Kategorie: Haar in der Suppe

Alles, was schlechte Laune macht

Unzusammenhängendes

Im Dezember besuchte ich in Hamburg-Othmarschen anlässlich einer kleinen beruflichen Weihnachtsfeier erstmals das libanesische Restaurant »Hala«. Der Initiator und Gastgeber des Abends, der im Westen Hamburgs wohnt, hatte das Lokal vorgeschlagen und aufgrund seiner etwas nebulös gehaltenen Bestellung zu Beginn des Abends (»Bringense mal für uns alle eine schöne Mischung kalter und warmer Sachen, die teilen wir uns dann«) bog sich anschließend der Tisch vor orientalischen Köstlichkeiten. Zuerst wurden gut drei Dutzend Porzellanschälchen mit kalten und warmen Mezze aufgetragen: Hummus, Auberginencreme, Tabouleh-Petersiliensalat, gebratener Blumenkohl mit Sesam-Vinaigrette, Sesammousse mit Porree, Paprika und Mandeln, Labneh mit Walnuss, Minze und Knoblauch, marinierte Rote Bete mit Sesam und Thymian, Champignons mit Harissa und Koriander. Wow, dachten alle, als die Schälchen sämtlich ausgekratzt waren, das war ja sehr gut und auch reichlich. Doch nach dem Abräumen kamen die Servicekräfte dann unerwartet wieder – mit größeren Platten und einer Auswahl famoser warmer Hauptgerichte: Riesengarnelen auf Hummer-Estragon-Sauce mit Gemüse, Lammfilet auf Schafskäse-Sauce mit Gemüse und Zimt-Kardamom-Reis, Entenbrustscheiben auf Aprikosensauce, Makanek-Lammwürstchen mit Pinienkernen und mehr. Dazu Wasser und Wein und abschließend tatsächlich noch ein Dessertpotpourri plus Kardamom-Mokka. Das war ein sehr wohlschmeckender Abend und obwohl ich ganz aus dem Westen dann wieder fast eine Stunde mit dem Nachtbus in mein eher östlich gelegenes Viertel unterwegs war, wollte ich mir dieses famose Lokal unbedingt zwecks eines Wiederholngsbesuchs merken. Als nun Anfang März zwei gute Freunde anregten, kam mir das Hala gleich wieder in den Sinn und als ich nach der Website suchte, entdeckte ich, dass es in Hamburg-Rotherbaum und damit viel näher gelegen einen zweiten Ableger namens »Hala mignon« gab. Also schlug ich dieses vor, traf auf Gegenliebe und reservierte für vergangenen Samstag Abend einen Tisch.

Das Lokal ist klein, beim Betreten sieht man zunächst nur 4–5 Tische und ich dachte »Oh. Gut, dass wir reserviert haben«. Doch dann führte uns der Wirt eine Treppe hinunter in einen zweiten Gastraum mit ebenfalls 5 Tischen und dort sollten wir den Rest des schönen Abends verbringen. Das Ambiente ist in schönen gedeckten Farben gehalten, petrol, braun, grau und gold, die Akustik ist auch bei voller Besetzung noch angenehm und die kleinen, etwas verschachtelten Räume wirken fast wie gemütliche Wohnzimmer. Der Service war zur Stoßzeit bisweilen etwas hektisch, aber nie unaufmerksam. Wir alle gemeinsam bestellten »Das mignon-Menü«, bestehend aus Amuse bouche, einem Sortiment kalter Mezze, danach wahlweise entweder ein Hauptgericht oder zwei warme Mezze nach freier Wahl und abschließend eine »Assemblage aus Baklawa, Crème Brûlée Orange und Maracuja-Sorbet«. Der Menüpreis erschien schon vor der Bestellung mit 41 EUR pro Person mehr als gerechtfertigt und das Sättigungs- und Zufriedenheitsgefühl danach bestätigte dies. Es war ein sehr feiner, köstlicher Abend und ich empfehle beide Filialen dieses libaniesischen Restaurants hiermit gerne uneingeschränkt weiter.


Bei der morgendlichen Bartpflege bzw. -schur dachte ich so, wie großartig ist es doch, dass der Körper imstande ist, die ganzen Materialien und Stoffe, die ihn ausmachen und die er zur Aufrechterhaltung der Lebens- und Wachstumsfunktionen benötigt, bei einer angenehmen Temperatur von lediglich 37 °C und normalen atmosphärischen Bedingungen selbst herzustellen. Hormone, Enzyme, Proteine, Sekrete, Zellen, Haare, Nägel, Magensäure, Gallensaft. Alles ohne Gluthitze, Zischen, Dampfen, schädliche Abfallstoffe oder giftige Dämpfe in kritischen Mengen – das ist schon ziemlich genial. Wenn man bedenkt, welche extremen Reaktionsbedingungen in der Industrie zumeist vonnöten sind, um Kunststoffe, Chemikalien, Medikamente, oder Baustoffe herzustellen, dann bin ich doch dankbar, eine so dezente und geräuscharme Chemiefabrik sein zu dürfen.


Am Sonntagnachmittag stand ein schönes kompaktes Konzert in der Elphi auf dem Programm: Das NDR Elbphilharmonie Orchester spielte das »Harfenkonzert« op.74 von Reinhold Glière und die Sinfonie Nr. 7 von Sergej Prokofjew. Zusammen eine gute Stunde ohne Pause, danach ist man jetzt im März »noch im Hellen« wieder draußen und kann den kaum angebrochenen Abend dann noch ausgiebig anderweitig beschließen. Wir saßen auf bewährten guten Plätzen in der ersten Reihe im obersten Rang der Etage 16, von dort hat man einen schönen, wenn auch steilen Blick hinunter auf das Orchester, die Solisten und den Dirigenten. Die Plätze befinden sich aber auch auf gleicher Höhe mit dem großen trichterförmigen Schallreflektor, der in der Mitte des Saals von der Decke herabhängt. Die Unterseite besteht aus einer mit den typischen, organisch strukturierten Akustikkacheln der Elphi-Wandverkleidungen beschichteten Kalotte, die Oberseite ist mit einer elastischen Stoffhülle bespannt, die sich bogenförmig nach oben zur Aufhängung verjüngt. Und genau auf dieser Stoffhülle liegen seit geraumer Zeit zwei längliche rote Würste, die dort offenbar nicht hingehören. Meine erste Assoziation während des Konzerts, bei dem ich diese Fremdkörper entdeckte, war »Da hat ein Zuschauer von seinem Platz aus zwei angebissene BiFi auf das Ding geworfen«. Von weitem sehen die Objekte tatsächlich ein bisschen aus wie Landjäger, Mettenden oder wie auch immer man solche Wurstsnacks nennt. Inzwischen (ich hatte bislang leider kein Opernglas dabei) denke ich, es sind Fragmente einer dicken roten Gummidichtung, wie auch immer die dorthin gelangt sein mögen.


Beim Konzertgenuss geht es zwar in erster Linie um Musik, aber diese Dinger lenken mich trotzdem ab, vermutlich in erster Linie, weil ich über ihren Ursprung und die Beschaffenheit grüble, ob die Objekte schon anderen im Publikum oder vom Hauspersonal aufgefallen sind, ob und wie sie an dieser Stelle überhaupt erreichbar wären, um sie zu beseitigen usw. Ein bisschen geht es mir übrigens auch so bei Besuchen in der Deutschen Oper Berlin. Ich schaue regelmäßig hoch zu den tellerförmigen gläsernen »Lampenschirmen« um die hängenden Leuchtkörper, welche den Zuschauerraum vor und nach der Vorstellung erhellen und frage mich, ob auf diesen, anscheinend über Jahrzehnte zugestaubten und inzwischen milchig-trüben Scheiben, die obendrauf vermutlich ebenso schwer erreichbar sind wie die Hamburger BiFi-Kalotte, nicht endlich mal jemand Staub wischen könnte und warum ein Innenarchitekt überhaupt auf die Idee kam, solch schwer erreichbare gläserne Lampenteller in einer Oper zu verbauen, obgleich ihnen unweigerlich die Verstaubung dräut.

Es ist schwierig. Da sitze ich in einem der teuersten und modernsten Konzerthäuser des Landes, unter mir auf der Bühne entfaltet sich die ganze Pracht menschlichen musischen Schaffens – und ich stiere auf eine Gummiwurst. Ich fühle mich erinnert an den Loriot-Klassiker »Die Nudel«, oder an den bekannten Monty-Python-Sketch »The Dirty Fork«, in dem ein Restaurantgast eine klitzekleine Verunreinigung auf seiner Gabel entdeckt. Ich muss an Nachrichtensprecher denken, die bedeutsame Meldungen aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft verlesen, aber deren Worte stumpf verhallen, weil sie einen Fitzel Spinat zwischen den Zähnen haben, der all diese Ereignisse nebensächlich erscheinen lässt. Ich fürchte, wenn ich demnächst von einem Elphibesuch berichte und gefragt werde, was denn auf dem Programm gestanden hätte, dass ich dann nur mit leerem Blick sagen kann »Wurst«.

Brombeerwörter

Als ich neulich am Wochenende mit dem Mann auf einer Wanderung war, mussten wir uns an einer durch tiefen Schlamm unwegsam gewordenen Wegstrecke gezwungenermaßen einen Umweg durchs Unterholz parallel zum Wanderweg suchen. Dabei blieb ich mit meiner Winterjacke im Vorbeigehen ohne Sachschäden an einer Brombeerranke hängen und stoppte kurz, um die Dornen aus dem Jackenstoff zu lösen, ehe ich weiterging.

Ich bin seit jeher ein Mensch, der Freude an Sprache hat und der es liebt, einen möglichst großen Wortschatz zu haben. Ich schätze es, die Nuancen zu kennen und in von mir verfassten oder mündlich geäußerten Texten zu nutzen, die mir durch Synonyme gegeben sind, egal, ob es in einer alltäglichen E-Mail, während einer beruflich gehaltenen Präsentation, in einem Gespräch oder in einem zur Veröffentlichung vorgesehenen Beitrag geschieht. Ebenso aufmerksam beobachte ich Wortwahl und Formulierungen in allem, was ich anderswo lese oder höre: Werbetexte, Nachrichtenmeldungen, Zeitungen und Zeitschriften, Blogbeiträge, Social-Media-Postings und -Kommentare oder bei Texten in Büchern. Und manchmal habe ich bei der Wahrnehmung von Texten und Formulierungen genau dasselbe Gefühl wie bei der anfangs geschilderten Wanderung. Plötzlich bleibe ich im an mir vorbeilaufenden Text an etwas hängen, das mich innehalten lässt und davon abhält, den nachfolgenden Worten in ungestörtem Fluss zu folgen. Manchmal sind es Veränderungen, die in der (Umgangs)sprache mit der Zeit unausweichlich entstanden und die ungewohnt oder störend wirken. Viele Ausdrücke, Regeln und Vokabeln haben sich gewandelt, seit ich damit begann, Sprache zu erlernen und bewusst zu gebrauchen. Ich habe die Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 erlebt sowie deren Überarbeitungen in den Jahren 2004 und 2006. Der neue Gebrauch von »ß« und »ss« ist mir mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen, aber ich möchte z.B. immer noch lieber »Portemonnaie« schreiben, weil das so viel schöner aussieht als »Port­mo­nee«. Ist ja auch erlaubt. Gefühlt steht im Duden sowieso bei jedem zweiten Fall, dem ich bei Sprachzweifeln hinterhergoogle, »kann man so schreiben, kann man aber auch so schreiben«. Dann such’ ich mir eben das aus, das mir am meisten pläsiert.

Im Job werde ich oft gebeten, Texte von Kollegen zu lektorieren, weil ich das recht gut hinbekomme und mir Auffälligkeiten und Unrichtigkeiten im Text schnell ins Auge springen. Ich war schon immer eher ein praktischer Sprachnutzer, kein theoretischer. Mir fällt es leicht, Formulierungen hinzuschreiben wie »das Talent, dessen materielle Vorzüge auszukosten ihm in den folgenden Jahren vergönnt war«, aber ich zucke ratlos mit den Schultern, wenn mich ein in der Theorie versierter Deutschprofi fragen würde, wie diese zu benennen wären. Plusquamperfekt, Präteritum, Partizip, Futur zwei – keine Ahnung, lasst mich einfach hier sitzen, schreiben und reden.

