Nun war er also angekommen, der riesige (aber gar nicht mal so schwere) Karton mit dem neuen LEMMO One E-Bike. Ich transportierte ihn die Treppen ins 1. OG hoch, machte etwas Platz auf dem Fußboden im Wohnzimmer und sah als erstes einen QR-Code außen auf dem Karton mit dem Hinweis, diesen zu scannen, bevor man den Karton öffnete. Daraufhin wurde ich zu einer Seite bei YouTube geführt, wo ein ausführliches siebenminütiges »Unboxing«-Video alle Schritte erklärt. »Hä?«, mag nun mancher denken, »Auspacken werde ich ja wohl noch selber können!«, aber das Video hat durchaus einen Sinn, denn die Lieferung ist im Inneren des großen Kartons in mehrere »intelligente« Teilverpackungen unterteilt und es ist durchaus von Belang, wie der Karton steht (nämlich hochkant mit einer definierten Seite nach oben orientiert) an welcher Stelle man ihn öffnet (nämlich an einer großen Aufreißlasche an einem der schmalen Enden) und in welcher Reihenfolge und auf welche Weise man dann die modularen Inhalte entnimmt. Denn der Hersteller hat sich durchaus viele und, wie ich finde, gute Gedanken zum Auspacken und Zusammenbauen gemacht. Zunächst entnimmt man eine kleinere Box, in der ein komplettes Werkzeugset und eine Fahrrad-Standluftpumpe mit Druckmesser (!) enthalten sind. Solch großzügiges Zubehör hat mich beim Preis des Rades ehrlich überrascht.
Als zweites entnimmt man das teilzusammengebaute Rad, das auf einem kleinen Kunststoffschlitten, der es auf ebenem Untergrund auch in der Senkrechten stützt, aus dem großen Karton gleitet. Daran ist auch das noch zu montierende Vorderrad befestigt. Noch ein Pluspunkt: sämtliche der ca. 20 Kabelbinder, mit denen die Teile in ihrer Verpackung fixiert sind, haben eine »Entriegelung«, so dass man sie zerstörungsfrei öffnen und ggf. im Haushalt wiederverwenden kann. Viele der Schutzmanschetten sind zwar aus Schaumstoff, aber etliche Polsterungen und Stoßfänger sind auch aus wabenartigem Pappmaterial gefertigt, so dass sich die Menge an Plastikabfall im Rahmen hält.
Ein größerer Wellpapp-Block mit einer Aussparung entpuppt sich als Ständer für das ummontierte Vorderrad, so dass man es ohne gesonderte Stütze senkrecht aufstellen kann, bis der Rest des Rades mit der vorderen Gabel aufgesetzt und verschraubt werden kann. Die Werkzeuge (ein großer gewinkelter Steck-Schraubenschlüssel und mehrere lange Inbusschlüssel in vier verschiedenen Größen) machen einen guten und soliden Eindruck. Im Video werden zum Festziehen der Schrauben Hinweise genannt, wie fest oder nicht so fest man die verschiedenen Schrauben anziehen soll. Das kann man nach Gefühl befolgen oder man hält sich an die exakten Drehmomentangaben, die ich später in der per QR-Code verlinkten PDF-Bedienungsanleitung entdeckte. Dafür braucht man dann allerdings einen eigenen Drehmomentschlüssel.
Der gesamte Aufbau geht natürlich nicht in den sieben Minuten vonstatten, die das Video dauert. Ich habe alles in allem etwa 90 Minuten ausgepackt, gelesen, mehrfach das Video oder einzelne Szenen angeschaut und die Montagehinweise befolgt. Alles war sehr gut verständlich und nachvollziehbar aufbereitet. Etwas verlängert wurde der Aufbau durch einen kleinen Transportschaden – der vordere Schmutzfänger (Kunststoff) hatte durch einen Stoß wohl einen Knick bekommen, der sich nicht durch manuelles Biegen entfernen ließ. Bevor ich diesen Schaden reklamieren wollte, habe ich aber den Versuch einer Reparatur vorgenommen, der auch erfolgreich war: Ich baute das Teil aus, fotografierte den Schaden zu Dokumentationszwecken und übergoss es dann in einer flachen Auflaufform mit 90 °C heißem Wasser. Wie erhofft, »erinnerte« sich der Kunststoff daraufhin weitgehend an seine ursprüngliche Form, ließ sich manuell problemlos wieder zurechtbiegen und behielt diesen Zustand dann in erkaltetem Zustand auch. Yeah!
Der Rest des Aufbaus verlief ohne Probleme, auch der Download der App, die Einrichtung des Accounts und das separate Registrieren des Rades sowie des SmartPacs klappten auf Anhieb. Die mitgelieferte Pumpe ist ebenfalls von guter Qualität und ließ mich die Reifen wie empfohlen aufpumpen. Nun musste ich noch das SmartPac aufladen, bevor ich zur »Jungfernfahrt« startete. Die Wartezeit vertrieb ich mir mit der Lektüre der Bedienungsanleitung und dem Studium der App. Gut: In der Bedienungsanleitung gibt es eine Liste mit möglichen Fehlercodes, die bei Defekten auf dem Display angezeigt werden, das erspart es dem Nutzer, mit kryptischen Kürzeln ratlos alleine dazustehen.
