türkei auf, in einer bürgerlichen Familie. In den 1960ern mussten wir fliehen. Wir mussten die Türkei verlassen, aufgrund politischer Spannungen zwischen Griechen und Türken wegen der Insel Zypern. Es gab viele politische Strömungen: Linke, Rechte … und ich war ein naiver Dreizehnjähriger, der sich die Argumente pro Linke und pro Rechte anhörte. Und war einmal davon überzeugt, dass die eine Seite recht hatte, am nächsten Tag die andere. Das verwirrte mich. Wie können sie beide wahr sein, wenn sie im Gegensatz zueinander stehen? Also entschied ich mich für ein Feld, in dem die Wahrheit nicht auf der Eloquenz des Redners beruht. Die Wahrheit ist absolut.«

(eigenes Transkript)

Ich wünschte, diese Sicht der Dinge würde wieder populärer, aber viel Hoffnung habe ich in einer Welt mit radikalen Кonservatisten, Querdenkern, der FDP, Νeurechten, Νationalisten und evangelikalen Сhristen nicht.

Die Endkappe des Compact Muon Solenoid am Large Hadron Collider am CERN | Foto: Wikimedia Commons, Lizenziert unter CC BY-SA 3.0

Neues von der Börse

Schon im September 2011 brachte mich eine tagesaktuelle Börsennotiz einst zum Schmunzeln. »DAX zieht den Nikkei in den Strudel« stand da – und warf mein sehr empfängliches Kopfkino sofort an. Der DAX vollzog seither allerlei weitere Kapriolen und der Metaphernbrunnen der Tickertextenden in den Wirtschaftsredaktionen scheint unerschöpflich. Da ich mich derzeit, teils zwecks beruflicher Fortbildung, teils aus persönlichem Interesse, gerade experimentell mit der Bedienung des K.I.-Bildgenerators »Midjourney« beschäftige, kam ich kürzlich auf die Idee, einige der besonders bildhaften Marktberichte vom DAX in künstlich generierte Bildmotive zu übertragen. Manche Bilder musste ich nachträglich noch ein wenig mit Photoshop bearbeiten, so weigerte sich die K.I. zum Beispiel beharrlich, dem erschöpft rastenden DAX die Zunge aus dem Maul hängen zu lassen, aber es waren wirklich nur Kleinigkeiten – der Rest ließ sich durch Verfeinerung der sog. »Prompts« recht gut steuern.

Hier meine kleine Galerie:

Soweit zur Börse – wir geben zurück ins Studio.

Edit: Ich konnte nicht anders … hier kommen noch drei:

Tafelrunde

Seitdem ich blogge (etwa seit Ende 2006), poste ich hier auch Rezepte, meistens mit einem Foto der zubereiteten Speise. Und seitdem es Twitter, bzw. jetzt Mastodon gibt und ich dort Zeug poste (2008 bzw. Ende 2022), habe ich Kochergebnisse, Backresultate, Restaurantgedecke, Tellergerichte, Salatschüsseln, Suppenterrinen mit allerlei selbst zubereiteten oder von externen Kochkönnern servierten Speisen immer wieder gerne dokumentiert und erläutert. Es macht mir Spaß, meine Genusserlebnisse im Netz zu teilen, anderen Appetit zu machen, Interesse für kulinarisches Neuland oder interessante Rezepte zu wecken und natürlich auch, mich später selbst an wohlschmeckende Anlässe wieder zu erinnern.

