Kategorie: Von der Tageskarte

Kaum passiert, schon gebloggt

Bornholm, Tag 4

Der anhaltende und sogar noch etwas auffrischende Wind war es, der die Wanderroute für den heutigen Tag quasi alternativlos machte: in der Nähe des kleinen Fischerdörfchens Vang ist die Westküste der Insel steil und schroff und eine Felsformation namens »Jons Kapel« markiert dort einen besonderen Anziehungspunkt für Wanderer und Touristen. Die Klippen sind nach einem Missionar, Prediger und Einsiedler benannt, der die Höhlen dort bewohnt haben soll. Jo(h)n war ein Mönch aus Irland, der im frühen Mittelalter nach Bornholm kam und sich der Legende nach in den Höhlen an den Klippen niederließ, die später seinen Namen tragen sollten:

Heute führt eine 171 Stufen lange Treppe die Klippen der Bornholmer Westküste hinab zur Predigerkanzel genannten Felsformation. Von dort aus soll der Prediger zu den Bornholmer Fischern (damals noch Heiden) gepredigt und Ihnen den Segen mit auf See und zu ihren Fischfahrten gegeben haben. Weiter in Richtung Süden findet man drei Höhlen, in denen er gelebt haben soll. Eine Höhle nennt sich der Kirchenraum oder die Kapelle. Die anderen Höhlen tragen Namen wie Speisekammer, Sakristei, Esszimmer und sogar Schlafzimmer – eine ganze Wohnung also für den Mönch.

Quelle: bornholm-ferien.de

Vor Beginn der Wanderung machten wir zwecks Einkauf für die Abendverpflegung noch einen Abstecher zum etwas abgelegenen Hofladen »Hallegaard«, der nicht nur ein außergewöhnlich schönes Logo, sondern auch hervorragende Fleisch- und Wursterzeugnisse von Tieren aus eigener Haltung anbietet. Zwei schöne T-Bone-Steaks sollten es sein, dazu besorgten wir noch Karotten für ein feines Ofengemüse. Das alles wurde in einer Kühltasche deponiert und zurück ging’s zum Ausgangspunkt der Wanderung.

Schon auf dem Weg zu Jons Kapel kamen wir an felsigen, steilen Abhängen vorbei, über denen zahllose Möwen und andere Vögel im Wind segelten. Ich habe oft an solch stürmischen Tagen das Gefühl, dass manche Vögel, obwohl sie ja vom Flüggewerden an nichts anderes kennen, ihre Fähigkeit zu fliegen noch einmal ganz besonders genießen und ihnen dabei zusehen zu dürfen, macht mich fast schon ein bisschen neidisch.

In dieser Jahreszeit ist die Insel überall üppigst am Blühen. Die Schlehenbüsche, noch ganz ohne Blattgrün, besten vor kleinen weißen Blüten, man sieht Veilchen, die purpurnen Schöpfe des Knabenkrauts, Sumpfdotterblumen, Raps, Löwenzahn, Buschwindröschen, blühende Kirsch- und Apfelbäume, Taubnesseln und Vergissmeinnicht. Im Frühling und Frühsommer ist Bornholm ein Paradies.

An Jons Kapel angekommen, verwunderte uns, dass keine anderen Besucher den Weg an diesen besonderen Punkt gefunden hatten. Der Himmel war strahlend blau, die Böen peitschten das Meer gegen die steil aufragenden Felsen und auch hier segelten die Möwen im Wind. Gute zehn Minuten standen wir allein unten am Fuß der hölzernen Stiegen und auf den zugänglichen Felsvorsprüngen, ehe sich ein einzelnes weiteres Wandererpaar näherte. Aber da hatten wir schon genug gesehen und fotografiert und machten uns an den (ächz!) etwas anstrendenden Aufstieg vom Ende der sehenswürdigen »Sackgasse« zurück auf die Wanderroute.

Die Rückkehr zum Parkplatz am Ende der Strecke war nur noch einige hundert Meter weit und von dort aus (ratet!) fuhren wir schnurstracks zurück in den Unterkunftsort, um unserer »Stammkneipe« den obligatorischen Belohnungsbesuch nach dieser heute 7,1 km langen Tour (Komoot-Link) abzustatten. Mittlerweile erkannte man uns schon wieder und das Personal freute sich sichtlich über die angehenden Stammgäste.

Wieder daheim, machten wir uns an die Zubereitung des Essens, die aufgrund der naturbelassenen Zubereitung schnell erledigt war. Noch etwas Kräuterbutter wurde angerührt, dazu ein Bärlauch-Dip für die Ofenkarotten und nach knapp 40 Minuten konnte serviert werden. Im Heimkino lief heute »The Favourite«, den ich vor gut zwei Jahren schon einmal auf Englisch gesehen hatte, aber gerne auch noch einmal in der deutschen Fassung sehen konnte.

Danach, noch gefühlt mit dem Wind in den Haaren, ins Bett.