Da ich viel im Internet lese, fallen mir auch oft Tipp-, Schreib- und Formulierungsfehler auf, die in allerlei Postings vorkommen. Da bleibe ich ebenfalls oft hängen, aber im privaten Umfeld finde ich es unangemessen und schulmeisterlich, darauf zu reagieren und verkneife es mir z.B., eine (wie freundlich auch immer formulierte) Nachricht an die Verfasser*innen zu versenden, um z.B. auf eine Formulierung wie »diese Freiheit hat seinen Preis« in einem Posting oder einem Blog hinzuweisen. Aber das Brombeergefühl beim Lesen kann ich trotzdem nicht abschalten (Anm.: Wer hingegen in diesem Text sprachliche oder grammatikalische Fehler findet, darf mich gerne darauf hinweisen).

Betrüblicher ist es, in Werbetexten solche Schnitzer vorzufinden, die ja zumeist mit dem Ziel erstellt wurden, die lesenden Menschen zum Geldausgeben zu bewegen. Da sollte man doch eigentlich verlangen können, dass die dafür verantwortlichen Mitarbeiter*innen sich entweder selbst ein bisschen mehr Mühe geben, korrekte Texte abzuliefern oder, wenn sie dies selbst nicht können oder wollen, jemanden damit beauftragen, diese professionell oder sachkundig zu lektorieren. Sehr viele der auffälligen Fehler in Texten wirken überdies wie Flüchtigkeitsfehler. Schnell etwas in die Tastatur gehauen und auf »veröffentlichen«, »drucken«, »senden« oder »produzieren« geklickt, ohne sogar kurze Texte oder einzelne Zeilen zuvor noch einmal querzulesen. In meinem sporadisch gepflegten Tumblr-Blog »Pfuschmuseum« habe ich einige dieser Stilblüten gesammelt. Da denke ich dann immer: Wenn ich als Kunde derart schlampig umworben werde, wieso sollte ich dann der Behauptung der Werbetreibenden Glauben schenken, dass mein Wohlergehen oder mein Nutzen im Fokus ihrer Bemühungen um mein Interesse und meinen Kaufimpuls stehen und nicht bloß mein Geld? Bestimmt fallen von solchen Produkten bald irgendwelche Teile ab, die Bedienung der Anschaffungen ist unerfreulich oder die geplante Obsolenzenz der Waren haucht einem schon beim Unboxing aus dem Karton entgegen.

Update (07. März 2024): Neue Stilblüten aus der Echtzeit-Werbepfuscherei.

Am meisten jedoch schmerzen mich solche Fehler in vermeintlich professionell betriebenen Informations- und Nachrichtenmedien. Zumindest einen Teil meiner Rundfunkgebühren, die ich gerne bezahle oder des Geldes, das ich in Printmedien oder Online-Abonnements investiere, würde ich neben Produktions- und Personalkosten gerne in einem sprachlichen Qualitätsstandard angelegt sehen, der mich beim Konsum nicht schmerzhaft zusammenzucken lässt. Früher™ gab es bei der ARD-Tagesschau Chefsprecher wie Karl-Heinz Köpcke oder Werner Veigel, denen die sprachliche Sorgfalt und Korrektheit der verlesenen Texte ein persönliches Anliegen waren. Ganz ohne Krückstockfuchteln möchte ich hier ein wenig wehmütig zu Protokoll geben, dass ich diese Hingabe bei vielen Sendern oder Medien zunehmend vermisse. Sicherlich sind in Zeiten digitaler Medien und zusätzlich zu betreibender Social-Media-Kanäle ungleich mehr Mitarbeiter als damals damit betraut, Meldungen und Texte auf den verschiedensten Plattformen zu erstellen oder einzupflegen. Aber auch hier habe ich eine ähnliche Wahrnehmung wie bei den zuvor erwähnten lieblos lektorierten Werbetexten: Wie soll bei mir ein Gefühl von Vertrauen, Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit gegenüber dem Absender entstehen, das mir vermittelt, dass Berichte und Fakten (insbesondere im ÖRR) sorgsam recherchiert, bewertet, eingeordnet und aufbereitet wurden, wenn selbst kurze, auf einen Blick erfassbare und vor der Veröffentlichung eigentlich innerhalb von Sekunden noch einmal problemlos prüfbare Textschnipsel derselben Instanz bereits Fehler enthalten? Ich zumindest muss mich dann schon manchmal zwingen, derlei auf die leichte Schulter zu nehmen, obwohl es eigentlich nur Kleinigkeiten sind.

Ob ARD oder ZDF – hier bekleckert sich keiner mit Rum …

Wieder eine andere Kategorie sind allmähliche Änderungen der geschriebenen oder gesprochenen Sprache, die sich »basisdemokratisch« entwickeln und allmählich im Alltag und in der Sprachgemeinschaft ausbreiten. Gegenüber dem abfällig als »Deppenapostroph« oder »Deppenleerzeichen« bezeichneten Phänomen des Bindestrichmangels bzw. Hochkommaüberschusses bin ich mittlerweile schon abgestumpft und denke, derer ansichtig, zwar nicht »macht nicht’s«, aber immerhin »was soll’s?«. Weh tut mir allerdings immer noch der ebenso innovative wie inkorrekte schriftliche Gebrauch des mit Apostroph abgekürzten unbestimmten Artikels »ein« zu »’nen«. Wenn also beispielsweise jemand schreibt, »ich hole mir jetzt ’nen Bier«, reißt mir das brombeermetaphernmäßig im Vorbeilesen schon ein erkleckliches Loch in den Sprachmantel und ich verspüre ein spontanes Bedürfnis nach stärkeren Alkoholika. Die unbekümmert ins Deutsche übertragene Übernahme englischer Redewendungen ist auch so ein Thema. Da lese ich z.B. »Geheimdienste existieren literarisch um im Geheimen zu operieren« und kann mich zwar noch ein bisschen darüber freuen, dass das Wort immerhin noch als treffendes Synonym für »buchstäblich« verwendet wurde (oft genug nämlich auch für »tatsächlich«/»in der Tat« und dann lese ich Sätze wie »ein Flug nach Malle kostet manchmal literarisch 30 Euro«), aber mein innerliches Seufzen lässt mich dennoch kurz erbeben. Auch wenn jemand schreibt, er/sie habe Magen-Darm und muss nun »ein Antibiotika« nehmen, oder von einem Restaurantbesuch berichtet wird, bei dem »Scampis« und »Espressos« genossen wurden, verursacht dies ein leichtes dorniges Zupfen beim Durchfliegen des Textgewebes. Aber »macht es Sinn«, sich darüber aufzuregen? Nein. Mit diesen Störgefühlen muss man als Sprachopa zu leben lernen. Hauptsache ist doch, man versteht noch einigermaßen genau, was der oder die Absender*in damit sagen möchte (dabei muss ich gerade an die Szenen mit der allzu wortgewandten Shakespeare-Figur in der ZDF-Comedyserie »Sketch History« denken). Und mich selbst zwingt ja niemand, auf dieselbe Weise zu »senden«, in der ich »empfange«.

Eine andere populäre Erscheinungsform aus dem Englischen herüberdiffundierter Seltsamkeiten sind die Anglizismen. An sehr viele habe ich mich, wie alle, inzwischen gewöhnt, wie etwa »Meeting«, »Event«, »sharen«, »faven« und und und. Einige würde ich aber aufgrund ihres ebenso prätentiösen wie mehrwertfreien Gebrauchs gerne seltener lesen. So steht zum Beispiel auf dem Kassenzettel, den die Selbstscanterminals meines lokalen REWE-Marktes auswerfen, dass man den Bon unbeding mitnehmen solle, denn den aufgedruckten QR-Code benötige man zum Öffnen des »Exit-Gates«. Ich hätte einfach »Ausgangsschranke« gesagt, aber naja. Im Job streiche ich sehr gerne und beherzt das Wort »inkludiert« aus Texten, die mir zur Durchsicht vorgelegt werden und schreibe ein »beinhaltet« an seine Stelle, ich verstaubter Rebell. Es gibt noch einige weitere dieser Kandidaten, die einen Text zwar womöglich sehr contemporary klingen lassen, aber ihm oft genug nicht nur keinerlei hilfreiche Bedeutungsnuance hinzufügen, sondern ihn im Gegenteil weniger verständlich machen. Die Messlatte für diesen Art des Sprachgebrauchs, der insbesondere in der Kreativszene sehr beliebt ist, hat seinerzeit die Modeschöpferin Jil Sander gesetzt. Dieses Zitat ist aus meiner Sicht bis heute unerreicht:

»Ich habe vielleicht etwas Weltverbesserndes. Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, dass man contemporary sein muss, das future-Denken haben muss. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, dass man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. Der problembewußte Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Allerdings geht unser voice auch auf bestimmte Zielgruppen. Wer Ladyisches will, searcht nicht bei Jil Sander. Man muss Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils.«

via Wikiquote | Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. März 1996, zitiert im SPIEGEL 01.04.1996

Ein paar sprachliche Gepflogenheiten jedoch habe auch ich mir angewöhnt bzw. selbst »verordnet« und versuche, diese zu befolgen, wenn ich schreibe oder rede. Weil ich es bei anderen nicht so gerne mag, wenn sie beim Reden übermäßig häufig »Ähs« oder »Öhs« einfügen (noch schlimmer finde ich es bei einem öffentlichen Vortrag), vermeide ich dieses »Stoibern« bei mir selbst so weit wie möglich. Auch Füllwörter wie »im Prinzip«/»prinzipiell«, »halt«, »eigentlich«, »irgendwie« fallen mir bei reichlichem Gebrauch in der Alltagskonversation sofort auf, deshalb achte ich auch bei mir darauf, sie möglichst zu meiden. Ich mag auch keine Abkürzungen, die der von mir sehr geschätzte Autor Max Goldt vermutlich als »affig« bezeichnen würde. Beispiele für diese Art Abbreviationen sind etwa die Verniedlichungen von Schulfächern mit »-i« wie »Reli« (Religion) oder »Geschi« (Geschichte) oder die Benennung von Urlaubszielen wie »Malle« (Mallorca), »Fuerte« (Fuerteventura), »Domrep« (Dominikanische Republik). Es will mir einfach nicht über die Zunge.

Edit (02.03.2024): Mir sind nachträglich noch drei weitere Wörter bzw. Wortanwendungen eingefallen, die ich meide, weil ich sie nicht mag. Man trifft sie allesamt recht häufig auf Social-Media-Portalen an. Wenn z.B. ein Kommentator einem Posting widersprechen möchte, beginnt eine derartige Widerrede oft mit »Sorry, aber …«. Wenn ich persönlich den Impuls verspüre, jemandes Äußerungen nach meiner Kenntnis faktisch richtigzustellen oder stichhaltige Argumente vorzubringen, warum ich anderer Meinung bin, wieso sollte ich mich dafür entschuldigen? Klingt aus meiner Sicht unnötig devot und entspricht auch zumeist nicht meinem momentanen Gemütszustand, während ich meine Gegenrede eintippe. Das zweite Wort tritt immer am Ende einer Gegenargumentation auf und zwar in Form eines Ein-Wort-Satzes. Es lautet »Punkt.«, manchmal auch »Punkt!«. Die schreibende Person möchte damit ihre zuvor gemachten Äußerungen offenbar mit einer Art Unfehlbarkeitssiegel versehen. Ich muss dann immer an das »Basta!« denken, mit dem meine Eltern früher manche meiner kindlichen Quengelkaskaden einzudämmen versuchten. Bei Eltern funktioniert so etwas womöglich noch aufgrund des natürlichen Autoritätsgefälles, zwischen Erwachsenen im Netz finde ich es eher ein bisschen lächerlich. Wenn man gute Argumente hat, ist dieser Abbinder obsolet und bei Menschen, die per se überzeugungsresistent sind, ist dieses nachgeschobene Wörtchen sowieso wirkungslos. Das dritte Wort ist wieder ein Einleitungswort. Manchmal beginnen wohlmeinende Kommentatoren ihre Agumentation an ein komplett kontrovers gesinntes Gegenüber mit »Liebe(r) …,«. So zum Beispiel »Liebe AfD/FDP/CSU/SPD, …«, wenn die schreibende Person nachfolgend ausführen möchte, warum sie mit den politischen Plänen oder Maßnahmen dieser Partei vollumfänglich unzufrieden ist. Ich frage mich dann immer, welchen Zweck diese Anrede haben soll. Gewiss kann ich davon ausgehen, dass tatsächlich wenig echte Liebe für die Angesprochenen im Herzen der Kommentierenden wohnt, wenn die Ansichten derart gegensätzlich sind. Das schließe ich zumindest aus meinen eigenen Gefühlen, wenn mir eine derartige Entgegnung in den Tippfingern brennt. Überflüssig, zweckfrei, inadäquat, diese Huldrampe lasse ich daher ebenfalls gerne bewusst weg.