Irgendwann begann ich, meine Foodfotos einfach immer ganz schlicht von oben zu fotografieren. Das hat auch ästhetische Gründe, aber hauptsächlich ist es ein recht effizienter »Kniff«, Essen ansprechend, authentisch und unaufwendig abbilden zu können:

  • Man muss sich nicht um irgendwelche Hintergründe kümmern, außer dass die Tisch- oder Untergrundfläche einigermaßen ansehnlich und aufgeräumt sein sollte. In meiner Küche ist nicht viel Platz, ich nenne weder eine pittoreske Landhausküche mein eigen, noch habe ich einen Garten, einen Innenhof, eine Veranda o.ä., wo ich meine Fotos in einem passenden Ambiente anfertigen könnte.
  • Durch den engen Bildausschnitt braucht man nur ein Minimum an Platz. Hauptsache, das Essen bzw. der relevante Teil des Serviergeschirrs ist im Bild. Es kommt der Entstehung von Fotos auch in Restaurants oft zugute, wenn man mit wenig Aufwand, geringem Aufsehen und ohne andere Personen mit im Sucher zu haben, fotografieren möchte oder muss.
  • Das Essen steht absolut im Fokus, nicht das Geschirr, nicht Besteck, Servietten, Trinkgefäße oder andere Teile der Tischdekoration. Ich selbst besitze nur eine, wenn auch recht komplett ausgestattete Geschirrgarnitur in weiß mit hellgrüner Rand-/Außenglasur. Und trotzdem kann ich damit auf diese Weise Fotos machen, die auf den ersten Blick alle völlig unterschiedlich aussehen.
  • Die Fotos bekommen eine Art »Seriencharakter«, obwohl sie an völlig verschiedenen Orten, zu unterschiedlichen (Tages-)Zeiten und bei jedesmal anderer Beleuchtung aufgenommen wurden.
  • Das quadratische Fotoformat mit dem inliegenden oder angedeuteten Kreis hat eine ganz eigene, schöne, stringente Ästhetik und Symmetrie – quasi eine Art Wes-Anderson-Look, nur auf Foodfotos adaptiert.
  • Diese Art der Aufnahme kann mit der Zeit auch eine Art »Markenzeichen« werden, so dass Follower gleich erkennen, von wem das gerade neu gepostete Foodfoto wahrscheinlich wieder stammt.

Als ich heute eine frisch gebackene Brombeerwähe in ihrer Springform fotografiert und gepostet hatte, fragte ich mich, wieviele Fotos ich wohl schon auf diese Art gemacht habe – und schaute mal interessehalber in meinem Archiv nach. Es waren über 300. Eine Auswahl von 289 habe ich daraufhin einmal in einem 17 x 17 -Raster arrangiert und ich finde, das sieht auch als Mosaik sehr appetitanregend aus.

Ich glaube, ich mache einfach genau so weiter. 🙂

289 Leckereien. | Hier klicken für XXL-Ansicht in neuem Tab (10 MB)

Wortnachwuchs

Sprache ist doch etwas Tolles. So unendlich vielfältig, dass man im Prinzip alles damit ausdrücken kann und doch so beschränkt, wenn einem manchmal die Worte fehlen. So einfach und logisch und doch so inkonsequent, komplex und manchmal verwirrend. So präzise und doch oft so doppeldeutig. Man kann Dinge sagen, indem man sie knapp und pointiert formuliert oder indem man sie überbordend ausschmückt, doch manche ellenlangen Texte bleiben trotzdem nach dem Lesen komplett unverständlich. Manchmal genügt ein einziges Wort, um alles von Belang mitzuteilen und manchmal gibt es sogar Momente, in denen unendlich viel gesagt werden kann, indem man einfach nur schweigt.

Sprache ist eine Plattform, auf der alle sich verständigen können, die sie beherrschen und doch ändert sie sich ständig und niemand, kein/e Politiker*innen und kein/e Populist*innen können diesen Prozess auf Dauer unterbinden. Es gibt zehntausende von Wörtern und doch sind es nie genug, so dass ständig neue hinzukommen und jedes Synonym, das es für ein Wort gibt, hat eine abweichende Nuance in seiner Bedeutung.