Bornholm, Tag 3

Heute ließen wir das Auto mal stehen und beschlossen eine Wanderung, die direkt am Ferienhaus ihren Ausgangs- und Endpunkt hatte: Von der Unterkunft aus führte sie zunächst hinunter zum örtlichen Strand und von dort aus durch die Dünen hinauf auf die felsige Küstenlinie des »Hammeren« (auch »Hammerknuden« oder nur »Hammer«), der Nordspitze der Insel. Vorbei an historischen Ruinen, an meerumtosten Klippen (es war immer noch ziemlich windig), an knorrigen, von Efeukorsetten eingezwängten Bäumen und immer wieder mit einer fantastischen Aussicht auf das Meer Richtung Nordwesten. Der böige Wind war eine zustzliche Herausforderung an manchen schmalen Pfadpassagen, aber als geübte Wanderer und mit gutem »Schuhwerk« war das kein Problem. Etwas über 11 km lang war die heutige Strecke (Komoot-Link), so dass sich der Bierdurst, trotz der mitgeführten Wasserflaschen, gegen Ende schon etwas drängender meldete. Auf dem Weg übers Feld auf der letzten Etappe der Strecke lag am Wegesrand der teilweise skelettierte Kadaver eines Hasen oder Kaninchens. Mich fasziniert bei solchen Funden jedes Mal aufs Neue der fantastische und perfekte Recycling-Ansatz der Natur, der totes Leben binnen kürzester Zeit wieder in den Stoffkreislauf zurückführt. Etwas abstoßend ist das für mich meist nur kurz zu Beginn, solange ein totes Tier noch blutig oder entstellt daliegt, danach überwiegt das sachliche Interesse.

Zurück zum Bierdurst: Der Mann hatte spontan am Vorabend während unseres Umtrunkes einen Blick in die Speisekarte des Bierlokals geworfen und einen Tisch reserviert, die kreativen und vortrefflich klingenden Smørrebrød-Kreationen hatten es ihm angetan. Und so konnten wir uns nach der Ankunft in der »Ølstauan« nicht nur auf frisch gezapfte Inselbiere freuen, sondern auch auf eine köstliche Mahlzeit. Ich entschied mich für Smørrebrød mit Eismeerkrabben, Kaviar, Zitrone, Mayonnaise und Ei sowie Schweinebraten mit kaltem Rotkohl und Orangenscheiben, der Mann nahm Smørrebrød mit gebratenem Fisch, Krabben und grünem Spargel und Roastbeef mit geraspeltem Meerrettich, Röstzwiebeln und Kapern. Ich bin ja spätestens seit meinem zweimaligen Besuch im grandiosen Kopenhagener Craft-Beer- und Smørrebrødrestaurant »Selma« der Ansicht, dass ein Lokal mit dem Angebot »Craft-Bier & kreative Smørrebrød-Kombinationen« auch in einer deutschen Stadt wie Hamburg oder Berlin sehr gut ankommen würde. Vielleicht nimmt sich ja demnächst mal ein hiesiger Startup-Gastronom dieser Idee an – ich wäre bald ein Stammgast!

Nach der Rückkehr in die »eigenen« vier Wände stand heute ein Science-Fiction-Klassiker auf dem Abendprogramm: »The Thing« in der Originalverfilmung von 1951. Schwarzweiß, recht kurz und aus heutiger Sicht etwas betulicher, zahlreicher besetzt und deutlich dialoglastiger als das doch drastisch blutigere Remake John Carpenters (1982) oder das gelungene Prequel aus dem Jahre 2011, aber durchaus sehenswert und ein Klassiker des Genres. Dennoch war der Film für heutige Sehgewohnheiten nicht gruselig genug, um schlechte Träume anzustoßen, und so war eine gute Nacht nach diesem sportlichen Tag absehbar.

Bornholm, Tag 2

Der einzige Unterschied im Tagesablauf vor dem Aufbruch zur heutigen Wanderung war, dass wir das Terrassenfrühstück auf der windabgewandten Seite des Hauses einnahmen. Zum einen scheint dort auch vormittags schon die Sonne, zum anderen hatte der Wind deutlich aufgefrischt, so dass es auf der gestrigen Hausseite zu kühl gewesen wäre.

Die Wanderroute heute (Komoot-Link) im Nordosten der Insel ging entlang der steilen Felsklippen »Helligdomsklipperne« und durchs »Døndalen« genannte Tal, mit gut 6,5 km eine eher kurze Route, aber dafür nicht minder abwechslungsreich – blühende Wiesen, grellgelbe Raspfelder, viel Auf-und-Ab. An einer Stelle lag ein umgestürzter Baum über dem Wanderweg, aber eine (nachträglich gegrabene?) Senke im Waldweg machte das geduckte Passieren ohne weiteres möglich. Der Himmel war heute etwas bedeckter und der frische Wind hielt sich ebenfalls. Der Weg war fast über die gesamte Strecke von Bärlauch gesäumt, was wir dazu nutzten, zwei ordentliche Handvoll Blätter fürs geplante Abendessen zu ernten, dazu etwa 200 noch geschlossene Blütenknospen, teils zum »Einkochen« und teils zum Anbraten für feine Frühstücksomelettes an den kommenden Tagen.

