Bornholm, Tag 2

Der einzige Unterschied im Tagesablauf vor dem Aufbruch zur heutigen Wanderung war, dass wir das Terrassenfrühstück auf der windabgewandten Seite des Hauses einnahmen. Zum einen scheint dort auch vormittags schon die Sonne, zum anderen hatte der Wind deutlich aufgefrischt, so dass es auf der gestrigen Hausseite zu kühl gewesen wäre.

Die Wanderroute heute (Komoot-Link) im Nordosten der Insel ging entlang der steilen Felsklippen »Helligdomsklipperne« und durchs »Døndalen« genannte Tal, mit gut 6,5 km eine eher kurze Route, aber dafür nicht minder abwechslungsreich – blühende Wiesen, grellgelbe Raspfelder, viel Auf-und-Ab. An einer Stelle lag ein umgestürzter Baum über dem Wanderweg, aber eine (nachträglich gegrabene?) Senke im Waldweg machte das geduckte Passieren ohne weiteres möglich. Der Himmel war heute etwas bedeckter und der frische Wind hielt sich ebenfalls. Der Weg war fast über die gesamte Strecke von Bärlauch gesäumt, was wir dazu nutzten, zwei ordentliche Handvoll Blätter fürs geplante Abendessen zu ernten, dazu etwa 200 noch geschlossene Blütenknospen, teils zum »Einkochen« und teils zum Anbraten für feine Frühstücksomelettes an den kommenden Tagen.

Am Ende der Wanderung: Einkehr im Bierlokal »Ølstauan«, wo an 18 Zapfhähnen ausschließlich Biere ausgeschenkt werden, die auf Bornholm gebraut werden. Nach der ausgiebigen Erfrischung dann Heimkehr in die Unterkunft. Nachdem ich zwei kleine leere Marmeladengläser mit den gewaschenen Bärlauchblüten gestopft hatte, um diese dann, mit Olivenöl übergossen, im Backofen bei 160 °C zu garen und gleichzeitig zu konservieren, bereiteten wir das Abendessen zu: Lachsfilet auf der Haut gebraten und anschließend im Ofen unter einer Bärlauch-Parmesan-Pinienkern-Eiweiß-Haube übergrillt, dazu Spinatgemüse. Da es schon spät war, blieb nach dem Essen zu wenig Zeit für einen ganzen Spielfilm, deshalb diesmal zur Unterhaltung erneut eine Folge »Absolutely Fabulous« zum sich-bettschwer-Lachen.

Bornholm, Tag 1

Unsere Tagesabläufe in Urlauben wie diesen sind eigentlich im Grunde meist sehr ähnlich: Ohne Wecker schlafen, bis von selbst aufgewacht wird, duschen, bei geeignetem Wetter ausgiebiges Frühstück draußen auf der großen Terrasse. Danach ein bisschen am Rechner »schaffen«, lesen, Musikhören und anderer Zeitvertreib, derweil der Mann in seiner Wander-App die tägliche Ausflugsroute plant.

Die Wanderung über rund 8 km führte in das Waldgebiet »Paradisbakkerne« (Komoot-Link), vorbei an idyllischen Waldseen, durch schattige Schluchten und über kraxelige Hügelkämme, z.T. mit in den Fels gebauten Treppenstiegen bis zum Endpunkt: der bereits erwähnten Fischräucherei, wo nicht nur ein, zwei kühle Biere auf uns warteten, sondern auch das dortige famose »All-you-can-eat«-Fischbuffet –genossen an einem Daußensitzplatz mit direktem Blick auf Felsen, Küste und Meer. Perfekt!

Durch das recht frühe Abendessen blieb dann noch reichlich Zeit in der Unterkunft für einen großen Film. Heute fiel die Wahl auf den Director’s Cut von »Amadeus«, den ich schon lange im Urlaubs-Discmäppchen mitführte, aber der durch die extreme Laufzeit von 160 Minuten lange ungesehen blieb. Diesmal passte es. Ein genialer Film und der Abräumer bei den Academy-Awards 1985: Bester Film, bester Hauptdarsteller, beste Regie, bestes adaptiertes Drehbuch, bestes Kostümdesign, bester Ton, bestes Szenenbild, bestes Make-up/Frisuren, bester Hauptdarsteller, beste Kamera und bester Schnitt.

Und ich vergebe hiermit noch einen Oscar für diesen ersten Tag.

Mal wieder Bornholm …

Zum achten, zehnten oder zwölften Mal? Egal, ich zähle ja auch nicht, wie oft ich mein Lieblingsgericht esse oder meinen Lieblingsfilm schaue. Die Anreise in Richtung meiner Lieblingsinsel jedenfalls war diesmal sehr gemütlich: Ich fuhr am Freitag mit dem Zug von Hamburg nach Ostseebad Binz, wo ich gegen Abend mit dem Mann und seinem Auto, angereist aus Berlin, zusammentraf. Übernachtung im Hotel, zuvor ein kleiner Rundgang durch den Ort, Abendessen und Willkommensbier(e) im Braugasthaus »Doldenmädel« und danach noch ein kleiner Abstecher zur abendlich sehr stimmungsvoll indirekt beleuchteten Seebrücke. Im Hotelzimmer konnten wir erfolgreich das MacBook an den Hotelzimmerfernseher anschließen und gönnten uns noch eine Folge »Absolutely Fabulous« als heiteres Betthupferl.

An nächsten Morgen nach dem Frühstück mussten wir dann nur eine Viertelstunde Autofahrt nach Sassnitz hinter uns bringen und konnten anschließend auf der (recht vollen) Fähre gut drei Stunden die Überfahrt ohne weitere Autokilometer genießen.

Nach dem Anlegen in Rønne sorgte ein kurzer Zwischenstopp beim großen »Kvickly«-Supermarkt für die Erstbefüllung des Kühlschranks, anschließend nochmal knapp 20 km Fahrt in den äußersten Norden der Insel zur Unterkunft, unserem »Stammferienhaus« in der Nähe des Örtchens Allinge, wo wir einen weiteren Zwischenstopp am Ladengeschäft der Fischräucherei einlegten und uns mit köstlichen hausgemachten Salaten fürs Abendessen eindeckten. Dann am Haus schnell das Auto entladen, die Betten beziehen (nichts ist lästiger als das erst spät abends direkt vor dem Schlafengehen machen zu müssen) und dann noch mal raus an die frische Luft zu einem kleinen Rundgang mit Endpunkt in der »Underbar«, dem Craft-Beer-Ausschank in einem der örtlichen Hotels. Zum Abendessen dann ein großes Fischsalatbüffet im Wohnzimmer und eine Doppelfolge »Picard«.