Gerne hingegen nutze ich »veraltete« Wörter, das tue ich jedoch nicht, um zu »posen«, sondern entweder, A) weil sie bzw. ihr Klang mir gefallen, weil ich es B) schade fände, wenn sie aussterben würden, weil sie C) in einem Bereich, in dem ein Wort mangels Alternativen mir komplett abgenutzt und ausgewrungen erscheint, trotz ihrer vermeintlichen Altbackenheit ein frisches Synonym darstellen oder D) weil sie tatsächlich eine neue Bedeutungsebene einbringen, die andere Wörter m.E. nicht haben. Einige Beispiele:

  • für A): famos, dergleichen, derlei, indes, obgleich, apart, fulminant, kapriziös
  • für B): Wams, Leibchen, Trottoir, Antlitz, Vettel, kommod, mäandern, Geschmeide, Hazardeur, Hallodri
  • für C): vortrefflich, delikat, deliziös (statt »lecker«); alsbald, beizeiten, zügig (statt »zeitnah«)
  • für D): flanieren (für eine gewisse Art des Gehens besser geeignet als »spazierengehen«, »schlendern«, »gehen«, »bummeln« oder »wandern«); indisponiert, unpässlich (manchmal zutreffender als »krank«, »angeschlagen« oder »malade«)

Wichtig ist mir, dass ich keineswegs etwas dagegen habe, dass Sprache sich wandelt. Im Zuge aktueller Ereignisse wie der Corona-Pandemie oder neuer technischer Errungenschaften entstehen haufenweise schöne, bunte, treffende neue Wörter – dazu habe ich in einem anderen Blogbeitrag bereits etwas geschrieben (und auch auf einige der o.g. Wörter verwiesen). Ich sammle viele neue Wörter, die mir im Alltag und im Netz begegnen, teils ebenfalls hier im Blog, teils auf meinem Mastodon-Zweitaccount @wortgeburt. Das ständige Fließen der Sprache ist etwas Wunderschönes. Wichtig finde ich aber, und da hallt in meinem Kopf eine kürzlich geäußerte Aussage des aktuellen Wirtschaftsministers Robert Habeck wider, dass Sprache Wirklichkeit schafft. Sprache (und Wortwahl) sollte(n) nicht nur eine möglichst unmissverständliche Kommunikation möglich machen, sondern jede(r) Sprechende sollte sich bewusst sein, dass seine oder ihre Äußerungen auch unbewusst das Gegenüber oder die Leser – manchmal sogar unbeabsichtigt bzw. gegen den Willen der sprechenden Person – beeinflussen oder brüskieren können. Mit Sprache drücken wir nicht nur aus, sondern wir präzisieren oder vernebeln, engen ein, bewerten, werten auf oder ab, zollen oder verweigern Respekt. Auch deshalb versuche ich nicht nur ein passiver Beobachter von Sprache im Alltag zu sein, sondern die Erkenntnisse, die ich aus meinen Beobachtungen ziehe, auch in meinen eigenen Sprachgebrauch einfließen zu lassen oder diese im eigenen Umfeld, in Blogbeiträgen oder Social-Media-Postings zu thematisieren.

Als ich z.B. neulich kurz nacheinander einen Doris-Day-Film als auch den Historienschinken »Cleopatra« mit Elizabeth Taylor sah (beide in deutscher Synchronisation) fiel mir wiederholt auf und ich erinnerte mich daran, das schon häufiger wahrgenommen zu haben, wie viele der männlichen »hochgestellten« Charaktere (vorzugsweise jüngere) Frauen mit »mein Kind« ansprechen. Bei Cleopatra konnte ich eine der betreffenden Szenen im Netz in der englischen Originalfassung ausfindig machen. Dort spricht Cäsar die Königin mit »young lady« an, weit weniger despektierlich, aber immer noch herablassend genug. Und so ist es in Filmen bis in die 1970er Jahre hinein sehr oft üblich, so reden Chefs mit Sekretärinnen, Professoren und Lehrer mit erwachsenen Schülerinnen oder Studentinnen, Ärzte mit Krankenschwestern, Forscher mit Assistentinnen. Ich nehme das wahr und es ärgert mich als Zuschauer, es beschämt mich nachträglich als Mann gegenüber den damals so angesprochenen Frauen ebenso wie gegenüber denen, die sich heutzutage diese Szenen ansehen und ich bin froh, dass diese Ära mitsamt ihres Sprachgebrauchs und dieser anmaßenden Attitüde (hoffentlich) ein für allemal überwunden ist. Will ich diese Filme deshalb neu synchronisieren oder nicht mehr ansehen? Nein, ich wünsche mir nur, dass bei künftigen Filmen mehr sprachliche Achtsamkeit waltet. Es kann meiner Meinung nach durchaus sinnvoll sein, die ursprünglichen »alten« Versionen sprachlich überkommener Werke – vielleicht mit einem erläuternden Vorwort oder Fußnoten – in Umlauf zu belassen, um nachfolgenden Generationen gezielt bewusst zu machen, dass sich im Laufe der Zeit ein Wandel zu einem respektvolleren und achtsameren Sprachgebrauch vollzogen hat und nicht alles immer schon so nuanciert, subtil, fair oder inklusiv war, wie sie es zu ihren Lebzeiten beim Lesen und Schreiben gewohnt sind oder gelehrt bekommen.

Ich weigere mich überdies, mir den Begriff »woke« wegnehmen oder zu einem Schmähwort umdeuten zu lassen, der (unter anderem) genau diese Art der Achtsamkeit bezeichnet. Ich will bemerken, wo Sprache missbräuchlich, respektlos, abwertend, diskriminierend oder ausgrenzend benutzt wird und versuche gerne nach Kräften, mich diesbezüglichen Wandlungen und Änderungswünschen anzupassen. Es schert mich keinen Deut, wenn sich Begriffe für Schaumküsse oder pikant besoßte Schnitzel deshalb ändern sollen, denn sie schmecken doch hinterher nicht anders als vorher. Begriffe für Gegenstände, Anreden, Eigenschaften, Unternehmen, Seelenzustände, Produkte, Lebensmittel, ändern sich unentwegt, seitdem der erste Mensch den Mund aufgemacht hat. Aus dem Lenz wurde der Frühling, aus dem Turnschuh der Sneaker, aus dem Generaldirektor der CEO, was heute »geil« ist und Begeisterung und/oder die Libido weckt, wucherte früher im Garten durch den Zaun rüber zum Nachbarn. Und Sprache ist ja auch nicht das Einzige, das sich in unserem Alltag verändert – inzwischen ist es ja durchaus normal, dass man mit Telefonen fotografieren, mit Fernsehern sprechen, mit Uhren bezahlen oder seinen Staubsauger fernsteuern kann.

Sprache ist, finde ich, wie eine große Party und nicht alles, was passiert, ist steuerbar. Einige Gäste sind eingeladen, andere nicht, manche wollten nicht kommen, andere kommen, obwohl sie nicht eingeladen wurden, einige müssen leider früher wieder gehen, andere bleiben, obwohl man sie lieber loswerden würde. Über einige der Geladenen freut man sich, andere kann man nicht leiden und wieder andere sind einem komplett egal. Mit manchen unterhält man sich gerne, anderen geht man aus dem Weg. Es gibt neue Gesichter und alte Bekannte, freudige Wiedersehen und verschrobene Fremde. Man muss ein bisschen aufpassen, dass nichts Wertvolles kaputtgeht und dass niemand zu Schaden kommt. Es kann mal etwas lauter werden und vielleicht beschwert sich jemand über das Treiben. Manche Feiernden versuchen den DJ zu überzeugen, ausschließlich Songs nach ihrem Geschmack zu spielen, einige haben sogar eigene Tracks mitgebracht, es gibt Leute, die tanzen zu allem, was gespielt wird und einige sitzen lieber am Rand der Tanzfläche und quatschen. Man sollte etwas aufpassen, was man selbst konsumiert, welche Inhaltsstoffe sich darin verstecken und was man anderen anbietet oder einschenkt, denn das kann einerseits lustig und harmlos sein, aber auch mit Übelkeit, Kopfschmerzen oder anderen schädlichen Folgen einhergehen. Warum sollte man als Gast eine(n) der Mitfeiernden überreden, exakt so zu feiern wie man selbst? Wichtig ist doch, dass jeder auf seine Weise Spaß hat und alle ein bisschen darauf achten, dass die Location bewohnbar bleibt und nichts gewaltsam eskaliert oder gar in Brand gesetzt wird.

Ich jedenfalls amüsiere mich – trotz meiner Brombeergefühle – größtenteils blendend.

Eine Frau, dich sehr dafür verehre, wie sie die die deutsche Alltagssprache auf witzige, kluge und phantasievolle Art geprägt und verändert hat: Erika Fuchs, die langjährige deutsche Übersetzerin der »Lustigen Taschenbücher« Walt Disneys. Foto: Selbst geknipst in der Ausstellungsräumen des Erika-Fuchs-Hauses in Schwarzenbach/Saale.

Chocverliebt

Gestern habe ich mich gefreut. Mit der Post kam ein gepolsterter Umschlag aus Dänemark an. Darin befanden sich zehn Tafeln einer meiner liebsten dänischen Schokoladensorten.

Wenn ich Lebensmittel kaufe, beschwere ich mich nicht immer, wenn ich zu Hause bei der Verarbeitung oder vor dem Verzehr bemerke, dass etwas damit nicht stimmt. Das liegt auch daran, dass ich an der Kasse beim normalen Supermarkteinkauf ein notorischer Bonverweigerer bin. Ich habe schon genug Geraffel im Portemonnaie: Kleingeld (insbesondere die unnützen Kupfermünzen), Scheine, Abholbelege für die Reinigung oder die Änderungsschneiderei, die eine oder andere Visitenkarte und natürlich Dutzende Plastikkarten: Kreditkarte Büro, Kreditkarte privat, Maestrokarte Büro und privat, Bonuskarte hier, Kundenkarte dort, BahnCard, Führerschein, METRO, diesdas. Ich nehme schon gar keine mehr an und hoffe sehnsuchtsvoll, dass die Plastikkartenmafia bald für all diesen Polymerballast eine Digitalisierungsmöglichkeit bereitstellt. Ich war hochentzückt, als ich neulich merkte, dass man an modernen Geldautomaten mit der NFC-Funktion des Handys eine darin gespeicherte Bankkarte zum Geldabheben nutzen kann. Das beschleunigt den inzwischen zwar seltener notwendigen, aber jedesmal enervierend umständlichen Prozess ungemein. Statt »Portemonnaie rausholen, Karte rausfieseln, Karte in Schlitz fummeln, die sekundenlangen Videorecordergeräusche aus dem Automaten abwarten, tippen, wählen, PIN eingeben, Geld rausholen, auf den Auswurf der Karte warten, Karte wieder ins Portemonnaiefach friemeln und es wegstecken« fallen so die ersten vier und die letzten zwei Schritte beim kontaktlosen Abheben einfach weg. Dit jefällt mer. Mitte der Neunziger noch war mein Portemonnaie nur halb so groß wie jetzt, doch über die Jahre musste ich mir beim verschleißbedingten Wechsel allmählich immer größere Geldbörsen kaufen, allein um die wachsende Zahl der Plastikkarten unterbringen zu können. Dabei habe ich sowas wie eine Paybackkarte oder Kundenkarten von Schuhgeschäften, Imbissen, Drogeriemärkten schon immer konsequent abgelehnt. Brauch ich nicht, will ich nicht, kann weg.

Aber zurück zum Gedankengang. Ich nehme oft keinen Bon an der Kasse mit. Dann stehe ich da zu Hause mit einem Blumenkohlkopf, der sich nach dem Aufschneiden innen braun und matschiggefault präsentiert oder mit einem Netz Mandarinen, in dem sich eine halb verschimmelte versteckt. Dann bin ich meist wenig geneigt, ohne Kassenbon extra noch mal zurück zum Laden zu gehen (der auch manchmal weiter weg liegt, wenn ich auf längeren Wegen durch die Stadt meine Besorgungen machte), dort glaubhaft zu machen, dass die Ware vor Ort gekauft wurde, daraufhin Ersatz oder Erstattung zu fordern und schließlich wieder zurück nach Hause zu fahren. Meistens entsorge ich das verdorbene Produkt, besorge mir in unmittelbarer Nähe ein neues und gut. Diesen Gleichmut pflege ich aber zumeist nur bei vergleichsweise preiswerten Waren. Würde ich bemerken, dass ein teures Biobrathähnchen oder ein Glas Edelpesto schon vor dem Kauf dem Verderb anheim fielen, würde ich natürlich reklamieren. Notfalls auch ohne Bon.