Ein kleiner Minuspunkt bei der ansonsten sehr aufgeräumten und intuitiven Bedienerführung und Dokumentation ist für mich die Übersetzung der deutschen Texte. Denn obwohl LEMMO offensichtlich ein in Deutschland gegründetes und ansässiges Unternehmen ist, laufen sehr viele Prozesse während der Bestellung und Dokumentation auf Englisch ab und Deutsch ist ganz offensichtlich nur »Plan B«. So stehen zum Beispiel auf der deutschsprachigen Website fehlerhafte Sätze wie »Dieses elegante Allroad-Maschine bringt Sie weit.« Bestellbestätigungs-Mails und -PDFs sowie der Rechnungstext sind ebenfalls englisch und die Servicemitarbeiterin, mit der ich wegen der verzögerten Lieferfrist telefonierte, ließ ebenfalls erahnen, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Alles legitim und (bis auf die etwas peinlichen Übersetzungs- und Tippfehler in den Werbetexten) vernachlässigbar, aber in der Software wäre m.E. etwas mehr Sorgfalt angebracht gewesen. Prüft man dort z.B. die Version der Firmware und diese ist auf dem neuesten Stand, erscheint die etwas sonderbare, wenngleich verständliche Meldung »Neueste Version schon!«. Manche ins Deutsche übersetzten Texte umfassen unweigerlich mehr Buchstaben als das englische Original, was dazu führt, dass bei Fortschrittsanzeigen oder Popup-Meldungen Textteile aus dem Display ragen oder die Fläche von User-Interface-Feldern überschreiten und somit für den User nicht lesbar sind. Zwar waren dies bislang nur Textschnipsel minderer Wichtigkeit, aber wer weiß, was noch kommt. Da ist noch Luft nach oben, doch Ähnliches habe ich selbst mit Photoshop schon erlebt, insofern darf man es nicht allein dem Startup-Status des Herstellers ankreiden.
Was noch auffällt, ist das etwas eigenwillige Profil der Reifen (Innova 44-584*). Ich bin gespannt, wie sich diese nach längerer Benutzung auch bei ungünstigeren Wetterverhältnissen auf der Straße verhalten. Optisch aber auf jeden Fall ein Hingucker und rein theoretisch wirken sie nicht, als wäre ihr Grip schlechter als bei herkömmlichen Profilen.
Nachdem das SmartPac aufgeladen war – laut Dokumentation dauert das vollständige Laden des entleerten Akkus gut 3,5 Stunden und ab Werk war er etwa halbvoll geladen, somit ging es schneller – setzte ich es erstmals in die Verriegelung am Rad ein. Dank der guten Anleitungen ging auch dies einfach und problemlos vonstatten. Sowohl am Rad als auch am SmartPac sind Abdeckungen gegen Staub und Feuchtigkeit angebracht, die aber leicht klapp- oder verschiebbar zu öffnen und zu schließen sind. Das Smartpac ist außen interessanterweise mit einer Art Textilbezug versehen, wie sich dieser bei Regen verhält, wird noch zu beobachten sein. Aber gegebenenfalls kann man ja hier mit einem Imprägnierspray bei Bedarf für Schutz sorgen.
Danach probierte ich »im Trockendock« noch die Steuerungen mit den Knöpfen am Lenker aus. Ein kurzer Druck auf den Knopf links lässt die elektronische Klingel ertönen. Ein netter und mäßig lauter Ton ist zu hören, leider mit einer kleinen Verzögerung, was im Gefahrenfall kritisch sein kann. Ich brachte daher sofort wieder wie beim VanMoof eine schön helle und laute herkömmliche Klingel am Lenker an. Ein langer Druck auf den Knopf links schaltet die Beleuchtung ein oder aus. Ein Druck auf beide Knöpfe links und rechts aktiviert und deaktiviert die Bolzenverriegelung des Rades und den Alarmton bei Bewegung im Parkzustand. Der Alarm ist nicht ohrenbetäubend, aber markant, aus meiner Sicht okay. Ein 2 Sekunden langer Druck auf den Knopf rechts soll im E-Bike-Betrieb während der Fahrt den »Turbo«-Modus aktivieren, dessen Benutzung steht allerdings bei mir noch aus. Ein kurzer Druck auf denselben Knopf rechts schaltet beim Fahren bequem und ohne Verzögerung durch die vier Unterstützungsstufen des Motorbetriebs (0 bis 3), die beiden Hebel für die 10-Gang-Schaltung (hoch/runter) sind ebenfalls am rechten Handgriff angebracht.
Am Hinterrad befindet sich eins der spannendsten Bedienelemente des LEMMO One E-Bikes: die patentierte Kupplung zwischen »motorisiertem« und »manuellem« Antrieb. Mit einem einfachen Herausziehen eines Drehknopfes direkt in der Mitte der Nabe und dessen Drehung nach rechts, bis er wieder zurückrastet, schaltet man zwischen den mit Buchstaben klar gekennzeichneten Modi »E« und »M« um. Ich habe das inzwischen mehrfach ausprobiert und bin von der Handhabung sehr angetan.