Angekommen.

Uhrschlamm

Letzte Woche, während meines Kurzurlaubs in München, war ich in größerer Runde zu Gast im »Giesinger Bräustüberl«. Es war ein semi-geschäftliches Treffen mit dem Mann, am Vorabend einer Statistiker-Konferenz und es gab deftige Speisen und reichlich bayerisches Bier. Gegen Ende der Tafelrunde wurde ich erstmals Zeuge, wie einer der Gäste mit seiner Apple Watch seine Rechnung beglich. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, aber am Tisch entwickelte sich daraufhin ein kurzes Gespräch über Armbanduhren – wer (noch) keine Smartwatch hat, wer besitzt eine »normale« Uhr, mit der man nichts bezahlen kann, wer trägt keine und aus welchem Grund nicht, beziehungsweise wer trägt eine und wieso.

Ich trage seit mindestens 20 Jahren keine Armbanduhren mehr, hauptsächlich aus zwei eher praktischen Gründen: seit ich ständig ein Handy bzw. Smartphone bei mir habe, geschehen für mich der Zugriff und der Blick aufs Display nahezu genauso schnell wie das Hochschieben des Ärmels und der Blick auf die Armbanduhr. Außerdem hat sich auch die Anzahl der Uhren im privaten und öffentlichen Raum gefühlt vervielfacht: auf dem Computermonitor, an der Mikrowelle, auf der Wanduhr, an Straßenkreuzungen, Ladenfassaden, in Schaufenstern, an Haltestellen und Bahnhöfen – überall sind analoge und digitale Zeitmesser anzutreffen. Man muss nicht mehr nach der Uhrzeit suchen, man wird quasi von ihr auf Schritt und Tritt verfolgt.
Der zweite Grund ist, dass mich mit den Jahren – insbesondere in warmen Sommermonaten – das schwitzige Gefühl unter dem Armband und die damit verbundene unweigerliche allmähliche Ansammlung von »Schmulk« auf und an dem Riemen störte, ich fand es zunehmend unangenehm und unhygienisch, egal, ob es ein metallenes Gliederarmband war oder eines aus Leder, Kunststoff, Gummi oder Stoff.

Das Gespräch am Wirtshaustisch erinnerte mich jedoch daran, dass ich einst ein begeisterter Armbanduhrenträger war, mir oft und gern ausgefallene Uhren zulegte und sie regelrecht »sammelte«. Mit »ausgefallen« meine ich keineswegs teuer. Nobeluhren interessieren mich nicht die Bohne, überteuerte Protzchronometer lassen mich kalt. Nicht, weil sie außerhalb meines Budgets liegen – selbst wenn ich alles Geld der Welt besäße, würde ich mir keine Luxusuhr zulegen. Geh weg, mir egal, kein Interesse, langweilig, passt nicht zu mir.

Mein »ausgefallen« ist anders definiert: originell, formschön und auffällig – aber nicht schrill. Und tatsächlich bewahre ich in einer Schublade die schönsten meiner Uhren immer noch auf. Obwohl ich sie nicht mehr trage, konnte ich mich bisher nicht davon trennen. Alle sind noch funktionstüchtig, wenngleich ohne Batterien gelagert. Es folgt nun ein kleiner Blick in mein privates »Uhrenmuseum«, ungefähr in der Reihenfolge ihrer damaligen Anschaffung:

1983 brachte der japanische Uhrenhersteller SEIKO eine kleine Sensation auf den Markt: eine der ersten Digitaluhren mit Matrix-Display, etlichen Zeitmess- und Alarmfunktionen und – einem Textspeicher! Man konnte in sieben »Memo-Channels« jeweils einen alphanumerischen Textschnipsel mit sagenhaften 16 Zeichen Länge ablegen, also insgesamt 112 Zeichen Speicherkapazität, das reichte manchmal sogar für einen elektronischen Spickzettel. Dieses Nerdjuwel musste ich unbedingt haben und so setzte ich die »Multi-Memory-Watch« D409 S auf meinen nächsten Geburtstags-Wunschzettel – und wurde nicht enttäuscht.

Etwa zur gleichen Zeit begann der Siegeszug der »swatch« Plastik-Uhren. Die Uhr wurde zum erschwinglichen Modeaccessoire, jedes Jahr gab es neue Modelle mit schlichten oder exzentrischen Designs, in gedeckten Farben oder kunterbunt. Ich besaß etwa 5–6 davon, manche habe ich als »Sammlerstücke« nie getragen, in meiner Uhrenschublade befindet sich inzwischen keine mehr. Eine, an die ich mich aufgrund dieses Fotos noch erinnern kann und die ich eine Zeitlang trug, war das Modell »Pinstripe« aus der Spring Summer Collection 1985.

Von dem ebenfalls in der Schweiz ansässigen Uhrenhersteller MONDAINE kam 1986 die Handgelenksversion der klassischen »Bahnhofsuhr« auf den Markt. Bis heute finde ich es ein bisschen schade, dass es nicht gelang, von der großen Mutter-Uhr auch das typische kurze Verharren des Sekundenzeigers auf der »Zwölf« und den nachfolgenden kleinen Ruck des Minutenzeigers zum nächsten Markierungsstrich auf die Armbanduhr-Version zu übertragen. Die Uhr wird bis heute in leicht veränderter Form immer noch produziert. Ein Klassiker.

Dass man gar nicht unbedingt komplett sichtbare Zeiger oder Zahlen und Markierungen auf dem Zifferblatt braucht, beweist dieses schöne und schlichte Exemplar, das mir bis heute ausgesprochen gut gefällt. Ein Hersteller oder Fabrikat ist auf dem Gehäuse nicht vermerkt. Ein besonderes Detail sind die beiden weißen Segmente des Stunden- und Minutenzeigers – sie wurden phosphoreszierend beschichtet und glühen blassgrün im Dunkeln. Das Gehäuse ist tatsächlich nicht aus Kunststoff, sondern aus mattschwarz beschichtetem Metall.