Während eines früheren Dänemarkurlaubs nun, hatte ich in einem dortigen Supermarkt eine Schokoladensorte entdeckt, deren Beschreibung sich spannend las, so dass ich eine Testtafel kaufte. 70% Kakogehalt, das entsprach schon mal meiner Grundvorliebe für dunkle Schokolade. Bio war sie, das ist ebenfalls begrüßenswert. Und »Coffee« stand auf der Packung, das fand ich zunächst zwar erst nicht so interessant, weil Kaffee als Schokoladenzutat gerne mal nur als in die Schokolade gerührte Flüssigzutat, als Aroma oder in irgendwelchen pastos-vertrüffelten Füllungen daherkommt, was ich alles nicht so gerne mag. Doch auf der Rückseite stand »ØKOLOGISK MØRK CHOCOLADE MED FORMALET KAFFE«, also »BIO-BITTERSCHOKOLADE MIT GEMAHLENEM KAFFEE« (10%, das ist nicht ohne). Und diese Angaben machten mich neugierig, denn der Kaffee schien hier sensorisch noch spürbar als feines Granulat beigefügt zu sein. Spannend. Mochte ich doch schon immer gerne die herben schokolierten gerösteten Kaffeebohnen, die man in manchen Restaurants zwecks Rechnungsversüßung beigelegt bekommt und die so schön krachen beim Zerbeißen. Und tatsächlich fiel der Test des herben Naschwerks ausgesprochen angenehm aus. Feine, nicht zu säuerliche dunkle Schokolade, die beim Schmelzen im Mund die feinen Kaffeepartikel freisetzte. Vor der Abreise nahm ich einige Tafeln mit zurück nach Deutschland und so hielt ich es auch bei den seither folgenden Urlauben in Dänemark. Auch beim letzten Jahresendurlaub 2023/24 in der Nähe von Nørre Nebel in Westjütland, dem Ort, wo mein Mitnehmseleinkauf in der Filiale der Marktkette »Super Brugsen« erfolgte.

Wieder zu Hause, verschenkte ich von den vier mitgebrachten Tafeln zwei an einen Freund, der während des Urlaubs meinen Wohnungsschlüssel verwahrt hatte, die anderen beiden behielt ich. Kurz darauf erhielt ich von dem Beschenkten ein Foto geschickt, mit der Schokolade stimme etwas nicht. Bei beiden Tafeln.

Daraufhin prüfte ich auch meine beiden Packungen. Und es war bei mir genauso. Die Tafeln waren innerhalb der Alufolienverpackung längs um etwa 20% »zusammengerutscht« (was man bereits von außen sehen und ertasten konnte) und wiesen auf der Oberfläche Bläschen und einen hellen Belag auf, als seien sie in der Packung leicht geschmolzen, hätten sich verformt und wären dann wieder erkaltet. Ich wusste, dass ich die Schokolade nach dem Kauf, auf allen Transportwegen und bei jeder Lagerung trocken und kühl verwahrt hatte. Außerdem war es seltsam, dass die Längsrichtung der Verformung bei allen Tafeln identisch und seltsamerweise quer zur senkrecht aufgestellten Regalpräsentation im Supermarkt verlief. Sehr wahrscheinlich hatte die Ware also vor dem Einräumen ins Ladenregal bereits derart gelitten.

Man kennt es, dieses peinliche Gefühl, wenn man jemandem etwas fertig Verpacktes schenkt oder ihn/sie in ein Lokal einlädt und anschließend entpuppt sich das Geschenk als beschädigt, unbenutzbar oder ungenießbar oder der Gastronomiebesuch verläuft geschmacklich oder anderweitig katastrophal – alles außerhalb des eigenen Verschuldens, aber trotzdem fühlt man sich irgendwie mitverantwortlich und mitbeschämt. Deshalb beschloss ich auch ohne Bon und trotz der 350 km entfernten Bezugsquelle jenseits der Landesgrenze, einen höflichen Reklamationsversuch zu starten. Ich durchlief zunächst die Reklamationsprozedur auf der Website, deren Adresse auf der Verpackung angegeben war, die schwedische Mutterfirma »Coop«, welche die Produkte dieser Marke herstellt und/oder vertreibt und fügte auch Fotos bei. Man antwortete schnell und höflich aus Schweden, dass für Reklamationen in Dänemark der jeweilige Supermarkt der korrekte Ansprechpartner sei und auf der Website der Supermarktkette konnte ich tatsächlich im Nu eine spezifische Mailadresse für genau diese Filiale ausfindig machen. Ich kopierte meinen (englischen) Beschwerdetext in eine Mail, hängte die Bilder der entstellten Tafel an und wiederum erhielt ich schon am nächsten Werktag eine Antwort, direkt vom Marktleiter:

»thank you for your complain and the photos.

I just took a few samples from differents packages, and the result is unfurtunately the same as the choclate in the pictures.

I would be happy to sent you some new packages, but for now i will make a request to Coop Danmark about full quality control of this product in Coop Danmark. When i have new and fresh products in the shop i will sent you a package with new choclate.

I hope the solution will be fine for you :)«

Ich dankte freundlich, dass das in der Tat fine for me sei und erwartete nun eine ein- bis mehrwöchige Pause für die angekündigte interne Prüfung. Doch schon vier Tage später traf das Entschädigungspaket bei mir ein – mit zweieinhalbmal so viel Schokolade, wie ich ursprünglich gekauft hatte. Glücklicherweise liegt das MHD hinreichend weit spät in diesem Jahr und ich bin zudem von etlichen Menschen umgeben, die (dunkle) Schokolade ebenfalls schätzen.

Das war eine Serviceerfahrung, wie ich sie liebe. Und einmal mehr mag ich sie wieder insgesamt sehr, die Dänen.

Gewohnheitstiere

Im vorletzten Blogartikel hatte ich ein paar Gedanken dazu aufgeschrieben, wie praktisch es sein kann, Gewohnheiten zu folgen. Was man immer wieder oder regelmäßig macht, ist mental irgendwann so fest verdrahtet, dass es automatisch abläuft und man nicht mehr großartig darüber nachdenken muss. Wenn ich mich in ein Auto setze, schnalle ich mich automatisch an, ehe ich den Zündschlüssel rumdrehe. Inzwischen nahezu ein Reflex. Und seit ich mich einmal vor Ewigkeiten aus meiner Wohnung ausgesperrt habe, habe ich mir angewöhnt, den Fuß von außen in die Tür zu stellen, wenn ich die Wohnung verlasse, und zu prüfen, ob ich den Schlüssel dabeihabe, ehe ich den Fuß wegnehme, die Tür zuziehe und abschließe. Auch das ist bei mir erfolgreich zum Automatismus geworden.

Immer, wenn ein neues Jahr vor der Tür steht, drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob man für sich »gute Vorsätze« formulieren will. Das kann in der alltäglichen Praxis eigentlich nur dann klappen, wenn daraus baldmöglichst eine dauerhafte Gewohnheit entsteht. Für 2023 hatte ich mir nur zwei Vorsätze genommen: bei der Ernährung öfter auf Fleisch verzichten und in einem gesunden Maß sowie mit geruhsamem Tempo mein Gewicht zu reduzieren. Hat beides das komplette Jahr über ganz gut geklappt und wird mit dem Ziel einer weiter zu verfestigenden Gewohnheit ins Jahr 2024 mit rübergenommen.

Es gibt aber auch Gewohnheiten, bei denen es von Nachteil ist, dass man nicht mehr drüber nachdenkt. Nämlich wenn es sich um Routinen handelt, an die man sich gewöhnt hat, ohne sie noch bewusst zu hinterfragen. Die beste Analogie, die mir dazu einfällt, ist eine weiche, gepolstere Sitzkuhle auf dem heimischen Sofa an der Stelle, wo man am häufigsten Tag für Tag Platz nimmt. Sie zeigt mir schon vor dem Hinsetzen an, wo »mein Platz« ist; wenn ich dort sitze, ist es superbequem, aber durch die Vertiefung im Polster wird es auch zunehmend schwieriger, auch nur ein wenig die Position zu verändern. Ich müsste schon bewusst aufstehen und mich einen Platz weiter auf ein weniger eingesessenes Stück Sofa setzen, um aus dieser Gewohnheit wirklich rauszukommen. So merkte ich etwa im Laufe des letzten Jahres, dass sich das private »Einigeln«, das seit dem Beginn der Corona-Pandemie notgedrungen im Alltag Einzug hielt, bei mir immer noch anhält und sich zudem etwas mehr zu verfestigen droht, als es mir gefällt oder guttut. Durch 80–90% Homeoffice beschränkt sich die Kommunikation im Job mit den (wenigen) Kollegen und mit Kunden inzwischen hauptsächlich auf Videocalls. Ich merke aber, dass ich die persönliche Begegnung, Live-Teamwork, spontane Interaktionen oder auch einfach mal »zwischendurch Quatsch machen« vermisse. Schon im letzten Quartal 2023 habe ich daher begonnen, öfter mal wieder Live-Arbeitstreffen zu initiieren und möchte das auf jeden Fall fortsetzen. Auch im privaten Bereich habe ich bemerkt, dass der im persönlichen Kontakt gepflegte Freundeskreis etwas zu sehr geschrumpft ist, als mir das gefällt. Man ist zwar lose in Kontakt über Facebook, WhatsApp usw., aber das früher häufigere »mal was trinken gehen« oder »zusammen kochen/essen« z.B. ist deutlich reduziert. Kommt also auch mit auf den Plan »vom guten Vorsatz zur festen Gewohnheit«.

Verbunden mit der Wiederbelebung der Bande zu guten Freunden ist die Fortsetzung des Bestrebens, Menschen bewusst von mir fernzuhalten, die mir nicht gut tun. Auch hier steht die Gewohnheit im Weg, insbesondere online, denn allein, weil man jemandem im Internet schon eine gefühlte Ewigkeit folgt, darf das eigentlich kein Grund sein, missmutig gewordene Follower oder solche, deren Ansichten in die Befremdlichkeit abdriften, zu entfolgen. Hinfort mit allen, die schlechte Stimmung machen, das eigene Befinden trüben oder zu überflüsigem Stress führen. Dabei hilft auch das fortschreitende Alter – ich habe schlich keine Lust mehr, meine verbleibende Zeit unnötig mit Menschen, Kontakten und Interaktionen zu verplempern, bei denen ich es meiner Kontrolle unterliegt, sie zu beenden. Und das gilt auch für Menschen im realen Umfeld. Weg mit den Verdrussquellen, hinfort, hinfort!

Was mich auch noch ärgert, ist meine seit Jahren (zu) enge Bindung an Online-Lektüre. Das Internet hält mich massiv vom Bücherlesen ab – und damit bin ich bestimmt nicht alleine. Ich bin zwar mit vielen netten Followern verbunden, bin aktuell und umfassend informiert, aber die ständige Häppchenkost aus Postings, Blogbeiträgen, E-Mails, Nachrichtenmeldungen, Messages und Suchergebnissen schadet spürbar meiner Aufmerksamkeitsspanne – ich lese also nicht nur seltener längere Texte oder Bücher, sondern es fällt mir auch noch schwerer, wenn ich es tue, mich darauf zu konzentrieren und das ist nicht gut. Ob und wie ich es hinbekomme oder in eine Gewohnheit überführen kann, mich von Display und Monitor täglich oder mehrmals in der Woche zu lösen, weiß ich noch nicht. Vielleicht gibt es ja Tipps aus eigener Erfahrung der Leser? Ich würde mich freuen, davon zu hören.

In den letzten Wochen des Jahres musste ich an zwei Ereignisse aus meinem eigenen Umfeld denken, die symbolisch ebenfalls schädliche, aber leider recht verbreitete Gewohnheiten aufzeigen. Die erste Anekdote ist mir ausgesprochen peinlich, aber da das fragliche Ereignis inzwischen gut 35 Jahre her ist und mich zudem nachhaltig geläutert hat, habe ich mittlerweile etwas Distanz dazu. Es muss in den Jahren 1987–1989 geschehen sein, ich war damals Anfang 20, als meine »Stamm-Discothek« in meinem Wohnort zur Silvesterparty einlud. Das Angebot, mit einer begrenzten Anzahl von Tickets, bot zu einem Eintrittspreis von 50,– DM den ganzen Abend freie Versorgung mit Speisen und Getränken – ohne Limits. Mit zwei Freunden griff ich zu, erwarb ein Ticket und so begann am SIlversterabend gegen 21 Uhr unsere Jahreswechsel-Sause im besagten Club. Um Essen zu bekommen, musste man zwar an den Tresen gehen, aber die Getränke waren in großen Kühltruhen für jeden Gast frei zugänglich: Bier, Wein, Sekt, Wodka, Tonic, Cola, Gin, Bitter Lemon, Whisky – all inklusive. Und es wurde ein verhängnisvoller Jugendexzess. Ich habe den Jahreswechsel um zwölf vor Ort nicht mehr in einem hinreichend klaren Zustand erlebt. Schon weit vor Mitternacht hatte das ungehemmt wahrgenommene Angebot an durcheinander getrunkenen (ich sage bewusst nicht »genossenen«) Spirituosen aller Art zu starker Übelkeit mit entsprechender oraler Ausstoßreaktion geführt und so verließ ich die Party zwar ohne Filmriss, aber sehr betrunken, derangiert, befleckt und indisponiert und fuhr noch im alten Jahr mit einem Taxi nach Hause. Wie grauenvoll der Kater am nächsten Morgen war, erinnere ich zwar nicht mehr, aber ein solch unmäßiges Erlebnis mit Alkohol wiederholte sich bei mir nie wieder.