Ich war schon immer fasziniert von Wörtern und von Kindesbeinen an daran interessiert, mir möglichst viele anzueignen. Ich wollte sie haben, benutzen, mit ihnen arbeiten und spielen. Ich hasse Missverständnisse, die bei unklarer Kommunikation entstehen und die Nachfragen oder sogar Unstimmigkeiten nach sich ziehen und mein Wortschatz hilft mir dabei, dies nach Möglichkeit von vornherein zu vermeiden. Irgendwann schrieb ich mal ins Internet »Effizienz ist die edelste Form der Faulheit« und das ist auch eine meiner Maximen beim schriftlichen und gesprochenen Ausdruck – wenn ich etwas möglichst kurz und eindeutig mitteilen kann, geht es schneller und ich muss nachträglich nichts erläutern, ergänzen oder widerrufen.

Ein Punkt aus meiner Einleitung (»Es gibt tausende von Wörtern und doch sind es nie genug, so dass ständig neue hinzukommen«) interessiert mich z.B. immer wieder besonders. Warum geraten manche Wörter mit der Zeit ins Abseits oder sterben aus und warum gewinnen neue Wörter plötzlich an Popularität und Verbreitung? Ich freue mich immer, wenn ich in Texten oder Gesprächen »alte« Wörter wahrnehme, wie etwa »indes«, »famos« oder »dergleichen«. Und wer kreiert neue Wörter und wieso? Ich finde etwa, dass es noch nie so deutlich spürbar wurde wie heutzutage, dass Politiker über alle Parteien hinweg (und/oder deren Berater) mehr oder weniger geschickt versuchen, ihre Programme oder Maßnahmen mittels Sprache und neu geschaffenen, meist sehr plakativen Begriffen zu »framen«. Die Konsequenz, mit der einzelne Repräsentanten aus Politik oder Wirtschaft bei jedem Medienauftritt ihre jeweils gerade sendebedürftigsten Vokabeln, Floskeln oder sogar ganzen Sätze in absolut identischer Form immer und immer wieder abspulen, hat bisweilen schon etwas Roboterhaftes, stur nach dem Prinzip »steter Tropfen höhlt den Stein« – zwar eindringlich, aber maximal penetrant und völlig entseelt. Einige Begriffe früherer Akteure sind längst in unser aller Wortschatz hineindiffundiert, ohne dass heute noch irgendjemand darüber nachdenkt, woher diese ursprünglich stammen. So fällt zum Beispiel auf, dass das Wort »Entsorgung« als Begriff für die vermeintlich endgültige bzw. unproblematische Beseitigung von Müll oder Abfall seit dem Jahr 1974 signifikant häufiger genutzt wurde, zunächst in den Massenmedien und später auch im alltäglichen Sprachgebrauch der Bevölkerung (siehe Grafik »Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve für Entsorgung und entsorgen«). Im Jahr 1977 stand »Entsorgung« auf Platz 4 der damals seit kurzem von der Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. erkorenen »Wörter des Jahres«. Woher kommt diese plötzliche Popularität? In Deutschland gibt es einerseits seit 1974 ein flächendeckendes Sammelsystem für Glas, also könnte womöglich eine aufkommende breitere Debatte zum Thema Müllvermeidung oder Recycling das Wort »gepusht« haben. Andererseits taucht das Wort gegen Mitte der 1970er Jahre auch verstärkt im Zusammenhang mit der Beseitigung und »End-«Lagerung von Atommüll auf, also könnte der Ursprung eventuell auch dort liegen.

»1975: Untersuchungen zur Errichtung eines Nuklearen Entsorgungszentrums
Beginn der Untersuchung dreier Standorte in Niedersachsen zur Errichtung eines Nuklearen Entsorgungszentrums im Auftrag der Bundesregierung. Mit dem Bekanntwerden der Untersuchung regt sich an allen Standorten Widerstand.«

Quelle: www.endlagersuche-infoplattform.de

Ist es plausibel, anzunehmen, dass der Begriff entweder von Vertretern aus dem Umfeld der Atomlobby kreiert und gezielt medial in Umlauf gebracht wurde? Oder stammt er von Politikern, in deren Interesse es stand, der Bevölkerung zu suggerieren, das Problem des Abtransports und der Einlagerung radioaktiver Abfälle sei problemlos, endgültig und sorgenfrei möglich?