Als Modell für Menschen mit guter Sehkraft (in der Schublade ohne Armband aufbewahrt) präsentiert sich dieses originelle chromglänzende Exemplar mit seinen zwei winzigen Zifferblättern, eins für Stunden und Minuten und eins nur für die Sekunden. Auch hier wurde verständlicherweise aus Platzgründen auf Zahlen und Markierungen verzichtet. Auf der Rückseite des Gehäuses ist der Schriftzug »MODERN TIME« eingraviert, es handelt sich wohl um eine Mode-Uhr – nicht besonders kostspielig, aber trotzdem schön schlicht und in puncto Design mit dem »gewissen Etwas«, wie ich nach wie vor finde.

An Wanduhren und Wecker der 1970er Jahre erinnert dieses deutlich später erworbene Modell im Retro-Design: eine »analoge Digitaluhr«, bei der zur Abwechslung mal der »Zeiger« als dünne Linie stillsteht, sich aber dafür die Scheiben der Zifferblätter darunter drehen. Auch die Anordnung der Zeitanzeige ist »andersherum«: Die Scheibe mit der Stundenanzeige ist die größte, die mit dem kleinen roten Dreieck der Sekundenanzeige hat den kleinsten Radius. Genauso schön metallisch glänzend verkapselt wie die zuvor gezeigte Uhr mit den Mini-Zifferblättern, aber etwas »maskuliner« im Design.

Noch einmal die Marke SEIKO, aber diesmal deutlich moderner als beim ersten gezeigten Modell. Ungefähr 1990 brachte das Unternehmen Uhrenmodelle unter dem Namen KINETIC auf den Markt. Das Besondere: es waren »Automatik-Quartzuhren«. Wie frühere Automatik-Uhren bezogen sie die Energie für ihren Antrieb aus den Bewegungen des Trägers, aber hier wird kein mechanisches Uhrwerk aufgezogen, sondern eine Batterie aufgeladen, die das Quartzuhrwerk speist. Ein Batteriewechsel ist somit nicht mehr erforderlich. Cool finden, haben wollen.

Ein Konkurrent der swatch-Uhren in einem vergleichbaren Preissegment, mit ständig neuen Kollektionen, aber einem deutlich nostalgischeren Designkonzept, ist die 1984 gegründete amerikanische Uhrenhersteller FOSSIL. Bei diesem Exemplar irgendwann aus den 1990er Jahren hatten es mir die Farb- und Formzitate technischer Geräte aus den USA der späten 1950er Jahren angetan, wie z.B. bei den damaligen Straßenkreuzern oder Kühlschränken. Auch der Schriftzug der Uhrenmarke wechselte bei FOSSIL oft passend zum Design der jeweiligen Uhr.

Meine zweite FOSSIL-Uhr bewegt sich stilistisch irgendwo zwischen 30er/40er-Jahre Retro-Design und Steampunk. Statt einem glänzend silbernen Uhrengehäuse besitzt sie eins, das an mattes Messing erinnert und mit künstlicher Patina auf alt getrimmt ist. Das Modell stammt ebenfalls aus den 1990er Jahren, etwa als auch in meinem Tätigkeitsfeld Grafik-Design gerade eine Retro-Welle »angesagt« war und Designer wie Charles Spencer Anderson oder die Duffy Design Group mit ihren nostalgischen Entwürfen Erfolge feierten. Die Anschaffung der zu diesem Trend passenden Uhr war damit ein Muss.

Wer in den Achtziger Jahren die Schulbank drückte, erinnert sich sicherlich noch an die glühenden Ziffern auf den Displays der damals gängigen programmierbaren wissenschaftlichen Taschenrechner, wie z.B. dem TI-57 von Texas Instruments. Diese Vorläufer- bzw. Konkurrenztechnik mit ihren relativ stromfressenden LED-Segmenten fand sich auch in einigen frühen Digitaluhren. Sie zeigten zwecks Schonung der Batterie die Zeit nur auf Knopfdruck für einige Sekunden an. Dieses schöne Exemplar habe ich Anfang der 2000er Jahre für wenig Geld auf einem Flohmarkt ergattert und mit einem neuen Armband versehen.

Unerfüllte Uhrenwünsche

Eine außergewöhnliche Uhr des Designers Tian Harlan, die in den 1980er/1990er Jahren für längere Zeit auf dem Markt war und mir sehr gefiel, war die CHROMACHRON. Sie nannte sich »Farb-Zeit-Uhr« (der Werbeslogan lautete »Die Uhr, die Zeit hat«) und besaß keinerlei Zeiger, sondern nur eine einzige schwarze Scheibe, deren 30°-Aussparung über den zwölf verschiedenfarbigen Stundensegmente des »Zifferblatts« rotierte und nur ungefähr anzeigte, wie spät es gerade war. Sicherlich kam man mit etwas Übung auf eine Genauigkeit von ±5 Minuten, aber diese Uhr war definitiv nichts für Pünktlichkeitsfanatiker. Lange hortete ich einen Prospekt dieses in limitierten Auflagen produzierten Designerstücks, aber der damalige Kaufpreis von mehreren hundert DM lag weit außerhalb meines Budgets – und so blieb es beim Begehren.

Noch unerreichbarer war eine ebenfalls limitierte Uhr nach einem Entwurf von Andy Warhol, die Ende der 1980er Jahre vom Uhrenhersteller MOVADO angeboten wurde. Der Name des Kunstobjekts war »Times/5« (Ansicht: siehe Link 1 / Link 2). Es war eigentlich nicht nur eine Armbanduhr, sondern umfasste fünf rechteckige, voll funktionale Uhrengehäuse, die durch Scharniere miteinander zu einem breiten tragbaren Armband verbunden waren. Auf den fünf zahlenlosen Zifferblättern, unter den signalroten Zeigern, waren verschiedene von Andy Warhol aufgenommene Schwarzweiß-Fotografien der Skyline Manhattans zu sehen. Am nächsten durfte ich dieser Uhr einmal im Schaufenster eines Juweliers/Uhrenhändlers in Münster kommen, wo ich zu dieser Zeit studierte und so konnte ich das Objekt der Beigierde zumindest einmal aus 30 cm Entfernung durchs Sicherheitsglas anschmachten. Für die Uhr wurde damals nach meiner Erinnerung ein Preis von 10.000–15.000 DM verlangt, was natürlich jeden finanzierbaren Rahmen sprengte. Hätte ich sie mir allerdings damals leisten können, wäre sie heute (allerdings nur ungetragen) ein Vielfaches wert.