Das andere Vorkommnis wurde mir von meiner Mutter berichtet, die in den 1990er Jahren eine Zeitlang in ihrer damaligen Wohnung in der Nähe von Hannover ein Gästezimmer an Besucher oder Standpersonal der Hannover Messe vermietete. Ein englischsprachiger Gast zog für die Dauer der Veranstaltung bei ihr ein, benahm sich dem ersten Eindruck nach gesittet und unauffällig, wenngleich er oft erst spät abends in die Unterkunft zurückkehrte, und reiste am Ende der Messewoche frühmorgens unter Hinterlassung des Zimmerschlüssels wieder ab. Bei der nachfolgenden Raumpflege und Reinigung erwartete meine Mutter dann, unter dem sorgfältig über das Bett drapierten Federbett, eine ergiebige Lache Erbrochenes. Auch dieser Gast hatte wohl am Vorabend über die Stränge geschlagen und sich ohne Hinweis auf seinen Fauxpas aus dem Staub gemacht, was ihn jedoch nicht davor verschonen sollte, sich nachfolgend schriftlich mit meiner zu Recht erbosten Mutter auseinandersetzen und zumindest materiell für Schadenersatz sorgen zu müssen.

Wo ist der Bezug zu den davor geäußerten Gedanken? Das Bild der zum Pauschalpreis offenstehenden Party-Kühltruhe und der mit einem eigentlich lächerlichen Preis abgegoltene »all inclusive«-Zugriff auf die nahezu unerschöpfliche Vorräte drin, ohne Gedanken an diejenigen, die dieses Angebot bereitstellen, an die Folgen des unmäßigen Konsums, oder an jene, die mit den Hinterlassenschaften konfrontiert werden bzw. sie zu beseitigen haben, hat für mein Empfinden einiges gemein mit unserer »westlichen« Lebensweise, die von vielen Leuten immer noch mit dem Wort »Wohlstand« bezeichnet wird, obwohl Überkonsum eigentlich treffender wäre. Und wenn, wie in der zweiten Geschichte, die Folgen dreckig, peinlich, eigentlich unübersehbar und womöglich unumkehrbar sind, diese mit einer blütenweißen (metaphorischen) Decke zu kaschieren, ist das m.E. ein recht passendes Bild dafür, wie viele (gewerbliche) Verursacher sich verhalten und damit leider oft nach wie vor in der Öffentlichkeit »durchkommen«.

Ein Begleitgedanke, der mir kürzlich noch kam, als ich negative Kommentare im Netz auf fremde (und bisweilen auch eigene) Beiträge las, dockt ebenfalls lose an der Silvesteranekdote an. Kann es sein, dass viele Menschen das monatliche oder prepaid entrichtete Entgelt für ihren Internetzugang irrtümlich ebefalls als eine Art »Pauschalpreis« interpretieren, der sie glauben macht, damit auch einen festen Anspruch auf Art, Inhalt und Formulierung der (kostenlosen) Inhalte zu haben, die sie dort konsumieren? Eine Art »VIP-Logen-Attitüde«, die sie vermeintlich befugt, trotz Freikarte an allem rumzunölen und gleichzeitig Anpassung und Änderung einzufordern, wo eigentlich nur eine unverfängliche private Meinung oder Alltagsnotiz gepostet wird, die ihnen missfällt? Ich sehe ein, dass jemand, der (ungeprüft) ein Buch kauft, eine Zeitschrift, Zeitung, eine Kinokarte, eine Filmdatei oder ein anderes kommerziell erzeugtes Produkt, das Bedürfnis hat, den erworbenen und bezahlten Content – auch öffentlich – bei Mängeln oder Missfallen zu kritisieren. Bildqualität schlecht, Schauspieler miserabel, Handlung unlogisch, Regie, Schnitt, Übersetzung, Lektorat mangelhaft, schmeckt nicht, billig verarbeitet – alles legitime Kritikpunkte, sofern ich für mein Geld einen direkten Gegenwert erhalten habe. Aber wenn jemand einen Monatsbeitrag an seinen Internetprovider bezahlt, zu fordern, dass private User auf den von ihm/ihr konsumierten kostenfreien Kanälen oder Social-Media-Plattformen ihren Content auf seine/ihre Bedürfnisse oder Weltsicht abstimmen, erscheint mir das nicht nur anmaßend, sondern absurd. Ja, natürlich gilt uneingeschränkt die Meinungsfreiheit und jeder kann mir, wenn es ihn oder sie partout drängt, mir oder anderen gegenteilige und beliebig schnoddrige Kommentare unter deren Online-Beiträge packen. Ich verstehe nur nicht, warum es so vielen ein Bedürfnis ist, dies bei lediglich geschmacks- oder interessenbedingt abweichenden Ansichten zu tun und dafür zudem eine beträchtliche Menge Zeit zu investieren. Jeder (kostenfrei zugängliche) Supermarkt hat zahllose Produkte im Sortiment, die mich nicht interessieren, für die ich keinen Bedarf habe, die ich nicht mag oder sogar verabscheue. Ich gehe dort einkaufen, wähle aus, was mir gefällt oder was ich benötige, zahle dafür und habe auch stets das Recht auf Reklamation bei Produktmängeln, oft sogar bei nachträglichem Nichtgefallen. Aber gehe ich durch die Gänge und klebe Post-Its mit Mäkel- und Aversionsparolen an die Regale mit Babywindeln, Harzer Käse, Rollmops, Duftkerzen oder Monatshygieneartikeln? Oder verlange ich zeternd vom Marktleiter, dass die mir persönlich nicht genehmen Produkte unverzüglich aus dem Sortiment des Marktes genommen werden sollen? Wohl kaum. Im Netz ist dieses Denkmuster jedoch auffallend häufig anzutreffen. Wieso nicht öfter gönnen können, Differenzen aushalten, über unbedeutende Fehler hinwegsehen, sich entweder mitfreuen oder weiterscrollen, akzeptieren, dass die Welt bunt ist und die Vorlieben, Geschmäcker und Interessen vielfältig sind, zur Kenntnis nehmen, dass nicht jeder Content für den eigenen Bedarf erstellt wird und kapieren, dass es bei privaten Postings keinen Anspruch darauf gibt, dergleichen einzufordern.

Gerne kann auch das von mir aus eine Gewohnheit werden, die im neuen Jahr mehr Freunde findet.

Neues Jahr, neue Wege? Und wenn ja, den geänderten Kurs planen – oder einfach drauflosmarschieren?

Bricks

Neulich hatte ich am Vorabend einer längeren Zugreise zu Hause brav erst ein Backup meines iPhone 12 mini gemacht, sodann ein Update aller zu aktualisierenden Apps und anschließend nochmals ein Backup. So sah ich mich zusätzlich zum mitgeführten Gepäck und Proviant gut vorbereitet auf meine Fahrt.

Als ich schon in der U-Bahn saß, fiel mir noch ein, dass ich die in der Wohnung installierte IP-Kamera während meiner Abwesenheit einschalten könnte und rief die dazugehörige App auf dem Handy auf. Und just als ich den kleinen virtuellen Schalter zur Aktivierung der Kamera berührte, wurde mein Display schwarz. Ich tippte darauf. Nichts. Ich wischte nach oben, nach unten und zur Seite. Stumm und dunkel. Ich drückte die einzigen verfügbaren mechanischen Tipptasten an der Seite des Geräts – einzeln, gemeinsam, sowohl länger als auch kürzer. Keine Reaktion. »Aah-ja.«, hörte ich eine Loriot-Stimme in meinem Kopf sagen. Ich war jetzt nicht unbedingt panisch, obwohl mein Bahnticket auf dem Handy gespeichert war, denn ich könnte die Buchungsbestätigung und somit das Ticket auch noch auf dem eingesteckten Klapprechner abrufen und konnte unterwegs zur Not auch von selbigem Nachrichten und Mails versenden oder ein Telefonat führen, aber doof war das schon irgendwie.

Es war aber garnicht mal der ungelegene Zeitpunkt dieser Dysfunktion, der mich wurmte, sondern die »Kategorie« dieses Defekts. Wenn ein Gerät, das nahezu frei von mechanisch-haptischen Bedienelementen ist, ein fast komplett verkapseltes, nahezu nahtloses Gehäuse besitzt, ähnlich dem Monolithen in Kubricks »2001«, einen derartigen kompletten Funktionskollaps erleidet, lässt einen dies auf eine andere Art hilflos zurück wie beispielsweise eine Autopanne oder ein kaputter Toaster, finde ich.

Meine erste Begegnung mit dieser Art von Funktionsverweigerung hatte ich mit meinem ersten CD-Autoradio. Ich hatte es als ersten Preis bei einem Designwettbewerb im Auftrag der Firma Blaupunkt an meiner Hochschule gewonnen. Wir sollten frei und ohne gestalterische Vorgaben die Vorder- und Rückseite einer sogenannten »KeyCard« gestalten, mit der sich das Gerät vor Diebstahl schützen ließ, denn es funktionierte nur, wenn diese Karte zuvor in einen Slot des Radios eingesteckt wurde. Damals befand sich auch die Ära der »Telefonkarten« auf ihrem Höhepunkt, mit denen man bargeldlos(!) in Telefonzellen(!!) Anrufe tätigen konnte und so war auch die KeyCard ein durchaus hippes Accessoire und mein Entwurf sollte in limitierter Auflage real in Serie gehen. Ich war natürlich stolz wie Bolle, sowohl über diesen frühen »Ruhm« als auch über die elektronische Prämie für meinen kleinen Mexiko-Käfer. Doch nach einigen Jahren begann das Gerät zu meutern. Es weigerte sich immer häufiger, die in den Schlitz auf der Vorderseite des Radios geschobenen CDs nach dem Hörgenuss wieder auszuwerfen. Vermutlich gab es im Inneren eine oder mehrere Gummiwalzen, welche die Disc ein- und auswärts beförderten und diese waren nun abgenutzt oder mit reibungsmindernden Ablagerungen verschmutzt, was auch immer. Die CDs blieben immer häufiger drin und kamen anfangs nur nach längerem Verweilen beim der nächsten Autofahrt heraus, dann irgendwann immer seltener. Kein Stakkatotippen auf der Auswurftaste half, kein Gegenboxen oder Rütteln. Zwar gab es neben dem CD-Schlitz auch damals schon ein winziges Loch, in das sich zwecks mechanisch initiiertem Auswurf eine aufgebogene Büroklammer oder ähnliche dünne und stabile Hilfsmittel einführen ließen, aber die hatte ich erstens anfänglich natürlich nicht so ohne weiteres dabei und zweitens war auch diese »Lösung« weder in der Anwendung noch ihrer Wirkung sonderlich hilfreich. Ich hatte einen »Brick« im Auto.

Natürlich baute ich das Teil aus und prüfte, ob es irgendwelche Optionen gab, das Gehäuse zu öffnen, um wenigstens sehen zu können, was kaputt war, ungeachtet der Möglichkeit, dies selbst beheben zu können. Aber die gab es nicht. Ich probierte dann noch einmal, nach erfolgreichem Auswurf eines steckengebliebenen Mediums den Einsatz einer »Reinigungs-CD«, die man mit einem Reinigungsalkohol benetzen konnte und die dann im Gerät rotierend und gleitend für die Säuberung von Linsen und Transportrollen sorgen sollte, aber auch deren Effekt war nur von kurzer Dauer. Von da an hörte ich notgedrungen erstmal nur noch Radio beim Fahren.