»Wer auch immer die beiden Wörter (gemeint sind Entsorgung und entsorgen) geprägt hat, tat einen genialen Griff. Sie nutzen den Wortschatz der Emotionen für einen euphemistischen Terminus technicus. Das Wort entsorgen legt nahe, man würde nicht nur seinen Müll los, sondern auch seine Sorgen.

Quelle: www.welt.de (2017)

Darüber jedoch denkt heute wohl kaum noch jemand nach. Wir »entsorgen« dank dieses Begriffs mittlerweile alles Mögliche, von der Bananenschale über gebrauchte Batterien und Schlachtabfälle bis hin zu ausgedienten hochradioaktiven Brennstäben. Das Wort und seine beschönigende Aura sind in der Welt und werden sie wohl vorerst auch nicht wieder verlassen.

In diesem länger zurückliegenden Fall ist es schwierig, im Nachhinein klar zu beweisen, wann, wo und von wem der Begriff gezielt oder beiläufig erfunden wurde.

Update: Ich habe noch einen Link zu einem Dokument gefunden, in dem die Wurzeln des Begriffs »Entsorgung« als Synonym für die Beseitigung von (radioaktiven) Abfällen erkundet und auf das Jahr 1975 datiert wurden – sie liegen tatsächlich in der Politik:

Ein Lehrstück zum Thema Verbreitung sprachlicher Ausdrücke bieten die Abschnitte, die die Kommunikationskarriere des Ausdrucks Entsorgungspark behandeln. Dieser Ausdruck wurde im Jahre 1975 im Innenministerium erfunden und dort intern etwa eineinhalb Jahre lang verwendet. In die Öffentlichkeit gelangte das Wort erstmalig im Mai 1975, als Innenminister Maihofer es in einem Vortrag bei einer Reaktortagung verwendete. Die anderen Ministerien, vor allem das Forschungsministerium, zogen »Entsorgungsanlage« vor. 1975 finden sich weitere vereinzelte Verwendungen, z.B. in der Rede eines Bundestagsabgeordneten. Aber schon 1976 verwenden die Experten das Wort nicht mehr; es ist eine terminologische Eintagsfliege. Auch in der Presse sind Belege kaum zu finden.
Nachdem es eigentlich schon tot ist, wird das Wort in den 80er Jahren von Sprachkritikern in den Medien und in der Wissenschaft entdeckt. Es wird als abschreckendes Beispiel eines manipulativen Euphemismus zitiert und als Standardbeispiel weitertradiert. So erlebt es eine Karriere aus zweiter Hand, die bis heute viel dynamischer ist als die unbedeutende Erstkarriere.

Quelle: Gerd Fritz – »Rezension von: Jung, Matthias: Öffentlichkeit und Sprachwandel. Zur Geschichte des Diskurses über die Atomenergie«, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994 – PDF