Seit 1999 bin ich ununterbrochen im Besitz eines Handys oder Smartphones und so hießen meine Zeitmesser fortan Siemens C25, Nokia 3310, Motorola RAZR V3, Nokia 6131 oder iPhone. Die kann ich zwar nicht am Handgelenk tragen – aber das Bezahlen geht inzwischen damit genauso gut wie mit einer Armbanduhr.

Im Schneckentempo

Schon wieder denke ich über Zeug nach. In letzter Zeit oft über Dinge, die sehr, sehr langsam passieren.

Bei manchem Schaufensterbummel, meist etwas abseits der teuren, gut besuchten Einkaufsstraßen, fallen mir ziemlich oft kleinere Läden auf, bei denen ich mir auf den ersten Blick nicht ganz sicher bin, ob sie geöffnet haben. Manche Eingangstür ist etwas verwittert, der Türgriff korrodiert, die Farbe blättert ab. Folienschriften auf dem Ladenfenster sind verblichen, haben Risse, sind fragmentiert, abgeblättert oder lösen sich einrollend an den Rändern ab. Im Schaufenster hängen staubige, vergilbte Werbedrucke, aus denen sich durch jahrelange UV-Bestrahlung alle Magentatöne verabschiedet haben, auch das Gelb litt sichtbar, was bleibt, sind Cyan und Schwarz. Aber die Läden sind geöffnet, der oder die Besitzer*innen sind gewiss schon etwas älter, womöglich steht der Ruhestand kurz bevor. Trotzdem regt sich bei mir die Frage: wieso hat der Gewerbetreibende es soweit kommen lassen? Die Werbeplakate nicht gelegentlich ausgetauscht, die Fenster geputzt, die Folienbuchstaben erneuert oder die Fassade renoviert?

Wenn ich mit der U-Bahn den Heimweg antrete, steige ich häufig an einer der beiden nächstgelegenen Stationen in Hamburg-Barmbek aus, sie heißt Habichtstraße. Wenn ich vom dortigen Bahnsteig die steinernen Treppenstufen hinuntergehe, fällt mir jedes Mal auf, dass die vordere Kante der Treppen nicht schnurgerade verläuft, sondern zur Mitte hin etwa drei Millimeter nach innen eine »Delle« aufweist. Das ist bei jeder Stufe leicht anders und legt nahe, dass die Stufenkante im Laufe der Zeit (die Station wurde 1930 in Betrieb genommen) durch Abertausende Schritte der Fahrgäste und Treppenbenutzer abgetragen wurde, Mü für Mü, bis diese Delle augenfällig wurde. An anderer Stelle, etwa in Bremen beim Denkmal der »Bremer Stadtmusikanten« oder – wieder ganz bei mir in der Nähe – in der Lendengegend der Aktstatue »Jüngling mit Schale«, an der ich unweigerlich auf dem Weg zum Wocheneinkauf vorbeikomme, fällt auf, dass selbst die Patina und das Bronzematerial durch reines Anfassen, ohne Zutun von Schleifwerkzeugen oder anderen mechanischen Hilfsmitteln, über Jahre und Jahrzehnte abgetragen wird, so dass das glänzende, unoxidierte Metall sichtbar wird. Es gibt etliche solche durch Neugier oder Aberglaube partiell abgenutzten Skulpturen weltweit.

Ich erinnere mich auch noch an die flüchtige Begegnung mit einer Frau, irgendwo in einem Supermarkt. Sie war geschätzt Mitte, Ende fünfzig, hatte blondiertes, sorgsam frisiertes Haar und gehörte zu den Frauen, die es für modisch geboten oder ästhetisch vorzuziehen halten, sich die eigenen, natürlichen Augenbrauen auszuzupfen und mit einem schwarzen Kajalstift neu aufzumalen. Ich bewerte das nicht, es möge sich jede(r) so herrichten, wie es nach eigenem Gutdünken beliebt. Was mir jedoch auffiel, war, dass die gemalten Brauen der Dame sich an einem anatomisch recht abwegigen Ort befanden: sie waren von der herkömmlichen Position gut vier Zentimeter nach oben abgerückt und prangten nun knapp unter dem Haaransatz der Trägerin. Ich grübelte. Hatte sie das von Anfang an so gemacht und einst schon nach dem ersten Auszupfvorgang beschlossen, ihr kosmetisches Werk so weit oben zu platzieren? Oder waren die gemalten Brauen über die Jahre oder Jahrzehnte Millimeter für Millimeter weiter nach oben gerutscht, bis die anatomische Barriere des Haaransatzes einer weiteren Verschiebung Einhalt gebot? Ich glaube, sehr viele insbesondere schon ältere Menschen mit bizarren Frisuren oder wunderlichem Make-up haben diesen Stil selten plötzlich und aus dem Stegreif kreiert, für viel wahrscheinlicher halte ich eine ganz allmähliche Metamorphose, die sich von ihnen selbst unbemerkt vollzog, in hohem Alter vielleicht auch bedingt durch einen Sehkraftverlust, Einschränkungen der Wahrnehmung oder nachlassende motorische Fähigkeiten.

Ich selbst hatte auch mal an mir das Phänomen der unmerklich wandernden Selbstverzierung beobachten können. In den späten Neunziger Jahren fand ich es eine Zeitlang schick, mir einen fein gestutzten »Goatee«-Kinnbart stehen zu lassen, Haare und Bart waren passend zueinander leicht kastanienfarben getönt und jeden Morgen wurde vor dem großen und gut ausgeleuchteten Badezimmerspiegel der schmale Oberlippenteil des Bartes, seine dünnen herabführenden Ausläufer und der Kinnbereich mit einem Klingenrasierer präzise in Form gehalten. Dachte ich. Damals™ machte man noch deutlich seltener »Selfies« als heute, aber eines Tages wurde ich mit einem Fotoabzug konfrontiert, auf dem mich jemand fotografiert hatte. Ich erschrak und dachte »Ups, mein Bart ist ja total schief!«. In der Tat hatte ich zwar die Form des Bartes konstant gehalten, aber offensichtlich war er mir unmerklich im Laufe der Wochen (Monate?) ca. 8 mm aus der Gesichtsmitte gerutscht. Im Spiegel fiel mir das nicht auf, der gewohnte (spiegeverkehrte) Anblick schien jeden Tag derselbe, aber das ungewohnt seitenrichtige Foto führte mir die Abweichung unwiderlegbar vor Augen. Ich glaube, kurz darauf änderte ich meinen Bartstil zu einer Variante, die weniger präzise Stylingmaßnahmen erforderte.