Am Ende der Wanderung: Einkehr im Bierlokal »Ølstauan«, wo an 18 Zapfhähnen ausschließlich Biere ausgeschenkt werden, die auf Bornholm gebraut werden. Nach der ausgiebigen Erfrischung dann Heimkehr in die Unterkunft. Nachdem ich zwei kleine leere Marmeladengläser mit den gewaschenen Bärlauchblüten gestopft hatte, um diese dann, mit Olivenöl übergossen, im Backofen bei 160 °C zu garen und gleichzeitig zu konservieren, bereiteten wir das Abendessen zu: Lachsfilet auf der Haut gebraten und anschließend im Ofen unter einer Bärlauch-Parmesan-Pinienkern-Eiweiß-Haube übergrillt, dazu Spinatgemüse. Da es schon spät war, blieb nach dem Essen zu wenig Zeit für einen ganzen Spielfilm, deshalb diesmal zur Unterhaltung erneut eine Folge »Absolutely Fabulous« zum sich-bettschwer-Lachen.

Bornholm, Tag 1

Unsere Tagesabläufe in Urlauben wie diesen sind eigentlich im Grunde meist sehr ähnlich: Ohne Wecker schlafen, bis von selbst aufgewacht wird, duschen, bei geeignetem Wetter ausgiebiges Frühstück draußen auf der großen Terrasse. Danach ein bisschen am Rechner »schaffen«, lesen, Musikhören und anderer Zeitvertreib, derweil der Mann in seiner Wander-App die tägliche Ausflugsroute plant.

Die Wanderung über rund 8 km führte in das Waldgebiet »Paradisbakkerne« (Komoot-Link), vorbei an idyllischen Waldseen, durch schattige Schluchten und über kraxelige Hügelkämme, z.T. mit in den Fels gebauten Treppenstiegen bis zum Endpunkt: der bereits erwähnten Fischräucherei, wo nicht nur ein, zwei kühle Biere auf uns warteten, sondern auch das dortige famose »All-you-can-eat«-Fischbuffet –genossen an einem Daußensitzplatz mit direktem Blick auf Felsen, Küste und Meer. Perfekt!

Durch das recht frühe Abendessen blieb dann noch reichlich Zeit in der Unterkunft für einen großen Film. Heute fiel die Wahl auf den Director’s Cut von »Amadeus«, den ich schon lange im Urlaubs-Discmäppchen mitführte, aber der durch die extreme Laufzeit von 160 Minuten lange ungesehen blieb. Diesmal passte es. Ein genialer Film und der Abräumer bei den Academy-Awards 1985: Bester Film, bester Hauptdarsteller, beste Regie, bestes adaptiertes Drehbuch, bestes Kostümdesign, bester Ton, bestes Szenenbild, bestes Make-up/Frisuren, bester Hauptdarsteller, beste Kamera und bester Schnitt.

Und ich vergebe hiermit noch einen Oscar für diesen ersten Tag.

Mal wieder Bornholm …

Zum achten, zehnten oder zwölften Mal? Egal, ich zähle ja auch nicht, wie oft ich mein Lieblingsgericht esse oder meinen Lieblingsfilm schaue. Die Anreise in Richtung meiner Lieblingsinsel jedenfalls war diesmal sehr gemütlich: Ich fuhr am Freitag mit dem Zug von Hamburg nach Ostseebad Binz, wo ich gegen Abend mit dem Mann und seinem Auto, angereist aus Berlin, zusammentraf. Übernachtung im Hotel, zuvor ein kleiner Rundgang durch den Ort, Abendessen und Willkommensbier(e) im Braugasthaus »Doldenmädel« und danach noch ein kleiner Abstecher zur abendlich sehr stimmungsvoll indirekt beleuchteten Seebrücke. Im Hotelzimmer konnten wir erfolgreich das MacBook an den Hotelzimmerfernseher anschließen und gönnten uns noch eine Folge »Absolutely Fabulous« als heiteres Betthupferl.

An nächsten Morgen nach dem Frühstück mussten wir dann nur eine Viertelstunde Autofahrt nach Sassnitz hinter uns bringen und konnten anschließend auf der (recht vollen) Fähre gut drei Stunden die Überfahrt ohne weitere Autokilometer genießen.

Nach dem Anlegen in Rønne sorgte ein kurzer Zwischenstopp beim großen »Kvickly«-Supermarkt für die Erstbefüllung des Kühlschranks, anschließend nochmal knapp 20 km Fahrt in den äußersten Norden der Insel zur Unterkunft, unserem »Stammferienhaus« in der Nähe des Örtchens Allinge, wo wir einen weiteren Zwischenstopp am Ladengeschäft der Fischräucherei einlegten und uns mit köstlichen hausgemachten Salaten fürs Abendessen eindeckten. Dann am Haus schnell das Auto entladen, die Betten beziehen (nichts ist lästiger als das erst spät abends direkt vor dem Schlafengehen machen zu müssen) und dann noch mal raus an die frische Luft zu einem kleinen Rundgang mit Endpunkt in der »Underbar«, dem Craft-Beer-Ausschank in einem der örtlichen Hotels. Zum Abendessen dann ein großes Fischsalatbüffet im Wohnzimmer und eine Doppelfolge »Picard«.