Nun ging es auf die Straße. Schon das Tragen aus dem ersten Stock nach draußen war deutlich angenehmer als mit meinem vorherigen VanMoof. Ohne SmartPac wiegt das LEMMO One 15 kg, mit SmartPac 3 kg mehr. Einige Kommentatoren kritisierten die recht hohe Montageposition des SmartPacs am Rahmen des Bikes, ich bewerte dies jedoch nicht als kritisch für den Schwerpunkt des Rades bei normalem Betrieb. Lediglich beim stehenden Transport unterwegs, z.B. in einem Bus oder Zug, würde ich das Bike sorgsam gegen Umfallen sichern, um die Halterung des SmartPac vor Schäden bei einem Aufprall zu bewahren.
Das Rad fährt sich »spritzig«, so mein Fazit nach den ersten Kilometern. Die Motorsteuerung springt smooth an und gibt, je nach Leistungsstufe, schon ab Level 2 spürbaren Schub. Der Motor (Dual Mode Hub/540 Wh*) läuft leise und für mich fast unhörbar, die Reifen rollen glatt und leichtläufig ab, die Bremsen (Disc, Zoom-4-Kolben*) lassen sich gut dosiert bedienen und greifen robust. Die erste Probefahrt über rund 8 km Strecke absolvierte ich komplett im E-Bike-Betrieb. Bei kleinen Halten zwischendurch erprobte ich die Ver- und Entriegelung mit dem integrierten Schloss, auch dies verlief problemlos. Insgesamt ein schönes Debüt.
Während der Fahrt konnte ich auch im hellen Sonnenlicht gut das integrierte Display ablesen. Es zeigt kontinuierlich den Ladezustand der beiden Akkus (SmartPac und Bedienelektronik) an, dazu die gefahrene Geschwindigkeit, die gewählte Leistungsstufe des Motors, den Status der Bluetooth-Verbindung und den der Beleuchtung. Ich habe keine Beanstandungen. Insgesamt habe ich bei dem Fahrrad das Gefühl, die Ingenieure und Designer haben sich vorab viele und gute Gedanken über das »Nutzererlebnis« gemacht, so dass das Rad angenehm und mit Spaß gefahren und bedient werden kann. Wäre die App noch ein bisschen sorgsamer umgesetzt (kann ja noch kommen), würde ich fast sagen »Ein E-Bike, wie es eines von Apple sein könnte«.
Die zweite Fahrt machte ich ohne eingesetztes SmartPac und mit ausgekoppeltem Motor im manuellen Betrieb. Hier fiel auf, dass die Kettenschaltung ab Werk bei meinem Rad offenbar nicht präzise genug eingestellt war. Bei etwa der Hälfte der zehn Gänge traten ständige »Kracher« und »Kettenrutscher« auf (gibt es dafür einen Fachbegriff unter Rad-Experten?) Ich werde mal recherchieren, ob es dazu direkt von LEMMO eine Anleitung oder ein Video zur Abhilfe gibt. Ansonsten gehe ich davon aus, dass ein Tutorial für die Justage dieser Art von Schaltung (Shimano Deore, 1×10; 38/11-42 Z*) auch anderswo zu finden sein sollte. Dem kann somit abgeholfen werden, obwohl ich diesen kleinen Makel ein bisschen schade finde, weil er gefühlt etwas auf das Qualitätsniveau der Endkontrolle zurückfällt.
Update: Ich hatte zwar ein sehr detailliertes Video bei YouTube gefunden, in dem die Einstellung einer Kettenschaltung von Grund auf sehr anschaulich erklärt wird, aber glücklicherweise brauchte es diese Maßnahme gar nicht. Es genügten zwei Drehungen des Einstellrades am Schalthebel, um die Schaltung zu justieren. 🙂
Ansonsten war auch die manuelle Fahrt ein angenehmes und Freude machendes Erlebnis. Ich freue mich über meine Kaufentscheidung und hoffe, dass ich mit diesem Bericht vielleicht einigen anderen E-Bike-Interessenten eine kleine Entscheidungshilfe an die Hand geben konnte.
Das Gefühl, mit dem LEMMO Bike One ein Gefährt erworben zu haben, das auch ohne Akku, App und Motor-Zuschaltung jederzeit wie ein ganz normales Rad funktioniert, hat sich nach den aktuellen Nachrichten über die finanziellen Turbulenzen des einstigen E-Bike-Pioniers und Platzhirschen VanMoof noch weiter verstärkt. Ich drücke LEMMO jedenfalls die Daumen, dass das noch junge Unternehmen mit seinem kreativen Konzept Erfolg hat.
Hinterlasst auch gerne einen Kommentar, ich freue mich über jedes Feedback!
* Quelle der genannten Detail-Informationen: Testbericht über das LEMMO One auf der MYBIKE Website.