An manchen Tagen, meistens im anbrechenden Frühjahr, scheint die Sonne durch die Fenster in meine Wohnung, in der ich als sehr ortsfester Mieter mittlerweile seit über 20 Jahren wohne, und entlarvt unbarmherzig die Oberflächen und Stellen, die in den düsteren Herbst- und Wintermonaten ganz offensichtlich beim Putzen vorübergehend vernachlässigt wurden. Da muss ich dann ran und zu geeigneter Zeit mal wieder etwas gründlicher in den Ecken, auf Simsen und Leisten, zwischen Heizkörperrippen und auf senkrechten Kachel- und Schrankflächen wischen und putzen. Kein Problem, das lässt sich vergleichsweise unaufwendig, wenn auch mittels lästiger Arbeit, korrigieren. Aber die Sonne bescheint noch andere Details und lässt mich stutzen, dass ich diese nicht schon früher bemerkt habe. Da findet sich »plötzlich« eine dünne Leiste Rost an der Unterkante des blaulackierten Badezimmerspindes. Die Griffe am Geschirrschrank in der Küche sind »auf einmal« stark abgenutzt, der Lack abgeblättert. Die Messingtürklinken haben matte, dunkel angelaufene Stellen. Die Wohnung »verwittert«, jeden Tag ein winziges Bisschen, ohne dass ich es auf Anhieb mitbekomme. Jemandem, der nur alle vier Jahre bei mir zu Besuch käme, würden diese Veränderungen bis hin zum Renovierungs-oder Erneuerungsbedarf, definitiv viel deutlicher auffallen.

Wenn sich etwas Plötzliches ereignet, das unbeabsichtigt zu Entstellung, Wandel, Zerstörung oder Veränderung führt, sei es ein Wohnungsbrand, ein Wasserschaden, ein Verkehrsunfall, eine Verletzung, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen oder Erdbeben, tritt der neue Zustand in so kurzer Zeit ein, dass der Unterschied zu vorher unübersehbar ist. Das nennt man dann »Umbruch«, »Unglück«, »Katastrophe« oder »Desaster«. Ich glaube aber mittlerweile, dass die stillen, unmerklichen, sich in mikroskopischem Tempo außerhalb unserer bewussten Zeitwahrnehmung vollziehenden Veränderungen uns und die Welt mit viel brachialer Wucht verändern, als den meisten Menschen bewusst ist. In maximal langen Zeiträumen können sich Milliarden Tonnen Gestein zu kilometerhohen Gebirgen emporfalten, ganze Kontinente verschieben. Säße man auf einem ewig haltbaren Stuhl daneben, unsterblich und mit hinreichend haltbarem Proviant, würde es hingegen sehr schnell langweilig werden. Es passiert ja nichts.

Ein gutes Beispiel ist auch der Klimawandel. In der schönen, oberflächlich sauberen Wohnung unserer Zivilisation vollzieht sich eine Veränderung, die bislang viel zu langsam offenbar wurde, als wir es bemerken konnten. Aber nun scheint die Sonne ins Zimmer und beleuchtet die Risse und Verwerfungen, die ein baldiges Handeln erfordern, wenn die Behausung nicht unbewohnbar werden soll. Innerhalb der letzten rund 260 Jahre stieg die CO₂-Konzentration um ca. 130 ppm von ungefähr ~280 ppm im Jahr 1750 auf ~410 ppm im Jahr 2010 (Werte und Jahreszahlen habe ich bewusst ausgewählt für einfacheres Rechnen). Somit kam im Schnitt alle zwei Jahre ein ppm hinzu. Ein ⁠ppm⁠ entspricht einem Molekül Kohlendioxid pro einer Million Moleküle trockener Luft. Es dauerte also ganze zwei Jahre, bis innerhalb dieser Maßeinheit aus 280 CO₂-Teilchen 281 wurden. Lächerlich langsam, lächerlich wenig. Genauso wie der Meeresspiegelanstieg, der im Zeitraum zwischen 1901 bis 2010 popelige 1,7 bis 3,7 mm pro Jahr betrug. Jede Pfütze nach einem Regenschauer ist tiefer, wie sollten davon Städte und Inseln überflutet werden? Noch lachen sie.

Oder das stetig gestiegene Aufkommen an Automobilen. Wie kämen jemandem, der etwa aus dem Jahr 1930 mit dem damals nur sehr überschaubarem Autoverkehr hierher »gebeamt« werden würde, unsere heutigen Städte und Straßen vor? Ich vermute, er oder sie wäre zu Recht entsetzt, dass überall derartige Massen an Fahrzeugen fahren und vor allem herumstehen, für uns hingegen ist das ganz allmählich über Jahre und Jahrzehnte leider zu einem alltäglichen Bild geworden (siehe dazu auch dieser wunderbare Sketch aus der Satiresendung »extra 3«).

Ich glaube, das Langsame, Allmähliche ist es, das die Welt wirklich prägt und verändert. Sedimente, Patina, Erosion, Oxidation, Verwitterung, Diffusion, Plattentektonik. Überall um uns herum wallt, wandelt, altert, haucht, schabt, driftet und knistert es unmerklich. Menschen, die lautstark fordern, es solle doch bitte alles so bleiben, wie es früher immer war, setzte ich gerne eine VR-Brille auf, die ihnen die Welt milliardenfach beschleunigt vorführt. Danach könnten wir uns gerne weiter unterhalten.

Drama, Baby!