Angekommen.

Uhrschlamm

Letzte Woche, während meines Kurzurlaubs in München, war ich in größerer Runde zu Gast im »Giesinger Bräustüberl«. Es war ein semi-geschäftliches Treffen mit dem Mann, am Vorabend einer Statistiker-Konferenz und es gab deftige Speisen und reichlich bayerisches Bier. Gegen Ende der Tafelrunde wurde ich erstmals Zeuge, wie einer der Gäste mit seiner Apple Watch seine Rechnung beglich. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, aber am Tisch entwickelte sich daraufhin ein kurzes Gespräch über Armbanduhren – wer (noch) keine Smartwatch hat, wer besitzt eine »normale« Uhr, mit der man nichts bezahlen kann, wer trägt keine und aus welchem Grund nicht, beziehungsweise wer trägt eine und wieso.

Ich trage seit mindestens 20 Jahren keine Armbanduhren mehr, hauptsächlich aus zwei eher praktischen Gründen: seit ich ständig ein Handy bzw. Smartphone bei mir habe, geschehen für mich der Zugriff und der Blick aufs Display nahezu genauso schnell wie das Hochschieben des Ärmels und der Blick auf die Armbanduhr. Außerdem hat sich auch die Anzahl der Uhren im privaten und öffentlichen Raum gefühlt vervielfacht: auf dem Computermonitor, an der Mikrowelle, auf der Wanduhr, an Straßenkreuzungen, Ladenfassaden, in Schaufenstern, an Haltestellen und Bahnhöfen – überall sind analoge und digitale Zeitmesser anzutreffen. Man muss nicht mehr nach der Uhrzeit suchen, man wird quasi von ihr auf Schritt und Tritt verfolgt.
Der zweite Grund ist, dass mich mit den Jahren – insbesondere in warmen Sommermonaten – das schwitzige Gefühl unter dem Armband und die damit verbundene unweigerliche allmähliche Ansammlung von »Schmulk« auf und an dem Riemen störte, ich fand es zunehmend unangenehm und unhygienisch, egal, ob es ein metallenes Gliederarmband war oder eines aus Leder, Kunststoff, Gummi oder Stoff.

Das Gespräch am Wirtshaustisch erinnerte mich jedoch daran, dass ich einst ein begeisterter Armbanduhrenträger war, mir oft und gern ausgefallene Uhren zulegte und sie regelrecht »sammelte«. Mit »ausgefallen« meine ich keineswegs teuer. Nobeluhren interessieren mich nicht die Bohne, überteuerte Protzchronometer lassen mich kalt. Nicht, weil sie außerhalb meines Budgets liegen – selbst wenn ich alles Geld der Welt besäße, würde ich mir keine Luxusuhr zulegen. Geh weg, mir egal, kein Interesse, langweilig, passt nicht zu mir.

Mein »ausgefallen« ist anders definiert: originell, formschön und auffällig – aber nicht schrill. Und tatsächlich bewahre ich in einer Schublade die schönsten meiner Uhren immer noch auf. Obwohl ich sie nicht mehr trage, konnte ich mich bisher nicht davon trennen. Alle sind noch funktionstüchtig, wenngleich ohne Batterien gelagert. Es folgt nun ein kleiner Blick in mein privates »Uhrenmuseum«, ungefähr in der Reihenfolge ihrer damaligen Anschaffung:

1983 brachte der japanische Uhrenhersteller SEIKO eine kleine Sensation auf den Markt: eine der ersten Digitaluhren mit Matrix-Display, etlichen Zeitmess- und Alarmfunktionen und – einem Textspeicher! Man konnte in sieben »Memo-Channels« jeweils einen alphanumerischen Textschnipsel mit sagenhaften 16 Zeichen Länge ablegen, also insgesamt 112 Zeichen Speicherkapazität, das reichte manchmal sogar für einen elektronischen Spickzettel. Dieses Nerdjuwel musste ich unbedingt haben und so setzte ich die »Multi-Memory-Watch« D409 S auf meinen nächsten Geburtstags-Wunschzettel – und wurde nicht enttäuscht.

Etwa zur gleichen Zeit begann der Siegeszug der »swatch« Plastik-Uhren. Die Uhr wurde zum erschwinglichen Modeaccessoire, jedes Jahr gab es neue Modelle mit schlichten oder exzentrischen Designs, in gedeckten Farben oder kunterbunt. Ich besaß etwa 5–6 davon, manche habe ich als »Sammlerstücke« nie getragen, in meiner Uhrenschublade befindet sich inzwischen keine mehr. Eine, an die ich mich aufgrund dieses Fotos noch erinnern kann und die ich eine Zeitlang trug, war das Modell »Pinstripe« aus der Spring Summer Collection 1985.