Für neuere Begriffe aus Politik oder Medien, die in der jüngeren Vergangenheit entstanden, seien sie euphemistisch, neutral oder abfällig (»Gute-Kita-Gesetz«, »Rettungsschirm«, »Abwrackprämie«, »Kopftuchverbot«, »Maskendeal«, »Heizungsgesetz« oder »Heizhammer«, »Impfskeptiker«, »Klimakleber« – die Liste kann endlos fortgeführt werden) lassen sich der Zeitpunkt des Ursprungs und die Zielsetzung weit besser protokollieren. Allein in den drei Jahren der Corona-Pandemie entstanden Hunderte solcher neuen Wortschöpfungen Neologismen«) wie etwa »Distanzbier«, »Impfwurst« oder »Kontakttagebuch« und fast täglich werden wir alle in der Berichterstattung der Medien, in Postings, Kommentaren oder Alltagsgesprächen mit weiteren neuen Begriffen konfrontiert. Einige verschwinden nach einer gewissen Zeit wieder, andere sind gekommen, um zu bleiben. Und alle sind sie entstanden, um den offenbar unzulänglichen vorhandenen Vokabeln im bisherigen Wortschatz etwas hinzuzufügen, nämlich entweder eine Präzisierung oder Ausweitung der Bedeutung und/oder eine neue und starke Assoziationsebene (positiv oder negativ), von der sowohl die Erfinder als auch die bewussten Nutzer des jeweiligen Begriffes in irgendeiner Form profitieren. Dass das Aufgreifen und Weiterverbreiten solcher Neuschöpfungen sehr oft unbemerkt oder unreflektiert geschieht, halte ich für problematisch. Dass selbst »Qualitätsmedien« solche Begriffe arglos, nachlässig oder gezielt übernehmen bzw. kritisch behaftete Wörter dieser Art nicht wenigstens in Anführungszeichen setzen, um damit sowohl deren Framinganspruch zu kennzeichnen als auch journalistische Professionalität zu zeigen, finde ich noch problematischer. Denn so sickern Lobbyismus, Propaganda, Diskriminierung und all ihre manipulativen Verwandten heimlich, still und leise in die Alltagssprache ein und vergiften den Dialog oft unmerklich, gerade auf Kanälen und in Situationen, wo Sachlichkeit im Diskurs dringend vonnöten wäre.

Jetzt ist mir das Thema eigentlich in eine viel zu ernste Ecke abgedriftet. Denn mein Impuls, etwas zu Neologismen zu bloggen, kam eigentlich aus einer ganz anderen Ecke. Ich hörte nämlich neulich in einem privaten Gespräch nach längerer Zeit mal wieder das Wort »Nuckelpinne«. Für diejenigen, die es nicht kennen: es bezeichnet leicht spöttisch ein Fahrzeug (meistens ein Auto), das klein, schwach motorisiert, langsam, minderwertig ist, ähnlich wie »Klapperkiste«, »Schrottmühle« oder »Rostlaube«. Und daraufhin fing ich an, über die Bedeutung und die Ursprünge längst etablierter älterer Neologismen nachzudenken, die teilweise schon wieder drohen, in Vergessenheit zu geraten. Wieso »Nuckelpinne«? Was nuckelt da und warum pinnt es? Warum konnte sich ein derart wenig nachvollziehbarer Begriff für Jahrzehnte im Wortschatz festsetzen? Das Wort steht sogar im Duden! Zum Ursprung heißt es dort: »Herkunft ungeklärt, vielleicht zu nuckeln (wegen der langsamen Bewegung) und Pinne im Sinne von ›etwas Kleines; kleines Teil o. Ä.‹«

Es gibt Dutzende solcher seltsamen Wörter, die sich irgendwann mal jemand ausgedacht haben muss und deren Wortbestandteile sogar häufig deutlich klarer in ihrer Einzelbedeutung sind als »nuckeln« und »Pinne«. Hier mal eine spontan erstellte, natürlich unvollständige Liste:

  • Quetschkommode (Akkordeon oder eine Ziehharmonika)
  • Drahtesel (Fahrrad)
  • Nesthäkchen (kleines Kind, Sprössling, jüngster Nachkomme)
  • Trantüte (langsamer, trödeliger oder behäbiger Mensch)
  • Arschkarte [ziehen] (in die momentan denkbar ungünstigste Lage geraten)
  • Herzkasper (Schreck oder Herzinfarkt)
  • Pappenstiel [etwas ist kein …] (Kleinigkeit, Lappalie)
  • Ratzefummel (Radiergummi)
  • Wuchtbrumme (besonders üppig gebaute oder übergewichtige Frau)
  • Schwerenöter (irgendwie sympathischer, aber auch durchtriebener Mensch)
  • Fersengeld [geben] (zügig entfliehen)
  • Schreckschraube (herrische oder unattraktive Frau)
  • Quadratlatschen (ungewöhnlich große Füße)
  • Zwickmühle (Dilemma)
  • Hüftgold (überflüssige Pfunde in der Bauchgegend)
  • Schnapsidee (törichter Einfall)
  • Wonneproppen (wohlgenährter Säugling)
  • Pappenheimer (Person mit einem erwartbaren, typischen Verhalten)
  • Fracksausen, Muffensausen (Angst)
  • Miesepeter (chronisch übellaunige Person)
  • Feuerstuhl (sportlich motorisiertes Motorrad)
  • Lokalmatador (lediglich örtlich berühmte Person)
  • Pustekuchen (das vergebliche Resultat einer Bemühung)
  • Dreikäsehoch (kleiner Mensch, meistens ein Kind)
  • Nasenfahrrad (Brille)
  • Schlauberger (altkluger Mensch)
  • Korinthenkacker (kleinlicher, übermäßig penibler Mensche)
  • Sesselfurzer (passiver, untätiger, antrieblsoser Mensch)
  • Mummenschanz (Maskerade, Verkleidung, Farce)
  • Schindluder (Missbrauch, Betrug)
  • Drückeberger (faule oder sich ihren Pflichten entziehende Person)
  • Schluckspecht, Schnapsdrossel (Mensch, der übermäßig dem Alkohol frönt)
  • Lustmolch (sich sittenwidrig oder sexuell übergriffig verhaltender Mann)
  • Torfnase, Vollpfosten (begriffsstutziger oder tollpatschiger Mensch)
  • Geizhals (knauseriger Mensch)
  • Grüßaugust (Person, die ein repräsentatives Amt bekleidet, aber keine wirkliche Macht besitzt)
  • Klapsmühle (psychiatrische Klinik)
  • Lackaffe (eingebildeter, eitler, geckenhafter Mensch)
  • Kohldampf (Hunger, Appetit)
  • Zukunftsmusik (aktuell noch nicht relevante Maßnahme/n)
  • Krisenherd (Ursprungsort eines Konfliktes)
  • … Oder auch längere Redewendungen wie »Himmel, Arsch und Zwirn«, »Mein lieber Scholli«/»Mein lieber Herr Gesangverein«, »jemandem zeigen, wo der Hammer hängt«/»jemandem zeigen, wo der Bartel den Most holt« etc.

Damit soll’s erstmal gut sein. Natürlich wäre es interessant, jetzt für jeden der Begriffe, bei dem es nicht intuitiv ersichtlich wird wie z.B. beim »Drahtesel«, die Herkunft oder den Ursprung zu ergoogeln, aber das eigentlich Spannende ist für mich, warum solche Begriffe sich ab dem Zeitpunkt ihrer Entstehung verbreitet und schließlich regional oder im gesamten Sprachraum im Wortschatz etabliert haben. Denn anders als die obengenannten politischen Neologismen, die bewusst zum Zweck des Framings und der Beeinflussung erschaffen und anschließend gezielt über Kommunikation und Medien verbreitet wurden, sind solche »klassischen« Begriffe vermutlich nicht absichtlich entstanden, um möglichst große Verbreitung zu finden, sondern wohl eher aus dem Bedarf heraus, spontan in einem Gespräch oder einem Text für einen Sachverhalt ein Wort zu kreieren, das dessen Benennung eine treffendere, manchmal spöttische oder humorvolle Bedeutungsebene hinzufügt. Das allein ist aber noch kein Grund dafür, dass das Wort danach außer dem Erfinder noch irgendjemand anders verwendet oder dass es sogar »viral geht« und sich auf die gesamte Sprachgemeinschaft ausbreitet. Es könnte genausogut verhallen und nie wieder genutzt werden, was vermutlich auch vielen originellen Neologismen beschieden war, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort geboren wurden und trotz ihres Witzes oder ihrer Pointiertheit wieder in Vergessenheit gerieten. Wie gerne würde ich einige davon kennen! Bei den erfolgreicheren Neuwörtern aber scheint es so zu sein, dass sie ab dem Zeitpunkt ihres Entstehens für so treffend oder originell gehalten wurden, dass viele Menschen beim ersten Kontakt damit sowas dachten wie »geil, das merke ich mir mal!«. Und dieser »Impact« ist für viele historisch überlieferten Begriffe (zumindest für mich und aus heutiger Sicht) schwer nachvollziehbar. Wieso zum Beispiel »Dreikäsehoch« und nicht »Vierziegelgroß«? Warum hat sich der »Warmduscher« (gefühlt) stärker durchgesetzt als »Schattenparker«, »Sitzpinkler« oder »Schiffschaukelbremser«? Wieso wurde die »Quetschkommode« populär, obwohl ein Akkordeon an etliches andere mehr erinnert als an eine Kommode?