So richtig wurde ich durch die französische Schauspielerin Isabelle Huppert eigentlich erst durch einen »cinephilen« Freund aufmerksam. Sicher, ihren Namen kannte ich schon vorher und auch ein Gesicht verband ich damit. Aber dass ich mir gezielt Filme anschaute, in denen sie mitspielt, das geschah erst danach. Nicht jeder Eintrag in ihrer Filmographie ist ein Glanzstück, aber es gibt schon eine ganze Menge sehr interessanter, dramatischer, amüsanter oder bizarrer Werke. So hat mir etwa der ebenso beklemmende wie originelle Film »Elle« ausgesprochen gut gefallen, ich mochte auch die Tragikomödie »Ein Chanson für Dich«, die überdrehte Drogenposse »Eine Frau mit berauschenden Talenten« (Kopfnuss mal wieder an den deutschen Übersetzer, Originaltitel »La Daronne« [dt.: »die Alte«]), den nicht immer ganz schlüssigen, aber fesselnden Psychothriller »Greta« oder das Mutter-Tochter-Drama »I’m Not a F**king Princess«. In all diesen Filmen stiehlt Huppert ihren Schauspielkollegen in fast jeder Szene die Show und hat nie ein Problem damit, sich in der Haut ihrer Figuren bis an die Schmerzgrenze zu bewegen – in puncto Grausamkeit, Verletzlichkeit, Exzentrik oder Monstrosität. Allen obengenannten Filmen ist allerdings gemein, dass sie erst nach 2010 entstanden – ich nähere mich dem Werk der Darstellerin, die immerhin seit 1971 vor der Kamera und auf der Bühne steht, daher quasi »rückwärts«. Das hängt auch damit zusammen, dass etliche ihrer älteren Filme leider bei Streaming-Anbietern nicht oder nicht mehr angeboten werden. Gerne würde ich etwa »Heaven’s Gate« (1980) einmal sehen, »Malina« (1991) oder »Marie Curie – Forscherin mit Leidenschaft« (1997). Aber Fehlanzeige. Und auch die letzte verbliebene Videothek hier im Viertel hat solche älteren, wenig publikumswirksamen Filme leider nicht im Sortiment. Gebraucht sind ältere Filme zwar auf DVD erhältlich aber als Raritäten auch gerne etwas teurer und auf Verdacht sind mir solche Ausgaben immer etwas zu riskant.

Ab und zu jedoch springt das gute alte Fernsehen in die Bresche und wiederholt Frühwerke der Schauspielerin. In der arte-Mediathek gab es etwa vor kurzem das düstere Krimi-Melodram »Rückkehr zur Geliebten« (1979) zu sehen (dazu ein Posting bei Mastodon) und gerade gestern schaute ich dann, ebenfalls auf arte, »Die Spitzenklöpplerin« (1977), ein Drama über die erste Liebe einer schüchternen jungen Frau (Huppert war damals 24, spielt aber eine erst 18-Jährige), die an der Beendigung der Beziehung durch ihren Partner zerbricht. Kein Happy-End also. In beiden Filmen spielt sie übrigens sehr viel stillere, introvertiertere und verletzlichere Charaktere als in den später entstandenen, die ich kenne. Ich fand beide Filme sehenswert und interessant, aber gleichzeitig musste ich innerlich, selbst bei dramatischen Szenen, bisweilen schmunzeln, weil sie mir stellenweise als »typische« französische Dramen aus den 1960er bis 1980er Jahren vorkamen, deren Stilmittel und Versatzstücke sich als überspitzte Klischees sehr schön, vielleicht in einem fiktiven Kurzfilm, komprimieren ließen: Tristesse, Beziehungsprobleme, Seitensprünge, Hassliebe, Zigarettenrauchen, Paris, Melancholie, Abschiede, Gewalt, Intrigen, Psychoterror, Leidenschaft, Wechselbäder der Gefühle. Ich möchte das nachfolgend einmal beispielhaft ausprobieren:

Wir befinden uns in Paris. Der Himmel ist wolkenverhangen. Es scheint kühl zu sein, unzweifelhaft Herbst, die Menschen in der Stadt tragen warme Jacken und Mäntel und gehen mit eingezogenen Köpfen durch die Straßen. Durch das transparente Spiegelbild der Straßenlebens in der Glasscheibe eines Cafés fokussiert sich die Kamera auf eine gutaussehende, zeitlos elegant gekleidete Frau mittleren Alters, die allein vor eine Tasse Kaffee und einem Aschenbecher an einem fensternahen Tisch sitzt, raucht und nach draußen schaut. Sie blickt nach oben zum Himmel, runzelt die Stirn, schaut auf ihre Armbanduhr, winkt nach der Bedienung und zahlt. Dann schlüpft sie in ihren Mantel, nimmt ihre Handtasche und steht auf, um das Café zu verlassen. Sie tritt hinaus auf die Straße, es beginnt leicht zu regnen. Sie geht schnellen Schrittes zu einem benachbarten Zeitungskiosk und kauft sich die aktuelle Ausgabe des »Figaro«, währenddessen verstärkt sich der leichte Regen zu einem Wolkenbruch. Sie hält sich die Zeitung schützend über den Kopf und eilt zwischen den vereinzelt fahrenden Autos auf die andere Straßenseite, wo sie im überdachten Hauseingang eines kleineren Hotels Unterstand findet. Dieses Hotel scheint auch ihr Ziel zu sein, sie schaut nochmals auf ihre Uhr und blickt suchend nach links und rechts. Ein Taxi hält vor dem Eingang und ein Mann, leicht graumeliertes Haar, steigt aus, zahlt, erblickt die Frau im Hauseingang und geht auf sie zu. Sie begrüßen sich mit zwei »bises«, haken einander ein und betreten das Hotel. Die Kamera schwenkt an der Fassade des Gebäudes empor zu den oberen Stockwerken.

Schnitt. Wir befinden uns nun in einem Zimmer des Hotels. Die Frau steht rauchend am Fenster, Regentropfen rinnen an der Scheibe herab, durch den Regen sieht man von oben auf die Silhouette der Stadt. Der Mann sitzt auf einem Sessel und starrt von sich hin, beide Hände am Kinn. Die Frau zieht an ihrer Zigarette und bläst den Rauch gegen die Fensterscheibe.