Von dem ebenfalls in der Schweiz ansässigen Uhrenhersteller MONDAINE kam 1986 die Handgelenksversion der klassischen »Bahnhofsuhr« auf den Markt. Bis heute finde ich es ein bisschen schade, dass es nicht gelang, von der großen Mutter-Uhr auch das typische kurze Verharren des Sekundenzeigers auf der »Zwölf« und den nachfolgenden kleinen Ruck des Minutenzeigers zum nächsten Markierungsstrich auf die Armbanduhr-Version zu übertragen. Die Uhr wird bis heute in leicht veränderter Form immer noch produziert. Ein Klassiker.

Dass man gar nicht unbedingt komplett sichtbare Zeiger oder Zahlen und Markierungen auf dem Zifferblatt braucht, beweist dieses schöne und schlichte Exemplar, das mir bis heute ausgesprochen gut gefällt. Ein Hersteller oder Fabrikat ist auf dem Gehäuse nicht vermerkt. Ein besonderes Detail sind die beiden weißen Segmente des Stunden- und Minutenzeigers – sie wurden phosphoreszierend beschichtet und glühen blassgrün im Dunkeln. Das Gehäuse ist tatsächlich nicht aus Kunststoff, sondern aus mattschwarz beschichtetem Metall.

Als Modell für Menschen mit guter Sehkraft (in der Schublade ohne Armband aufbewahrt) präsentiert sich dieses originelle chromglänzende Exemplar mit seinen zwei winzigen Zifferblättern, eins für Stunden und Minuten und eins nur für die Sekunden. Auch hier wurde verständlicherweise aus Platzgründen auf Zahlen und Markierungen verzichtet. Auf der Rückseite des Gehäuses ist der Schriftzug »MODERN TIME« eingraviert, es handelt sich wohl um eine Mode-Uhr – nicht besonders kostspielig, aber trotzdem schön schlicht und in puncto Design mit dem »gewissen Etwas«, wie ich nach wie vor finde.

An Wanduhren und Wecker der 1970er Jahre erinnert dieses deutlich später erworbene Modell im Retro-Design: eine »analoge Digitaluhr«, bei der zur Abwechslung mal der »Zeiger« als dünne Linie stillsteht, sich aber dafür die Scheiben der Zifferblätter darunter drehen. Auch die Anordnung der Zeitanzeige ist »andersherum«: Die Scheibe mit der Stundenanzeige ist die größte, die mit dem kleinen roten Dreieck der Sekundenanzeige hat den kleinsten Radius. Genauso schön metallisch glänzend verkapselt wie die zuvor gezeigte Uhr mit den Mini-Zifferblättern, aber etwas »maskuliner« im Design.

Noch einmal die Marke SEIKO, aber diesmal deutlich moderner als beim ersten gezeigten Modell. Ungefähr 1990 brachte das Unternehmen Uhrenmodelle unter dem Namen KINETIC auf den Markt. Das Besondere: es waren »Automatik-Quartzuhren«. Wie frühere Automatik-Uhren bezogen sie die Energie für ihren Antrieb aus den Bewegungen des Trägers, aber hier wird kein mechanisches Uhrwerk aufgezogen, sondern eine Batterie aufgeladen, die das Quartzuhrwerk speist. Ein Batteriewechsel ist somit nicht mehr erforderlich. Cool finden, haben wollen.

Ein Konkurrent der swatch-Uhren in einem vergleichbaren Preissegment, mit ständig neuen Kollektionen, aber einem deutlich nostalgischeren Designkonzept, ist die 1984 gegründete amerikanische Uhrenhersteller FOSSIL. Bei diesem Exemplar irgendwann aus den 1990er Jahren hatten es mir die Farb- und Formzitate technischer Geräte aus den USA der späten 1950er Jahren angetan, wie z.B. bei den damaligen Straßenkreuzern oder Kühlschränken. Auch der Schriftzug der Uhrenmarke wechselte bei FOSSIL oft passend zum Design der jeweiligen Uhr.

Meine zweite FOSSIL-Uhr bewegt sich stilistisch irgendwo zwischen 30er/40er-Jahre Retro-Design und Steampunk. Statt einem glänzend silbernen Uhrengehäuse besitzt sie eins, das an mattes Messing erinnert und mit künstlicher Patina auf alt getrimmt ist. Das Modell stammt ebenfalls aus den 1990er Jahren, etwa als auch in meinem Tätigkeitsfeld Grafik-Design gerade eine Retro-Welle »angesagt« war und Designer wie Charles Spencer Anderson oder die Duffy Design Group mit ihren nostalgischen Entwürfen Erfolge feierten. Die Anschaffung der zu diesem Trend passenden Uhr war damit ein Muss.