Bevor mir die Berufstätigkeit einen Großteil meiner täglichen Bastelkapazitäten raubte, war ich ein recht neugieriger und auch in Teilen erfolgreicher Erkunder und Reparateur bei allen Arten technischer Fehlfunktionen. Ich reparierte schon als Teenager meinen damals sehr hippen orangefarbenen Astrosound-Cassettenrecorder, fand nach dem Aufschrauben dessen mürben Antriebsriemen gerissen vor und – Jahre vor dem Serienstart von »McGyver« – ersetzte ihn einfach durch einen passenden Haushaltsgummiring. Mutters »Krups 3 Mix« wurde ebenso erfolgreich repariert, es blieb zwar nach dem Auseinanderbauen und Zusammenschrauben ein seltsam geformtes Plastikteil über, aber er quirlte wieder wie neu. Auch an meinem Käfer erledigte ich bis zum Ende meines Studiums etliche, auch größere Reparaturen selber: Ölwechsel, Austausch von Zündkerzen, Verteilerkappe, Zündkabel, Heizbirnen und Drahtzüge der sehr eigenwilligen Käfer-Heizung, Reifenwechsel, Glühbirnen in Scheinwerfern – am Tresen der Werkstattmitarbeiter des örtlichen VW-Händlers war ich nahezu Stammgast und studierte oft genug neugierig mit ihnen auf einem klobigem Sichtgerät die auf Mikrofilm hinterlegten Explosionszeichnungen des Modells, um die Teilenummer des technischen Relikts ausfindig zu machen, das ich gerade ausgebaut hatte und das es zu erneuern galt.

Jahre später in Hamburg erzählte mir ein befreundeter Fotograf, als wir auf das Thema zu sprechen kamen, dass er seinen Citroën in die Werkstatt bringen müsse, wenn ein Lämpchen an Scheinwerfern oder Rückleuchten defekt sei, das könne er gar nicht mehr selber erledigen. »Die müssen den halben Kotflügel ausbauen, um da ranzukommen«, sagte er.

Das ist dann wieder ein anderes Thema. Denn ich finde, es gibt nochmal einen feinen Unterschied zwischen einerseits technischen Geräten, die aufgrund ihrer Konstruktion oder ihres Designs nicht erkennen lassen, was kaputt ist, so dass man keinerlei Anhaltspunkt zu Ursache oder Behebungsmöglichkeiten des Defekts bekommt und andererseits technischen Geräten, die so konstruiert sind, dass man sie im Falle eines Defekts entweder nicht selbst bzw. nur in einer (teuren) Fachwerkstatt, oder überhaupt nicht reparieren kann, was dazu führt, dass man sie ausmustern bzw. wegwerfen muss – eine Unsitte des Kapitalismus, die ganz besonders fragwürdig und verantwortungslos ist. Die erstgenannte Kategorie erscheint immerhin ein bisschen weniger vorsätzlich, denn wenn ein Gerät nun mal über nichts weiter als ein Touch-Interface und zarte Tipptasten verfügt, diese jedoch inaktiv sind, dann gibt es nichts mehr sanft zu touchen, elegant zu wischen oder diskret zu tippen. Das ist nicht nur funktional, sondern auch emotional frustrierend, denn in mancher Stresssituation hätte man gern Hebel, Tasten, Klappen, Scharniere, Deckel oder Regler, die man aufgewühlt malträtieren kann. Der Zorn oder der Stress ob der Funktionsverweigerung suchen ein Ventil, man möchte hämmern, klopfen, treten und Dinge beim Ausrasten wieder einrasten hören. Stattdessen wird man von einem aalglatten schwarzen Gehäuse angeschwiegen, das diese Optionen komplett verweigert. Dem echauffierten, emotional verwaisten User bleibt somit nur, sich entweder wieder abzuregen oder das komplette Teil in Rage in eine Ecke zu pfeffern. Dies ist hochgradig unbefriedigend und beinhaltet gerade bei größeren Geräten zudem die Gefahr beträchtlicher Kollateralschäden an Mensch und Ambiente.

Ich will ja gar nicht krückstockfuchteln oder lamentieren. Ich bin leidenschaftlicher SciFi-Fan und hätte mir damals nicht träumen lassen, dass ich mal einen Minicomputer, ähnlich einem Star-Trek-»Tricorder« in der Hosentasche tragen würde, der quasi das Fliewatüüt meines Alltagsmanagements darstellt und Kamera, Internet, E-Mail, Musik, Videos, Einkaufslisten, Bahntickets, Übersetzungshilfen, Terminkalender etc. pp in sich vereint. Und ich wische, touche und tippe gerne! Solange es funktioniert. Aber wenn ich dann von einem temporär oder dauerhaft defekten Gerät dieser Bauweise »ausgesperrt« werde und wie ein Gast auf der Hoteltoilette vor dem bewegungsgesteuerten Wasserhahn eine erfolglose und zunehmend verärgerte Aktivierungschoreographie performen muss, wünsche ich mir schon manchmal durchschaubarere Geräte wie meinen Astrosound-Cassettenrecorder zurück.

Ach ja: Mein iPhone funktionierte übrigens nach etwa zehn Minuten schwarzen Schweigens wieder ganz normal, als ob nichts gewesen wäre.

Bildmotiv K.I.-generiert via »Midjourney«

Blögchen, wechsel dich!

Letzten Samstag bekam ich einen Schreck. Als ich mich als Admin ins WordPress-Backend meines Blogs einloggen wollte, ging nichts mehr. Der vermeintliche Login-Prozess dauerte ewig, am Ende wurde lediglich eine Fehlermeldung eingeblendet: »502 Proxy Error – The proxy server received an invalid response from an upstream server. The proxy server could not handle the request. Reason: Error reading from remote server«. Uff.

Die gute Nachricht: Das Blog war abseits des Login-Fehlers im Netz fehlerfrei aufrufbar. Die schlechte Nachricht: Das letzte Backup war einige Monate her (KEIN MITLEID!). Also suchte ich nach Berichten und Tipps in Foren, Blogs und auf Hilfeseiten, was die Ursache sein könnte. Am Abend zuvor hatte ich noch vor dem Einschlafen mit dem mobilen WordPress-Client vom Bett aus einen Beitragskommentar freigegeben und beantwortet, doch auch dieser App war nun jeder Login-Zugriff verwehrt. Über Nacht hatten keine protokollierten Updates von Plugins, der PHP-Version oder WordPress selbst stattgefunden. Es blieb ein Rätsel. Die Recherche ergab, dass oftmals Plugins für diese Fehlermeldung verantwortlich sind und es gab auch Tipps, wie ich alle oder einzelne Plugins mittels eines FTP-Clients – der glücklicherweise eingerichtet vorhanden war und auch funktionierte – deaktivieren und so systematisch prüfen konnte, wo der Übeltäter zu vermuten war. Inzwischen war auch eine E-Mail aus dem Backend eingetroffen, die zwar nochmals für Herzklopfen sorgte mit Betreff und Einleitung (»Deine Website hat ein technisches Problem« / »ein Plugin oder ein Theme hat einen fatalen Fehler auf deiner Website verursacht«) , aber auch zwei wichtige Hinweise zur Fehlerbehebung enthielt, nämlich den Namen des Plugins sowie einen Login-Link, der Zugriff auf das WordPress-Backup im »Wiederherstellungsmodus« ermöglichen sollte. Und das klappte!

Ich beschloss daraufhin, nicht nur das vermeintlich fehlerhafte Plugin zu deaktivieren bzw. zu ersetzen, sondern das Blog insgesamt einer Generalüberholung zu unterziehen: alle Plugins auf Kompatibilität prüfen, nicht (mehr) benötigte abzuschalten und zu entfernen bzw. durch neue oder besser bewertete zu ersetzen, die PHP-Version zu aktualisieren und das jüngste Update des WordPress-Core selbst zu installieren. Doch auch mein Backup-Plugin »BackWPup« wies nun Fehlfunktionen auf. Trotz der bis zum Ende durchgeführten Backup-Prozedur wurden bei mehreren Durchgängen und mit unterschiedlichen Backup-Konfigurationen zwischen 9.000 und 20.000 »Warnungen« ausgegeben: »Trying to access array offset on value of type bool«. Also auch dieses Plugin ausgetauscht. Das neue, »UpdraftPlus« lief anstandslos, na also. Nach dem Schreck erschien es mir sinnvoll, ein Backup-Schema mit regelmäßigen Sicherungsintervallen einzurichten und schließlich funktionierte alles wieder fehlerfrei. Hurra!

Dennoch wollte ich es dabei nicht bewenden lassen. Die Anzahl der Plugins könnte noch weiter verringert werden, mein schon etwas betagtes Theme »Treville« auf eine neuere, komfortabler zu handhabende Generation umgestellt werden und das Design einem behutsamen »Facelift« unterzogen werden. Also, auf ans Werk!

Als ich den »Look« des Blogs kritisch betrachtete, war ich damit insgesamt immer noch recht zufrieden. Mein Farbschema, die gewählten Schriften, die vom »EXPO2000«-Logo inspirierte Headergrafik, das Seitenlayout – eigentlich war das immer noch »ich«, obwohl dieser Look bereits seit November 2012 im Einsatz ist. Ein gutes Zeichen, also beschloss ich, das Design nur minimal zu aktualisieren und ansonsten dabei zu bleiben.

Da die Arbeit mit HTML und CSS nicht mein täglich Brot ist und meine Kenntnisse darin begrenzt sind, suche ich beim »Blogbasteln« recht oft Unterstützung auf Seiten wie mdn web docs‘ CSS reference oder W3Schools, bislang auch stets mit Erfolg. Diesmal beschloss ich, versuchsweise zusätzlich ChatGPT zur Prüfung und Optimierung meiner selbstgebastelten Codeschnipsel hinzuzuziehen. Das klappte im Prinzip auch sehr gut, lediglich bei der Schlussprüfung der lokalen Schrifteinbindung baute mir die K.I. einen ziemlich groben Fehler bei der Auszeichnung der »Fallback-Schriften« in den CSS-Code ein, der zwar anfangs plausibel aussah, aber bei der Anwendung zum kompletten Versagen des Stylesheets führte. Erst mithilfe menschlicher Ratgeber via Mastodon konnte ich den Lapsus wieder ausmerzen.

Jetzt sieht alles so aus, wie es aussehen soll, funktioniert (der ersten Prüfung nach) fehlerfrei, auf dem neuesten Stand mit einem neuen WordPress-Theme und gut gesichert mit einem periodischem Backup-Plan. Ich hoffe, meinen Besuchern und Lesern gefällt’s.

Ausschnitt einer deutschen Originalzeichnung für die »Lustigen Taschenbücher«, selbst geknipst im Erika-Fuchs-Haus in Schwarzenbach (Saale).

Gradwanderung

Es ist Sommer und ich leide. Mir ist es zu heiß und mir ist es zu schwül. Seit ich mich erinnern kann, ist eher der Frühling meine liebste Jahreszeit, schon vor der Zunahme von »Rekordsommern«. Vielleicht liegt es daran, dass ich an der Schwelle zum Frühling, Anfang März, Geburtstag habe und in den ersten 2–3 Monaten meines Daseins auf der Erde auch mein Wohlfühlthermometer geeicht wurde. Das erschiene mir einleuchtender als irgendwelche Prägungen, die mit Sternenkonstellationen zu tun haben sollen. Ich liebe Temperaturen zwischen 19 und 25 °C, dazu ein paar schattenspendende Schäfchenwolken am Himmel und eine leichte Brise. Schweden kriegt so ein Wetter selbst im Sommer oft noch ziemlich gut hin, deshalb mache ich da vermutlich so gerne Urlaub.

Ich erinnere mich sogar noch an ein paar Zeilen aus einem Kinderbuch, das ich wegen der übersprudelnd fantastischen Geschichten darin bis heute aufgehoben habe. Ähnlich wie in den Büchern von J. R. R. Tolkien erlebt in diesem Buch eine Truppe von Gefährten auf einem langen Weg viele märchenhafte Abenteuer. Ein Mitglied der Gruppe ist ein Wassermann, der sich von den Mitstreitern überreden ließ, seinen Teich zu verlassen und mitzuziehen. Als die Abenteurer auf einem Stück des Weges unter großer Hitze leiden, überlegt der Wassermann, obgleich er von seinen Freunden fortwährend mit Wasser besprenkelt wird, die Mission aufzugeben:

Der Wassermann jammerte: »Das halte ich nicht aus! Ich muss umkehren. Ich will zurück in meinen Teich!« – »Aber Wassermann«, meinte ich, »denkst du denn gar nicht an das arme Mondschaf?« – »Ich kann nicht mehr denken«, blubberte er. »Wenn ich schwitzen muss, schlägt mein Gehirn Blasen!«

(Wolf Dieter von Tippelskirch: »Jeremias Schrumpelhut erzählt – Die Reise zum Stern Traumatia«)

Bestimmt habe ich mir diesen Absatz gemerkt, weil ich schon im Alter von 8 oder 9 allzu heißem Wetter nichts abgewinnen konnte. Ich erinnere mich, dass ich eine ziemliche »Wasserratte« war und mich im kühlen Schwimmbadwasser eher wohlfühlte als an Sandstränden, auf Liegewiesen oder glühenden Spielplätzen. Oft blieb ich auch im Sommer einfach drin (einige Jahre lang hatte ich ein riesiges Kinderzimmer im Keller unseres Mietshauses, das auch im Sommer wunderbar kühl blieb) und musste mir dann anhören, ich sei ein »Stubenhocker« und solle doch mal »an die frische Luft gehen«, dabei war die überhaupt nicht frisch. Erwachsene sagen auch nicht immer die Wahrheit, das wurde mir in den Sommern meiner Kindheit klar.