Frau: (zum Mann, aber ohne sich zu ihm umzudrehen) Hast Du es ihr gesagt?
Mann: Wann hätte ich das tun sollen? Du weißt, dass ich in Marseille war.
Frau: Diesmal war es Marseille, davor war es Lyon, wieder davor war es Nizza. Du bist ein Feigling.
Mann: Aber immerhin ein Feigling, den Du liebst. Sonst wärst Du nicht hier.
Frau: Dinge ändern sich, François. Ich ändere mich. Und ich lasse mich nicht länger von Dir zum Narren halten.
Mann: Mein Gott, Francine! Du weißt, dass es zwischen mir und ihr längst aus ist. Unsere Ehe ist längst nur noch eine tote Hülle.
(Er steht aus dem Sessel auf, tritt zu ihr ans Fenster und berührt ihr rotes Kleid an ihrer Schulter)
Du weißt, dass ich Dich liebe. Und nur Dich. Genügt Dir das nicht?
Frau: (drückt energisch ihre Zigarette im Achenbecher auf der Fensterbank aus und dreht sich zu ihm um) Ich kann das nicht mehr. Wir müssen uns trennen.
Mann: (eindringlich) Francine …
Frau: Ich hätte das schon längst beenden sollen. Das alles hier. Es führt zu nichts. (Sie dreht sich wieder um und schaut zum Fenster hinaus)
Mann: (packt sie an den Schultern und dreht sie zu sich herum) Geh nicht!
Frau: Küss mich!

Beide schauen sich einige Sekunden lang intensiv in die Augen, dann umarmen und küssen sie sich leidenschaftlich. Als der Kuss endet, richtet die Frau ihr Haar und geht zu einem Stuhl, auf dem ihr Mantel und ihre Handtasche liegen. Sie nimmt beides in die Hand.

Frau: Ich werde jetzt gehen. Adieu. Und ruf mich nicht wieder an.
Mann: Francine!
Frau: Es hat keinen Sinn mehr. François. Ich dachte, es wäre Liebe zwischen uns. Aber ich habe mich geirrt. So schön es auch war. Manchmal muss man auch loslassen können. (Sie dreht sich um und geht Richtung Tür)
Mann: Ich kann ohne Dich nicht leben.
Frau: Du wirst es lernen müssen. Ich werde es lernen müssen. Es werden andere kommen und bald wirst du mich vergessen haben. (Sie öffnet, die Tür, blickt noch einmal zurück zu ihm, geht hinaus und zieht sie hinter sich zu)
Mann: (nun allein im Raum, verzweifelt Richtung Tür schreiend) FRANCINE!

Die Frau tritt unten aus dem Hotel hinaus auf die Straße. Es regnet weiterhin. Sie winkt ein Taxi zu sich heran, steigt ein und man sieht von außen, wie sie dem Fahrer stumm ihr Fahrtziel nennt. Schnitt in das Taxi. Die Frau öffnet ihre Handtasche und holt ein Foto heraus: ein unbeschwerter Urlaubsschnappschuss von ihr und François. Sie zerreißt das Foto, öffnet das Fenster, wirft die wenigen Schnipsel aus dem Fenster und schließt es wieder. Dann nimmt sie ein silbernes Etui aus der Tasche und zündet sich daraus eine Zigarette an. Sie schaut aus dem Taxi auf die draußen vorbeigleitende Stadt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

Schnitt auf den Rinnstein am Straßenrand. In einer Regenpfütze schwimmen die Fotoschnipsel, der Teil mit den beiden Gesichtern der Liebenden dreht sich langsam im trüben Wasser, tropfen drücken ihn allmählich unter die Oberfläche.

Schnitt. Die Frau steht allein in ihrer Wohnung am Fenster, es ist Abend, die blaue Stunde. Sie raucht und hat ein Glas Rotwein in der Hand. Auf einem Tisch im Zimmer steht in einer Vase ein großer Strauß Rosen, noch mit Zellophan umhüllt, ein ungeöffneter Briefumschlag klebt auf der Folie. Sie leert ihr Glas »auf ex« aus, geht zum Telefon und wählt eine Nummer, die sie offenbar auswendig kann. Das Rufzeichen ertönt. Jemand nimmt ab und man hört die Stimme eines Mannes.

Stimme: Hallo? …
Frau:
Stimme: Francine …? Francine, bist Du es?
Frau:
Stimme: Ich liebe Dich! Ich brauche Dich! Sag etwas! Irgendwas …

(Die Frau legt auf)

– FIN –

Naturtrüb

Als ich heute morgen von selbst gegen 10:30 Uhr aufwachte, stand ich kurz auf, zog die Gardinen im Schlafzimmer zur Hälfte auf und öffnete die Balkontür (die ist bei mir im Schlafzimmer, weil ich das größere balkonlose Zimmer als Wohnzimmer nutze). Von draußen strömte warme Frühlingsluft ins Zimmer, ich hörte von der Straße Leute, die ein Auto be- oder entluden und sich dabei unterhielten, irgendwo in einem Baum zwitscherte eine Kohlmeise ihr Frühlingslied, in der Ferne rauschte eine U-Bahn auf dem Viadukt vorbei. Dazu wehte plötzlich noch der Duft frischgebackenen Weizenbrotes herein, der mich in Gedanken mehrere Jahrzehnte in die Vergangenheit katapultierte, als ich irgendwo im Mittelmeerraum auf einem Markt oder in einem Geschäft exakt diesen Brotduft in der Nase hatte: getreidig, körnig, rösch und röstig und ein kleines bisschen angekohlt. Pizzateig aus dem Holzofen riecht manchmal sehr ähnlich.

Das klingt jetzt erstmal alles sehr angenehm, nostalgisch und schön, aber durch dieses mentale »Zurückkatapultieren« kam auch etwas zutage, was ich mittlerweile immer häufiger spüre: der Unterschied zwischen solchen Momenten, wie sie sich früher™ für mich anfühlten und der Wahrnehmung, wie ich sie heute empfinde. Es ist ein Gefühl, das nicht mehr so »pur« ist, wäre es ein Lebensmittel, stünde auf der Verpackung »Kann Spuren von Wehmut und Besorgnis enthalten«.