Wer in den Achtziger Jahren die Schulbank drückte, erinnert sich sicherlich noch an die glühenden Ziffern auf den Displays der damals gängigen programmierbaren wissenschaftlichen Taschenrechner, wie z.B. dem TI-57 von Texas Instruments. Diese Vorläufer- bzw. Konkurrenztechnik mit ihren relativ stromfressenden LED-Segmenten fand sich auch in einigen frühen Digitaluhren. Sie zeigten zwecks Schonung der Batterie die Zeit nur auf Knopfdruck für einige Sekunden an. Dieses schöne Exemplar habe ich Anfang der 2000er Jahre für wenig Geld auf einem Flohmarkt ergattert und mit einem neuen Armband versehen.

Unerfüllte Uhrenwünsche

Eine außergewöhnliche Uhr des Designers Tian Harlan, die in den 1980er/1990er Jahren für längere Zeit auf dem Markt war und mir sehr gefiel, war die CHROMACHRON. Sie nannte sich »Farb-Zeit-Uhr« (der Werbeslogan lautete »Die Uhr, die Zeit hat«) und besaß keinerlei Zeiger, sondern nur eine einzige schwarze Scheibe, deren 30°-Aussparung über den zwölf verschiedenfarbigen Stundensegmente des »Zifferblatts« rotierte und nur ungefähr anzeigte, wie spät es gerade war. Sicherlich kam man mit etwas Übung auf eine Genauigkeit von ±5 Minuten, aber diese Uhr war definitiv nichts für Pünktlichkeitsfanatiker. Lange hortete ich einen Prospekt dieses in limitierten Auflagen produzierten Designerstücks, aber der damalige Kaufpreis von mehreren hundert DM lag weit außerhalb meines Budgets – und so blieb es beim Begehren.

Noch unerreichbarer war eine ebenfalls limitierte Uhr nach einem Entwurf von Andy Warhol, die Ende der 1980er Jahre vom Uhrenhersteller MOVADO angeboten wurde. Der Name des Kunstobjekts war »Times/5« (Ansicht: siehe Link 1 / Link 2). Es war eigentlich nicht nur eine Armbanduhr, sondern umfasste fünf rechteckige, voll funktionale Uhrengehäuse, die durch Scharniere miteinander zu einem breiten tragbaren Armband verbunden waren. Auf den fünf zahlenlosen Zifferblättern, unter den signalroten Zeigern, waren verschiedene von Andy Warhol aufgenommene Schwarzweiß-Fotografien der Skyline Manhattans zu sehen. Am nächsten durfte ich dieser Uhr einmal im Schaufenster eines Juweliers/Uhrenhändlers in Münster kommen, wo ich zu dieser Zeit studierte und so konnte ich das Objekt der Beigierde zumindest einmal aus 30 cm Entfernung durchs Sicherheitsglas anschmachten. Für die Uhr wurde damals nach meiner Erinnerung ein Preis von 10.000–15.000 DM verlangt, was natürlich jeden finanzierbaren Rahmen sprengte. Hätte ich sie mir allerdings damals leisten können, wäre sie heute (allerdings nur ungetragen) ein Vielfaches wert.

Seit 1999 bin ich ununterbrochen im Besitz eines Handys oder Smartphones und so hießen meine Zeitmesser fortan Siemens C25, Nokia 3310, Motorola RAZR V3, Nokia 6131 oder iPhone. Die kann ich zwar nicht am Handgelenk tragen – aber das Bezahlen geht inzwischen damit genauso gut wie mit einer Armbanduhr.

Im Schneckentempo

Schon wieder denke ich über Zeug nach. In letzter Zeit oft über Dinge, die sehr, sehr langsam passieren.

Bei manchem Schaufensterbummel, meist etwas abseits der teuren, gut besuchten Einkaufsstraßen, fallen mir ziemlich oft kleinere Läden auf, bei denen ich mir auf den ersten Blick nicht ganz sicher bin, ob sie geöffnet haben. Manche Eingangstür ist etwas verwittert, der Türgriff korrodiert, die Farbe blättert ab. Folienschriften auf dem Ladenfenster sind verblichen, haben Risse, sind fragmentiert, abgeblättert oder lösen sich einrollend an den Rändern ab. Im Schaufenster hängen staubige, vergilbte Werbedrucke, aus denen sich durch jahrelange UV-Bestrahlung alle Magentatöne verabschiedet haben, auch das Gelb litt sichtbar, was bleibt, sind Cyan und Schwarz. Aber die Läden sind geöffnet, der oder die Besitzer*innen sind gewiss schon etwas älter, womöglich steht der Ruhestand kurz bevor. Trotzdem regt sich bei mir die Frage: wieso hat der Gewerbetreibende es soweit kommen lassen? Die Werbeplakate nicht gelegentlich ausgetauscht, die Fenster geputzt, die Folienbuchstaben erneuert oder die Fassade renoviert?