Ich muss einkaufen gehen, der Kühlschrank braucht neuen Content. Ich würde gern Fahrrad fahren, aber dann zerflösse ich endgültig. Ich schwitze relativ schnell, leider. Im Sommer gibt es für Menschen, die leicht schwitzen, eigentlich nur eine tragbare Klamottenfarbe: schwarz. Weiß geht gar nicht, das schmiegt sich in den nassgeschwitzten Zonen sofort eng an die Haut und man sieht das Epidemisrosa in klebrigen Inseln durchs trockene Textil schimmern. Farben wie Orange, Blau, Violett, Grün, Grau, Rot oder Rosa – abgesehen davon, dass mir die meisten davon nicht stehen – werden in den durchfeuchteten Transpirationszonen sofort markant abgedunkelt und man läuft mit weithin sichtbaren, tellergroßen Hitzeflecken unter den Armen, an Bauch und Rücken durch die Welt. Schwarz absorbiert die Feuchte, ändert dabei nur minimal die Farbe und lässt nichts durchscheinen. Nur nach längerer Anstrengung und anschließender Trocknung entstehen manchmal helle Streifen getrockneter Elektrolyte an einigen Stellen. Salzränder. Wie bei einem Margarita. Ein kleiner weiterer Nachteil: Schwarz wird in der Sonne noch eine Idee heißer als hellere Farben. Aber das ist irgendwann egal, genauso wie es egal ist, ob man sich an einer Tasse Tee mit 62 °C oder 65 °C die Zunge verbrennt.

Auf dem Weg durch die aufgeheizten Straßen fallen mir an mehreren Stellen auf dem Asphalt bei Lindenbäumen bemerkenswert große dunkle Flecken unter deren Baumkronen auf. Dass Linden im Sommer herumkleckern, ist mir geläufig, ich bewohnte 4 Jahre lang eine Wohnung, deren estrichbeschichteter Balkon unter einen Lindenbaum ragte. Dieser sorgte mit seinen Absonderungen im Sommer für ein pappiges Gehgefühl auf dem Balkonboden und versah alle dort abgestellten Dinge, wie etwa Klappstühle, mit einer klebrigen Glasur (als effektives Hausmittel zu deren Entfernung stellte sich übrigens, nach langen und ausführlichen Testreihen, ein Backofenspray mit dem Inhaltsstoff 2-Aminoethanol heraus). Aber in diesem Sommer scheinen die Linden geradezu vor Zuckersaft zu triefen, an manchen Stellen glänzte der Gehweg unter ihnen, die Schicht schien millimeterdick, als hätte jemand eine Flasche Sirup vergossen. Dank Internet lernte ich, dass Linden nicht selbsttätig tropfen, sondern dass die zuckerhaltigen Ausscheidungen einer auf Linden spezialisierten Läusepopulation dafür verantwortlich sind. Ist 2023 also ein Läusejahr? Es ist ja auch schon ein Orcajahr, und – wie mir letzte Woche an der Ostseeküste auffiel – offenbar auch ein Greifvogeljahr. Vielleicht sind manche vermeintlichen Häufungen aber auch nur gefühlt. In Zeiten des sich immer weiter manifestierenden Klimawandels mit seinen jährlich neu eskalierenden Anomalien guckt man womöglich ja auch genauer hin, hat feinere Antennen, eine geschärfte Aufmerksamkeit. Nicht normal ist das neue normal, man droht sich daran zu gewöhnen. Nicht schön.

Die Pflanzen auf den Grünstreifen neben Straße und Gehweg lassen welk Stängel und Blätter hängen. Mehr Vegetation in den Städten könne im Sommer an heißen Tagen die Temperatur merklich senken, liest man. Flächen sollten entsiegelt, von Beton und Asphalt befreit und üppig begrünt werden. Ich fände das wunderbar, allein optisch. Aber gleichzeitig vermelden die Nachrichten auch Dürren, Wassermangel und ausbleibende Niederschläge allerorten. Da kommt die Frage auf, ob und wie die zusätzlichen Stadtpflanzen in den dräuenden immer heißeren und trockeneren Jahren bewässert werden sollen, wenn die vorhandenen Gewächse derzeit schon dürsten.

Auch ich dehydriere allmählich auf meinem Weg. Ich hätte eine Wasserflasche mitnehmen sollen, bereits der mäßig weite Weg zum gewählten Supermarkt erweist sich als Durststrecke. Im Laden kaufe ich mir ergänzend zu den notierten Einkäufen ein isotonisches Sportgetränk. An heißen Sommertagen ist auch Gehen Sport.

Mit Blick aufs Thermometer ist es dieser Tage eigentlich noch gar nicht übermäßig heiß. 28 °C in Hamburg, sagt die Wetter-App. Der Hochsommer liegt noch vor uns, es könnten Tage mit 30, 34, 36 °C bevorstehen. Da fällt mir ein weiterer Textausschnitt ein, der mir im Kopf hängengeblieben ist – aus einer Satire des wunderbaren Ephraim Kishon:

Ich weiß nicht, auf welchem Breitengrad unsere Wohnung liegt. Es kann nicht sehr weit vom Äquator sein. Im Schlafzimmer haben wir 42 Grad gemessen, an der Nordwand unserer schattigen Küche 48 Grad. Um Mitternacht.
Seit den frühen Morgenstunden liege ich da, bäuchlings, die Gliedmaßen von mir gestreckt, wie ein verendendes Tier. Nur dass verendende Tiere kein weißes Schreibpapier vor sich haben, auf das sie etwas schreiben und mit ihrem Namen zeichnen sollen. Ich, leider, soll. Aber wie soll ich? Um den Kugelschreiber aufzuheben, müsste ich mich hinunterbeugen, in einem Winkel von 45° (45 Grad!), und dann würde der auf meinem Hinterkopf ruhende Eisbeutel zu Boden fallen, und das wäre das Ende.

(Ephraim Kishon: »Hitze«)

Meine Strategie gegen Hitze in der Wohnung – soweit die tageszeitlichen Schwankungen Außentemperatur das zulassen – ist, möglichst nur nachts zu lüften. Gegen Mitternacht reiße ich alle Fenster und Türen auf – außer der Wohnungstür natürlich – und lasse den linden Nachthauch durch meine Klause strömen. Morgens zwischen 7 und 8 wird dann wieder alles verrammelt, auf der Sonnenseite zuerst, auf der Schattenseite warte ich gern noch ein bisschen. Es gibt etliche Tipps und Tricks im Netz, wie sich eine sommerheiße Wohnung mit »Life Hacks« runtertemperieren lassen soll, viele davon nutzen das Prinzip der Verdunstungskühle. Man kann z.B. nasse Handtücher vor den Ventilator hängen und ihn dagegenblasen lassen. Das mag tatsächlich einen gewissen Temperaturabfall erzielen, aber ich frage mich, was passieren würde, wenn ich das den ganzen Tag und vielleicht auch nachts machte? Die viele Feuchtigkeit, die da verdunstet, bliebe ja in der Wohnung. Was nützte es mir, wenn ich vier, fünf Grad Abkühlung erziele, doch dafür wellten sich die Seiten meiner Bücher im Regal, die Tapete löste sich ab, Holzmöbel quöllen auf, Schimmel eroberte Winkel und Ecken? Ich bin ein bisschen skeptisch.

Letzte Nacht gab es ein Gewitter in Hamburg, das war schön. Endlich mal länger als nur drei Minuten Regen, der sich ansammelt, anstatt sofort zu verdampfen und die Luft lediglich in ein atembares Heißgetränk zu verwandeln. Die Kühle hielt bis in den Morgen hinein an, ich wertschätze das. Überhaupt fühlt sich Sommer tagsüber und nachts, selbst bei annähernd gleich warmer Luft, für mich komplett anders an, erst recht in einer großen Stadt wie Hamburg. Wenn die emsigen Geräusche des Tages verstummen, kaum noch Autos und Fußgänger unterwegs sind, die Sonne untergegangen ist, in der Nachbarschaft überall die dunklen oder noch beleuchteten Fenster und Balkontüren weit offenstehen, nur ab und zu ein Lufthauch das Laub der Straßenbäume zum Rascheln bringt oder die nächtliche Stille ab und zu von fern durch ein Martinshorn oder das Rumpeln einer Hochbahn durchbrochen wird, hat eine Stadt im Sommer eine ganz besondere Atmosphäre. Kupferfarbene Zeitlupe. Ein früher Song der Eurythmics ist für mich seit einer Reise nach Chicago, als ich einmal mitten in der Nacht in der Maihitze auf dem Hotelbalkon diese Nachtstimmung einsog, deren perfekte musikalische Inkarnation:

Vorhin hatte ich ja gemutmaßt, meine persönliche Temperaturpräferenz könne mit der Jahreszeit meiner Geburt korrelieren. Aber in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es auch Gegenbeispiele. Eine ehemalige Kollegin, der es im Sommer nie warm genug sein konnte und die quasi gleich nach der ersten sonnigen Mittagspause eines Jahres braungebrannt wieder zurück ins Büro kam, hat Anfang Januar Geburtstag. Ein anderer Freund, der den Sommer und die Hitze liebt, ist im Mai geboren. Ein Kollege, der kurz oberhalb normaler Zimmertemperatur zu zerfließen beginnt, erblickte das Licht der Welt Anfang Juni. Kann also nicht sein. Sind es die Gene? Ist die Darmflora schuld? Gerne läse ich dazu von Indizien und weiteren Vermutungen in den Kommentaren. Von Max Goldt gibt es einen Text, der den Missmut der Thermophoben über alle Sternzeichen hinweg ganz gut in Worte fasst:

Viele Menschen hassen den Sommer. Doch niemand ist verpönter als einer, der den Mut besitzt, sich und andern einzugestehen, dass er dem Sommer nicht nur für sich persönlich keine gute Seite abgewinnen kann, sondern ihn regelrecht hasst und ihm den Vorwurf macht, an Übellaunigkeit und Antriebsschwäche schuld zu sein.
Dabei hat auch der Sommer durchaus schöne Tage, an denen es nur 15 Grad hat, ein freundlicher Wind die Windjacken wölbt und der Himmel die durstige Schöpfung labt. Doch dann wird gemault und gejammert, und die Medien überbieten einander mit langweiligen, leutseligen Wetterbedauerungen.
Doch freilich sind’s die heißen Tage, die uns Sommerverächtern am meisten auf die Nerven gehen. Sofort reißen sich die Leute die Kleider vom Leibe und finden es offenbar völlig normal, in Unterwäsche Kunden zu bedienen, Kinder zu unterrichten oder Kirchen zu besichtigen.

(Max Goldt: »Der Sommerverächter«)

Die steigenden Temperaturen führen auch dazu, dass ich eine Abneigung entwickele, Wärme absondernde Haushaltsgeräte in Betrieb zu nehmen. Gern äße ich eine Scheibe Toast zum Frühstück, aber die glühenden Drähte im Brotschacht knuspern ja nicht bloß die Brotscheibe rösch, sondern heizen daneben auch die Küche mit auf. Pinienkerne für Pesto im Backofen rösten? Inakzeptabel. Irgendwas auf einer Herdplatte kochen oder braten? Abwegig. Staubsaugen und sich die Abwärme in die Bude föhnen lassen? Schauderhaft. Den Geschirrspüler einschalten und beim Öffnen der Klappe, selbst nach Stunden noch, von einem warmen Dunstschwall umfangen werden? Unerquicklich. Gibt es schon den Begriff »Sommerverwahrlosung«?

Aber ich will auch nicht nur klagen, der Sommer hat schließlich immer noch auch ein paar schönen Seiten, trotz Klimawandel. Es gibt lecker heimisches frisches Obst und viel saisonales Gemüse, es blüht und grünt überall (sofern genug Regen fiel), man kann Eis essen und baden gehen, picknicken und im Schatten einer Kastanie im Biergarten oder auf dem Balkon sitzen. Aber manchmal habe ich das Gefühl, wenn ich über den Sommer klage, wird es für die Dauer meiner Tirade ein kleines bisschen kühler. Vielleicht senken ja nicht nur nasse Handtücher vor dem Ventilator die Temperatur in der Wohnung, sondern auch ein bisschen Hitzejammern.