Ich selbst habe ebenfalls ein Erlebnis mit einem einst von mir erdachten und öfter genutzten Begriff, den ich inzwischen auch an anderer Stelle »wiedergefunden« habe – und nun gibt es zwei Möglichkeiten: entweder bin ich tatsächlich der Urheber dieser Wortkombination und diese hat sich tatsächlich aus meinen Gesprächskreisen weiterverbreitet, oder jemand anders hatte irgendwann zufällig dieselbe Idee zu dieser Wortschöpfung und nur deshalb taucht sie nun andernorts auf.

Der Ausdruck stammt etwa aus der Zeit, als ich in der 8.–10. Schulklasse war (also etwa 14–16 Jahre alt) und mit einigen Schulfreunden zusammen in unregelmäßigen Abständen eine »Klassenzeitung« namens »Skandal-Post« herausbrachte. Der Zweck der Zeitung war reiner Spaß, wir, die Mitwirkenden wollten unsere kreativen Einfälle in Umlauf bringen, die Klassenkameraden erheitern, zusammen etwas Witziges aushecken. Wir schrieben lustige Lehrerportraits, sammelten lustige Lehrerzitate oder Schüler-Lehrer-Dialoge (Chemieunterricht. Lehrer: »Woraus besteht die Erdatmosphäre?« – Schüler »Wasserstoff?« – »Lehrer: Ja klar. Wenn Onkel Meier sich seine Morgenlulle ansteckt, fegt ein Glutball um die Erde.«) oder kürten in klassenweiter Abstimmung ohne Arg die beliebteste und/oder hübscheste Mitschülerin als »Miss 8f₃«. Im Rahmen der Redaktionsarbeit ging es irgendwann mal um einen Artikel zu inflationären Feiertagen, sprich jene, an denen Schüler in anderen Bundesländern (vornehmlich im katholischen Bayern) unterrichtsfrei hatten, wir in Niedersachsen aber leider nicht. Und als satirischer Stellvertreter dieser gehäuften katholischen Feiertage entstand für die »Skandal-Post« der fiktive Anlass »Mariä Einschulung«. Kein echter Neologismus zwar, sondern eher eine Wortkombination, aber diese habe ich in den letzten Jahren im Netz (ich weiß nicht mehr, wo genau) plötzlich wiederentdeckt und mich natürlich gefragt, wie der dorthingekommen ist. Es wäre mir natürlich eine große Ehre, einen eigenen Begriff in Umlauf gebracht zu haben, aber zweifelsfrei herausfinden oder beweisen, ob es so ist, werde ich wohl kaum können.

Ein anderer Begriff, den ich schon länger gerne benutze (ohne mich erinnern zu können, woher er kommt) und der sich offenbar seit einigen Jahren munter weiter verbreitet, ist die Bezeichnung »Schwumm« (Artikel: der) für einen sportbedingten Gang in ein Badegewässer (z.B. »Ich kam gerade von meinem Morgenschwumm zurück, da klingelte das Telefon.«). Offensichtlich gibt es einen Bedarf für dieses Wort, denn ich kenne kein ebenso kurzes und treffendes Synonym dafür – und dies könnte sowohl seine Verbreitung gefördert als auch begünstigt haben, dass es an mehreren Stellen simultan entstanden sein könnte.