Wenn ich mit der U-Bahn den Heimweg antrete, steige ich häufig an einer der beiden nächstgelegenen Stationen in Hamburg-Barmbek aus, sie heißt Habichtstraße. Wenn ich vom dortigen Bahnsteig die steinernen Treppenstufen hinuntergehe, fällt mir jedes Mal auf, dass die vordere Kante der Treppen nicht schnurgerade verläuft, sondern zur Mitte hin etwa drei Millimeter nach innen eine »Delle« aufweist. Das ist bei jeder Stufe leicht anders und legt nahe, dass die Stufenkante im Laufe der Zeit (die Station wurde 1930 in Betrieb genommen) durch Abertausende Schritte der Fahrgäste und Treppenbenutzer abgetragen wurde, Mü für Mü, bis diese Delle augenfällig wurde. An anderer Stelle, etwa in Bremen beim Denkmal der »Bremer Stadtmusikanten« oder – wieder ganz bei mir in der Nähe – in der Lendengegend der Aktstatue »Jüngling mit Schale«, an der ich unweigerlich auf dem Weg zum Wocheneinkauf vorbeikomme, fällt auf, dass selbst die Patina und das Bronzematerial durch reines Anfassen, ohne Zutun von Schleifwerkzeugen oder anderen mechanischen Hilfsmitteln, über Jahre und Jahrzehnte abgetragen wird, so dass das glänzende, unoxidierte Metall sichtbar wird. Es gibt etliche solche durch Neugier oder Aberglaube partiell abgenutzten Skulpturen weltweit.

Ich erinnere mich auch noch an die flüchtige Begegnung mit einer Frau, irgendwo in einem Supermarkt. Sie war geschätzt Mitte, Ende fünfzig, hatte blondiertes, sorgsam frisiertes Haar und gehörte zu den Frauen, die es für modisch geboten oder ästhetisch vorzuziehen halten, sich die eigenen, natürlichen Augenbrauen auszuzupfen und mit einem schwarzen Kajalstift neu aufzumalen. Ich bewerte das nicht, es möge sich jede(r) so herrichten, wie es nach eigenem Gutdünken beliebt. Was mir jedoch auffiel, war, dass die gemalten Brauen der Dame sich an einem anatomisch recht abwegigen Ort befanden: sie waren von der herkömmlichen Position gut vier Zentimeter nach oben abgerückt und prangten nun knapp unter dem Haaransatz der Trägerin. Ich grübelte. Hatte sie das von Anfang an so gemacht und einst schon nach dem ersten Auszupfvorgang beschlossen, ihr kosmetisches Werk so weit oben zu platzieren? Oder waren die gemalten Brauen über die Jahre oder Jahrzehnte Millimeter für Millimeter weiter nach oben gerutscht, bis die anatomische Barriere des Haaransatzes einer weiteren Verschiebung Einhalt gebot? Ich glaube, sehr viele insbesondere schon ältere Menschen mit bizarren Frisuren oder wunderlichem Make-up haben diesen Stil selten plötzlich und aus dem Stegreif kreiert, für viel wahrscheinlicher halte ich eine ganz allmähliche Metamorphose, die sich von ihnen selbst unbemerkt vollzog, in hohem Alter vielleicht auch bedingt durch einen Sehkraftverlust, Einschränkungen der Wahrnehmung oder nachlassende motorische Fähigkeiten.

Ich selbst hatte auch mal an mir das Phänomen der unmerklich wandernden Selbstverzierung beobachten können. In den späten Neunziger Jahren fand ich es eine Zeitlang schick, mir einen fein gestutzten »Goatee«-Kinnbart stehen zu lassen, Haare und Bart waren passend zueinander leicht kastanienfarben getönt und jeden Morgen wurde vor dem großen und gut ausgeleuchteten Badezimmerspiegel der schmale Oberlippenteil des Bartes, seine dünnen herabführenden Ausläufer und der Kinnbereich mit einem Klingenrasierer präzise in Form gehalten. Dachte ich. Damals™ machte man noch deutlich seltener »Selfies« als heute, aber eines Tages wurde ich mit einem Fotoabzug konfrontiert, auf dem mich jemand fotografiert hatte. Ich erschrak und dachte »Ups, mein Bart ist ja total schief!«. In der Tat hatte ich zwar die Form des Bartes konstant gehalten, aber offensichtlich war er mir unmerklich im Laufe der Wochen (Monate?) ca. 8 mm aus der Gesichtsmitte gerutscht. Im Spiegel fiel mir das nicht auf, der gewohnte (spiegeverkehrte) Anblick schien jeden Tag derselbe, aber das ungewohnt seitenrichtige Foto führte mir die Abweichung unwiderlegbar vor Augen. Ich glaube, kurz darauf änderte ich meinen Bartstil zu einer Variante, die weniger präzise Stylingmaßnahmen erforderte.