Wie kommt Ihr mit Hitzetagen klar? Was glaubt Ihr, wodurch Eure Präferenz geprägt wurde? Was sind Eure »Life-Hacks«, wenn Ihr Linderung sucht? Welche Texte oder Musikstücke assoziiert Ihr mit extrem heißen Tagen? Ich freue mich über Kommentare.

Spektakulär

Es gibt zwei Dinge, die mich wahlweise nerven oder amüsieren, wenn ich – was ich davon abgesehen eigentlich gerne tue – Natur-Dokumentationen ansehe. Das eine sind die filmischen Werke, die von Anfang bis Ende mit einem überpompösen, dröhnend-pathetischen Orchestermusikteppich unterlegt sind. Kompositorisch irgendwo zwischen dem »Gladiator«-Soundtrack und Wagners »Walkürenritt«, aber lieblos und ohne jegliche Höhepunkte oder irgendwelche hängenbleibenden Melodien herunterkomponiert, Hauptsache permanent an- und abschwellend und Dramatik suggerierend, wo im Bild gar keine ist. Eine Knospe erblüht – *dröhn*. Eine Elefantenmutter säugt ihr Kalb – *dröhn*. Meditativer Kameraschwenk über die Baumkronen des Dschungels – *dröhn*. Ich habe mich schon öfter gefragt, ob diese Art Musik ohne menschliches Zutun von einem Doku-Soundtrackgenerator erzeugt wird, oder ob tatsächlich Menschen aus Fleisch und Blut hinter dem Gedudel stehen. Viel schöner ist doch die Natur, wenn der Mensch die Klappe hält, die Geigen und Trompeten schweigen und die Waldwanderer ihre Boombox zu Hause lassen.

Das andere ist der inflationäre Gebrauch des Wortes »spektakulär«. Wäre es nicht so ungesund, könnte man ein Trinkspiel daraus machen und sich jedesmal, wenn der Off-Sprecher etwas als »spektakulär« bezeichnet, einen Dokuschnaps hinter die Binde kippen. Spektakuläre Berggipfel, spektakuläre Blauwale, spektakuläre Vogelschwärme, bla, bla, gähn. Für mich ist spektakulär ein Gafferwort, es bezeichnet das Aussehen von Dingen, aber nicht ihr Wesen. Als rein spektakulär würde ich Dinge bezeichnen, zu denen Menschen anreisen, um hauptsächlich Handyfotos zu machen, aber nicht, um das Gesehene oder Erlebte wirklich zu spüren oder zu erleben, sich davon durchfluten zu lassen, Erhabenheit oder Ehrfurcht zu empfinden. Spektakulär sind meist die Dinge, die man nur zum Zweck des Zeigens herumzeigt. Aber die Aufmerksamkeit für Spektakuläres ist oft nur ein oberflächliches »Wow!« und ich denke, sie ist auch flüchtiger und vergänglicher als nachhaltige Beeindruckung, die zudem meines Erachtens nicht immer mit der schieren Bildgewalt oder dem realen Ablauf von etwas Erlebtem verknüpft sein muss.

Ed: Do you own a video camera?
Renee Madison: No. Fred hates them.
Fred Madison: I like to remember things my own way.
Ed: What do you mean by that?
Fred Madison: How I remembered them. Not necessarily the way they happened.

David Lynch, »Lost Highway«

Mir selbst kommt das Wort »spektakulär« in letzter Zeit sehr oft in den Sinn, wenn ich Bilder sehe, die von A.I.-Bilderzeugungsplattformen generiert wurden. Ein Hirsch in einer New Yorker Straßenschlucht, perfekt vom farbigen Licht der Leuchtreklamen in Szene gesetzt. Surreal verfremdete Astronautenselfies, hyperrealistische Portraits, knallbunte Landschaften. Spektakulär. Und natürlich muss man sich Gedanken darüber machen, dass die fotorealistische Erzeugung komplett erfundener oder gefälschter Bilder imstande ist, den Beweischarakter der Fotografie endgültig zu meucheln, denn selbst mit Photoshop war die glaubwürdige Bildmanipulation bislang immerhin noch einigermaßen zeitaufwendig und durch visuelle Unstimmigkeiten oder digitale Artefakte oft bei genauerem Hinsehen noch als solche erkennbar. Das wird nun wohl radikal anders. Auch in meinem Beruf als Grafik-Designer mache ich mir daher Gedanken darüber, ob und inwieweit A.I.-generierte Inhalte meine Tätigkeit verändern, eingrenzen oder gar überflüssig machen werden. Von den Auswirkungen auf andere Berufe oder die Gesellschaft als Ganzes mal ganz abgesehen.

Aber viele der Motive – nicht alle – die ich jeden Tag sehe, sind eben bloß »spektakulär«. Ich betrachte sie, bin kurz beeindruckt und spüre dann trotz der gekonnt berechneten Pixel eine gewisse Leere. Wo ist die Idee? Es sieht super aus, monumental, realistisch oder künstlerisch, die Perspektive stimmt, das Motiv könnte man sich ausdrucken und aufhängen, es wäre ein Eyecatcher als Poster, als Motiv für eine Werbekampagne oder eine Doppelseite im Editorial eines Hochglanzmagazins. Aber es fehlt mir oft der zündende Funke, die Kreativität unter der Oberfläche.

»The concept of ›artistic‹ creativity is deeply philosophically contentious, and hinges on twin issues of randomness and understanding.

(…) computers are currently unable to create truly random data. And some people might argue that it’s that element of randomness that is itself the spark of human creativity – adding something that no-one else could or has added before. An AI cannot do that.

Similarly, although AI may be able to fool a human into thinking a given poem, painting, etc., was written by another human, that’s not the same as that piece of ›creative art‹ having genuine meaning. An AI will give you an endless number of outputs based on what you put in – but it won’t understand them. It has no concept of why you should be compared to a summer’s day, other than that string of words appeared in another piece of text it analyzed. To an AI, all creative inputs and outputs are merely data.

But that’s not necessarily a bad thing, because innately-creative humans can work with that data.«

»Can Artificial Intelligence Be Creative?« by Craig Wisneski, Co-Founder & Head of G&A, Akkio

Das liegt sicher auch daran, dass ein derart erzeugtes Bild immer nur so gut sein kann, wie die sog. »Prompts«, also die eingegebenen Sprachbefehle, aus denen die A.I. dann das Bild generiert. Je präziser, detaillierter und eindeutiger diese formuliert werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Endergebnis ungefähr der Erwartung oder Vorstellung entspricht, die der User im Kopf hat. Das erinnert mich ein bisschen an eine etwas vernachlässigte Unzulänglichkeit der »Replikatoren« im Star-Trek-Universum: Auf den ersten Blick klingt die Möglichkeit verlockend, sich einfach vor einen Ausgabeschacht stellen zu können, zu sagen »Computer! Earl Grey, heiß!« oder »Computer! Ein Bananensplit!« und *bsst* materialisiert sich jedes gewünschte Getränk oder Gericht in Sekundenschnelle. Aber ein/e wahrer Teeliebhaber*in heutzutage würde vermutlich Dutzende Teeläden abklappern, etliche Sorten Earl Grey probieren, bis die eine Marke, Provenienz oder Ernte gefunden ist, die ihm/ihr am besten schmeckt. Das Bananensplit mit oder ohne Sahne? Die Banane noch fest oder etwas weicher gereift? Die Soße aus Milchschokolade oder Zartbitter? Aus welchem Anbaugebiet soll der Kakao stammen? Mit Streuseln, und wenn ja, welche? Die simplen Prompts in dieser populären Weltraum-Utopie blenden aus, dass das Ergebnis – sofern der User nicht entweder im Replikator zuvor seine persönlichen Schlemmerpresets gespeichert hat oder für den Computer vor der Essensausgabe erstmal minutenlang alle relevanten Parameter für seinen Genusswunsch aufzählt – ein unfassbar langweiliger Einheitsbrei wäre. Jeder Kaffee schmeckte gleich, jedes Stück Apfelkuchen wäre identisch. Ein bisschen so, wie in einem Restaurant, bei dem auf der Weinkarte nur »Rotwein« und »Weißwein« steht.

Sicherlich bin auch ich gut beraten, mir sowohl in meinem Beruf als auch privat die Fähigkeit anzueignen, solche Bildgeneratoren (oder auch andere A.I.-Konsolen für textliche und assistive Anwendungen) zielführend zu bedienen, ansonsten verlöre ich den Anschluss an eine bedeutsame und disruptive technische Entwicklung. Aber ich glaube, genauso wichtig ist es, die Fähigkeit zu erlernen oder zu pflegen, wie die selbst generierten medialen oder künstlerischen Outputs einzigartiger und weniger austauschbar und nicht nur oberflächlich beeindruckend werden. Ich glaube, das Wichtigste dabei ist eine »subkutane Kreativität«, die bisweilen auch eine gewisse Bedenkzeit braucht, bevor die Beschreibung des gewünschten Outputs formuliert wird. Denn aus meiner Sicht wird es auf Dauer schnell langweilig, aus dem Stegreif Prompts zu formulieren, die lediglich ein »spektakuläres« Ergebnis hervorbringen. Für eine originelle oder innovative Idee, die nachhaltig aus der Bilderflut herausragt, muss man manchmal durchaus tief in die Materie einer Aufgabenstellung eindringen, ein tragfähiges Konzept entwickeln, eine Idee sorgfältig durchdenken, Ansätze auf Schwachstellen abklopfen oder einen wirklich genialen Geistesblitz haben, ehe man an die Umsetzung geht – egal, ob sie danach von Hand geschieht oder durch eine A.I. Ein Facebook-Account z.B., der mich regelmäßig mit wunderbaren Bildideen überrascht, gehört dem Amerikaner Geoffrey Hudson, und auch die A.I.-Experimente auf dem Twitter-Account von Sebastian Baumer finde ich sehr spannend, etwa sein Thread zu real nicht existierenden Speisen.

»It’s easy for AI to come up with something novel just randomly. But it’s very hard to come up with something that is novel and unexpected and useful.«

John Smith, Manager of Multimedia and Vision at IBM Research

Ein schönes Beispiel für die Kraft dieser Art der Kreativität fand ich in einem Twitter-Thread zum 43-jährigen Jahrestag des Kinostarts der Verfilmung von »The Shining« durch Stanley Kubrick. Der Thread ist insgesamt sehr lesenswert, aber ein Detail verdeutlicht sehr schön, was ich als »subkutane Kreativität« bezeichnen würde: In der Literaturvorlage, dem Originalroman von Stephen King, befindet sich auf dem Grundstück der Anlage des Overlook-Hotels, neben dem Weg zu einem Roque-Spielfeld, eine Fläche mit Hecken in Form verschiedener Tiere:

»›Gefallen dir die Tiere?‹ fragte Wendy. ›Das nennt man einen Kunstgarten.‹ Hinter dem Pfad, der zur Roque-Anlage führte, standen Hecken, die man zu den verschiedensten Tieren zurechtgeschnitten hatte. Danny, der scharfe Augen hatte, erkannte ein Kaninchen, einen Hund, ein Pferd, eine Kuh und drei größere Tiere, die wie spielende Löwen aussahen.«

Stephen King: »Shining«, Paperback, Bastei-Lübbe (1984)

In Kubricks Film tauchen diese Heckentiere nicht auf. Er entschied sich während der jahrelangen konzeptionellen Arbeit an dem Film stattdessen für ein Heckenlabyrinth. Das Labyrinth ist das Zentrum für den legendären, genialen Showdown des Films, in dem Jack Torrance seinen kleinen Sohn Danny mit einer Axt, humpelnd und umnachtet, durch einen nächtlichen Schneesturm verfolgt und sich in den Gängen des Irrgartens rettungslos verläuft.

Würde man hingegen einer A.I. lediglich den kompletten Text von Stephen Kings Roman zugänglich machen (jedoch entweder in einem Paralleluniversum, in dem zwar Heckenlabyrinthe existieren, nicht jedoch Kubricks Verfilmung – oder zumindest in einem Setting, in dem sich die A.I. Kubricks kreative Idee nicht aus ihrer Trainigsdatenbank »abgucken« kann) und für sie anschließend Prompts formulieren, die den Roman ohne weiteren äußeren Impuls bebildern oder ein Skript für seine Verfilmung erstellen sollten, erhielte man sicherlich eins ums andere Mal vielfältige, wunderschöne, unheimliche oder grausige Ergebnisse. Beeindruckend. Spektakulär.

Aber eins bekäme man – zumindest derzeit – wohl nicht:
Ein von der A.I. generiertes Ergebnis, in dem sie zur alternativen Visualisierung der Hotelanlage ein Heckenlabyrinth vorschlägt.

Bildquellen: Eva Rahman NishiCC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons (oben), ELG21, via pixabay (unten)