Ich gehe mit Nachrichtenmeldungen und meiner Nutzung des Internets vergleichsweise sorgsam um, um nicht dem »Doomscrolling« zu verfallen. Ich bin kaum Mitglied in irgendwelchen »Gruppen«, ich lese so gut wie nie Kommentare unter Medienmeldungen oder Postings (insbesondere zu »kontroversen« Themen), ich kommentiere so etwas auch selbst so gut wie nie. Internetleute, die in meinem Netzwerk rumpöbeln, schwurbeln, hetzen, andere beleidigen oder aggressiv werden, schalte ich stumm oder blocke sie. Ich habe zu fast allen Themen eine eigene Meinung, die ich aber nicht unentwegt ins Netz blasen muss. Der Vorteil einer hohen Userdichte ist nämlich, dass es genug Menschen gibt, die zu einem bestimmten Thema ziemlich genau meinen eigenen Standpunkt vertreten, somit reicht es bisweilen, wenn ich deren Beitrag zu etwas, das mich bewegt, teile, anstatt das Ganze noch mal mit Synonymen aber inhaltsgleich selbst zu verfassen. Ich halte mich für einen insgesamt recht gut informierten Menschen, über die zahllosen analogen und digitalen Kanäle bekomme ich mehrfach am Tag das Weltgeschehen zugespielt sowie die Aktionen und Reaktionen der damit konfrontierten Weltbewohner. Ich vertraue der Wissenschaft außerordentlich, das begann in zarter Kindheit mit dem Interesse an Paläontologie (Dinosaurier!), setzte sich in der Schule fort mit hohem Interesse an zunächst »Sachkunde«, später den naturwissenschaftlichen Fächern, einem Interesse für Science-Fiction-Literatur und der Lektüre hunderter (Sach-)Bücher zu naturwissenschaftlichen Themen, insbesondere Chemie, Psychologie, Hirnforschung, Astronomie, Kosmologie. Nichts liegt mir ferner als Schwurbelkram, Esoterik, Homööpathie und auch mit Religion kann ich nicht sonderlich viel anfangen.

Deshalb bin ich auch mit ziemlicher Gewissheit davon überzeugt, dass es unserem Planeten nicht sonderlich gut geht (ungeachtet der obendraufkommenden Dinge wie z.B. COVID und geopolitische Krisen) und dass zu viele Menschen auf der Welt, mit und ohne politische Verantwortung, nach wie vor entweder nicht willens und/oder in der Lage sind, daran etwas zu ändern. Die Zukunft wird mit ziemlicher Sicherheit aufgrund der Klimakrise auf unfassbar vielen Gebieten in unser aller Alltag drastisch unangenehmer werden. Der überbordende Lebensstil und etliche Gewohnheiten, die uns im wahrsten Sinne lieb und teuer sind, sind Gift für Klima, Natur und Umwelt. Ich gehöre zu der Generation, die im Verlauf ihres Lebens lernte, wie schädlich das, was ich als »normal« ansah, tatsächlich werden kann, wenn zu viele Menschen es zu ausufernd, zu unbekümmert und unvermindert unter Rückgriff auf fossile Rohstoffe tun, ob z.B. Autofahren, Fliegen, Kreuzfahrten machen, Fleisch essen, Ressourcen verschwenden oder Heizen. Ich bin seit mehreren Jahrzehnten dabei, selbst etwas an meinem Verhalten zu ändern, aber ich weiß auch, dass die Bemühungen aller Einzelpersonen nicht ausreichen werden, um das Schlimmste abzuwenden, dafür bräuchte es viel größere, kraftvollere, systemische Initiativen und Maßnahmen seitens der Politik und die lassen leider nach wie vor quälend lange auf sich warten. Ich bin überzeugt davon, dass die drastischen Auswirkungen der Klimakrise in wenigen Jahren den Verantwortlichen all ihre Pläne links und rechts um die Ohren hauen wird, die mit allzu geruhsamen Laufzeiten vermeintliche Gegenmaßnahmen verkünden – »Bis 2030 werden wir …«, »Ab 2050 ist vorgesehen, dass …«, »Wir streben an, dass nach 2035 …«. Climate crisis is what happens to you while you’re busy making other plans. (ab dem 3. Wort: © John Lennon)

Doch zurück zu meinem sonntäglichen Bettgelümmel. Ich bin nach wie vor in der Lage, das Leben schön zu finden, bin – glücklicherweise – nicht depressiv (das gab es mal, aber es liegt mittlerweile 16 Jahre zurück), ich kann schöne Momente genießen, ich liebe die Natur, genussvolles Essen, Muße und Ruhe, den Duft der Jahreszeiten. Aber diese Gefühle sind seit geraumer Zeit immer öfter durchsetzt von diesem oben genannten Gefühl der Melancholie, sie sind nicht mehr so pur, so unbefangen, so »allesdurchdringend« wie ich sie lange Zeit kannte. Ich sehe saftige Wiesen und denke »Schade, dass das nicht so bleiben wird«, ich höre den Sprecher in einer Naturdoku sagen »Diese weithin unberührte Region ist ein Paradies für Flora und Fauna« und denke »… noch«. Ich sehe Eltern mit kleinen Kindern und hoffe, dass sie auch als Erwachsene noch ein friedliches und sorgenfreies Lebensumfeld haben werden, gleichzeitig zweifele ich daran. Ich höre meinen Neffen vom Beginn seiner geplanten Ausbildung erzählen und sorge mich trotzdem um seine Zukunft. Diese wachsende Durchdringung des eigentlich Schönen von Zweifeln, Sorge, Angst und auch Pessimismus – obwohl ich mich weigere, meinen Optimismus aufzugeben und fatalistisch, zynisch, nihilistisch zu werden – macht mich zwar traurig, aber ich will mir auch nicht wünschen, dass sie verschwindet, so dass ich auch heute jeden schönen Moment wieder zu 100% so ungetrübt empfinden könnte wie »damals«, denn das wäre Verdrängung. Und davon gibt es ja beileibe schon genug auf der Welt.

Es hat ein wenig davon, wie schöne Momente sich anfühlen könnten, wenn man z.B. entweder sehr krank oder sehr alt ist. Wenn das Schöne im Leben und auf der Welt unerschöpflich zu sein scheint, läuft es Gefahr, an Wert und Besonderheit zu verlieren. Wenn ich mir aber bewusst werde, dass es begrenzt oder bedroht ist, erscheinen die schönen Dinge um so kostbarer und schützenswerter. Vielleicht hat das ja auch sein Gutes.

Und nun wünsche ich allen einen schönen, wirklich schönen Sonntag.

Es sind die kleinen Dinge.