An manchen Tagen, meistens im anbrechenden Frühjahr, scheint die Sonne durch die Fenster in meine Wohnung, in der ich als sehr ortsfester Mieter mittlerweile seit über 20 Jahren wohne, und entlarvt unbarmherzig die Oberflächen und Stellen, die in den düsteren Herbst- und Wintermonaten ganz offensichtlich beim Putzen vorübergehend vernachlässigt wurden. Da muss ich dann ran und zu geeigneter Zeit mal wieder etwas gründlicher in den Ecken, auf Simsen und Leisten, zwischen Heizkörperrippen und auf senkrechten Kachel- und Schrankflächen wischen und putzen. Kein Problem, das lässt sich vergleichsweise unaufwendig, wenn auch mittels lästiger Arbeit, korrigieren. Aber die Sonne bescheint noch andere Details und lässt mich stutzen, dass ich diese nicht schon früher bemerkt habe. Da findet sich »plötzlich« eine dünne Leiste Rost an der Unterkante des blaulackierten Badezimmerspindes. Die Griffe am Geschirrschrank in der Küche sind »auf einmal« stark abgenutzt, der Lack abgeblättert. Die Messingtürklinken haben matte, dunkel angelaufene Stellen. Die Wohnung »verwittert«, jeden Tag ein winziges Bisschen, ohne dass ich es auf Anhieb mitbekomme. Jemandem, der nur alle vier Jahre bei mir zu Besuch käme, würden diese Veränderungen bis hin zum Renovierungs-oder Erneuerungsbedarf, definitiv viel deutlicher auffallen.

Wenn sich etwas Plötzliches ereignet, das unbeabsichtigt zu Entstellung, Wandel, Zerstörung oder Veränderung führt, sei es ein Wohnungsbrand, ein Wasserschaden, ein Verkehrsunfall, eine Verletzung, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen oder Erdbeben, tritt der neue Zustand in so kurzer Zeit ein, dass der Unterschied zu vorher unübersehbar ist. Das nennt man dann »Umbruch«, »Unglück«, »Katastrophe« oder »Desaster«. Ich glaube aber mittlerweile, dass die stillen, unmerklichen, sich in mikroskopischem Tempo außerhalb unserer bewussten Zeitwahrnehmung vollziehenden Veränderungen uns und die Welt mit viel brachialer Wucht verändern, als den meisten Menschen bewusst ist. In maximal langen Zeiträumen können sich Milliarden Tonnen Gestein zu kilometerhohen Gebirgen emporfalten, ganze Kontinente verschieben. Säße man auf einem ewig haltbaren Stuhl daneben, unsterblich und mit hinreichend haltbarem Proviant, würde es hingegen sehr schnell langweilig werden. Es passiert ja nichts.

Ein gutes Beispiel ist auch der Klimawandel. In der schönen, oberflächlich sauberen Wohnung unserer Zivilisation vollzieht sich eine Veränderung, die bislang viel zu langsam offenbar wurde, als wir es bemerken konnten. Aber nun scheint die Sonne ins Zimmer und beleuchtet die Risse und Verwerfungen, die ein baldiges Handeln erfordern, wenn die Behausung nicht unbewohnbar werden soll. Innerhalb der letzten rund 260 Jahre stieg die CO₂-Konzentration um ca. 130 ppm von ungefähr ~280 ppm im Jahr 1750 auf ~410 ppm im Jahr 2010 (Werte und Jahreszahlen habe ich bewusst ausgewählt für einfacheres Rechnen). Somit kam im Schnitt alle zwei Jahre ein ppm hinzu. Ein ⁠ppm⁠ entspricht einem Molekül Kohlendioxid pro einer Million Moleküle trockener Luft. Es dauerte also ganze zwei Jahre, bis innerhalb dieser Maßeinheit aus 280 CO₂-Teilchen 281 wurden. Lächerlich langsam, lächerlich wenig. Genauso wie der Meeresspiegelanstieg, der im Zeitraum zwischen 1901 bis 2010 popelige 1,7 bis 3,7 mm pro Jahr betrug. Jede Pfütze nach einem Regenschauer ist tiefer, wie sollten davon Städte und Inseln überflutet werden? Noch lachen sie.

Oder das stetig gestiegene Aufkommen an Automobilen. Wie kämen jemandem, der etwa aus dem Jahr 1930 mit dem damals nur sehr überschaubarem Autoverkehr hierher »gebeamt« werden würde, unsere heutigen Städte und Straßen vor? Ich vermute, er oder sie wäre zu Recht entsetzt, dass überall derartige Massen an Fahrzeugen fahren und vor allem herumstehen, für uns hingegen ist das ganz allmählich über Jahre und Jahrzehnte leider zu einem alltäglichen Bild geworden (siehe dazu auch dieser wunderbare Sketch aus der Satiresendung »extra 3«).

Ich glaube, das Langsame, Allmähliche ist es, das die Welt wirklich prägt und verändert. Sedimente, Patina, Erosion, Oxidation, Verwitterung, Diffusion, Plattentektonik. Überall um uns herum wallt, wandelt, altert, haucht, schabt, driftet und knistert es unmerklich. Menschen, die lautstark fordern, es solle doch bitte alles so bleiben, wie es früher immer war, setzte ich gerne eine VR-Brille auf, die ihnen die Welt milliardenfach beschleunigt vorführt. Danach könnten wir uns gerne weiter unterhalten.