Auf dem Twitterkanal meines Zweitaccounts @wortgeburt sammle ich seit September 2009 Neologismen, die mir gefallen und die ich zumeist irgendwo im Netz oder »draußen« aufgeschnappt habe. Einige davon sind aber auch Eigenkreationen:

  • Klickschweiß (Symptom großer Anstrengung beim Surfen/Recherchieren im Internet)
  • Tupperlawine (was auf einen herabprasselt, wenn man den betreffenden Küchenoberschrank öffnet)
  • Kofferzombies (Menschen an Bahnhöfen und Flughäfen, die mit ungeschickt platzierten Gepäckstücken anderen Reisenden den Weg versperren und dies selbst nicht zu bemerken scheinen)
  • Mumiensteak (sehr zähes gegartes Fleischstück)
  • Misanthropenkongress (könnte man z.B. für neubraune Parteitage nutzen)
  • Wimmerpop (kreiert für Musik von »Silbermond«, aber auch beliebig auf ein ganzes Genre ausweitbar)
  • Genitivreservat (Orte, an denen dessen Anwendung noch gepflegt und geschätzt wird)
  • Nippringe (die schaumigen mehretagigen Restränder im Inneren von Trinkgefäßen, aus denen gemeinhin schluckweise getrunken wird, z.B. Biergläser oder Milchkaffeetassen)
  • Siffnapf (Aufbewahrungsbehälter bei stehenden Klobürsten)
  • Deppengerinnsel (verwandt mit Kofferzombie – Menschengruppen, die diskutierend oder ratlos umherguckend vor Rolltreppen, Durchgängen herumstehen und allen anderen damit den Durchgang versperren)
  • Scrollschal (endlos lange Internetseite, die zum mühevollen Suchen des gewünschten Contentabschnitts zwingt, oft z.B. Rezeptseiten in Foodblogs. Siehe auch: Klickschweiß)
  • Brutschubse (Mutter, die den Kinderwagen mit ihrem Nachwuchs in Menschenmengen vorsätzlich/aggressiv als Rempelwaffe einsetzt)

Ich bin hin- und hergerissen, wie ich angesichts der jüngsten Musk’schen Eskapaden mit diesem Twitteraccount verfahren soll. Löschte ich ihn, gingen aktuell gut 16.400 Tweets mit famosen Wortkreationen verloren (da ich so gut wie keine Replys dort abgebe, entspricht die Zahl der Tweets annähernd den geposteten Begriffen). Würde ich ihn verlassen und anderswo neu aufsetzen wollen, wäre die Frage: »Wo?« Denn meine neue Haupt-Social-Media-Plattform Mastodon hat einen wesentlichen Nachteil gegenüber Twitter: Ich kann beim Erspähen eines (für mich) neuen Wortes nicht per Volltextsuche prüfen, ob es tatsächlich neu ist und erstmals an meinem Fundort Verwendung fand – eine für meinen Anspruch an »Wortgeburten« essenzielle Funktion. 😕

Ich jedenfalls hoffe, es wird weiterhin jeden Tag schöne neue Wortkreationen geben. Gerne mehr von denen, die aus Bedarf und/oder mit heiterer oder milde spöttischer Gesinnung entstehen und weniger von denen, die framen, lobbyieren, diskriminieren, ausgrenzen, herabsetzen oder beleidigen. Denn die Wortschatzkiste wird nie voll sein, und die Kostbarkeiten, die sie birgt, können alle bereichern.

Auch das Produktmarketing bietet vielfältige Impulse zur Kreation von Neologismen, hier u.a. der »Knödelboy«.