Kategorie: Ins Netz gegangen

Linktipps und Seltsamkeiten aus dem Internet

Stille Wasser

Auch ich zähle mich zur Gruppe der eher introvertierten Personen. Ich kann Smalltalk nichts abgewinnen, fühle mich im wortkargeren Norden wohler als im lebhaften Süden Deutschlands, höre lieber zuerst und intensiv zu, anstatt allen sofort und permanent ins Wort zu fallen und gebe dem kontemplativen Kick stets den Vorzug vor einem Adrenalinrausch. Dass die Einstufung als »Sonderling«, die viele aus diesen Präferenzen ableiten, ebenso abwegig wie fehlinterpretiert ist, fasst der Kreative Carl King in seinen »10 Myths About Introverts« sehr schön und schlüssig zusammen. Das ist so treffend formuliert, dass ich mir die Übersetzung ins Deutsche mal spare.

Hinweis auf das Posting im Tumblr-Blog von kixka via @ennomane bei Twitter (der Artikel wurde zur Originalquelle zurückverfolgt).

Myth #1 – Introverts don’t like to talk.
This is not true. Introverts just don’t talk unless they have something to say. They hate small talk. Get an introvert talking about something they are interested in, and they won’t shut up for days.

Myth #2 – Introverts are shy.
Shyness has nothing to do with being an Introvert. Introverts are not necessarily afraid of people. What they need is a reason to interact. They don’t interact for the sake of interacting. If you want to talk to an Introvert, just start talking. Don’t worry about being polite.

Myth #3 – Introverts are rude.
Introverts often don’t see a reason for beating around the bush with social pleasantries. They want everyone to just be real and honest. Unfortunately, this is not acceptable in most settings, so Introverts can feel a lot of pressure to fit in, which they find exhausting.

Myth #4 – Introverts don’t like people.
On the contrary, Introverts intensely value the few friends they have. They can count their close friends on one hand. If you are lucky enough for an introvert to consider you a friend, you probably have a loyal ally for life. Once you have earned their respect as being a person of substance, you’re in.

Myth #5 – Introverts don’t like to go out in public.
Nonsense. Introverts just don’t like to go out in public FOR AS LONG. They also like to avoid the complications that are involved in public activities. They take in data and experiences very quickly, and as a result, don’t need to be there for long to “get it.” They’re ready to go home, recharge, and process it all. In fact, recharging is absolutely crucial for Introverts.

Myth #6 – Introverts always want to be alone.
Introverts are perfectly comfortable with their own thoughts. They think a lot. They daydream. They like to have problems to work on, puzzles to solve. But they can also get incredibly lonely if they don’t have anyone to share their discoveries with. They crave an authentic and sincere connection with ONE PERSON at a time.

Myth #7 – Introverts are weird.
Introverts are often individualists. They don’t follow the crowd. They’d prefer to be valued for their novel ways of living. They think for themselves and because of that, they often challenge the norm. They don’t make most decisions based on what is popular or trendy.

Myth #8 – Introverts are aloof nerds.
Introverts are people who primarily look inward, paying close attention to their thoughts and emotions. It’s not that they are incapable of paying attention to what is going on around them, it’s just that their inner world is much more stimulating and rewarding to them.

Myth #9 – Introverts don’t know how to relax and have fun.
Introverts typically relax at home or in nature, not in busy public places. Introverts are not thrill seekers and adrenaline junkies. If there is too much talking and noise going on, they shut down. Their brains are too sensitive to the neurotransmitter called Dopamine. Introverts and Extroverts have different dominant neuro-pathways. Just look it up.

Myth #10 – Introverts can fix themselves and become Extroverts.
A world without Introverts would be a world with few scientists, musicians, artists, poets, filmmakers, doctors, mathematicians, writers, and philosophers. That being said, there are still plenty of techniques an Extrovert can learn in order to interact with Introverts. (Yes, I reversed these two terms on purpose to show you how biased our society is.) Introverts cannot “fix themselves” and deserve respect for their natural temperament and contributions to the human race. In fact, one study (Silverman, 1986) showed that the percentage of Introverts increases with IQ.

Igelkugel
Photo: © Swamibu | Some rights reserved

Sauer macht lustig

Hach, schön. Eine der »ältesten« von mir regelmäßig besuchten Cartoonseiten im Netz, »Nichtlustig« (inzwischen umgezogen zu joscha.com) mit dem ganz eigenen Humor ihres zeichnenden Urhebers Joscha Sauer, wurde am 29. April 2011 aktualisiert und bietet nun die Möglichkeit, Cartoons via iFrame direkt im eigenen Blog oder auf der eigenen Website einzubinden.

Die ältesten Dateien meiner von dort heruntergeladenen Lieblingscartoons haben das Downloaddatum »Dezember 2001« – jetzt darf ich sie endlich mit meinen Blogbesuchern teilen. Spread the News!

Bachgemurmel

Leiser Wind rauscht in den Baumwipfeln, vereinzelt zwitschert ein Vogel, ein Reh durchstreift das Unterholz auf der Suche nach Futter und dazwischen ertönt – ein Bach. Und zwar kein perlendes klares Gewässer, sondern die Kantate BWV 147 »Jesus Bleibet Meine Freude« von Johann Sebastian Bach. Doch ein Musiker ist weit und breit nicht zu sehen.

Eine faszinierende Synthese aus Natur und Musik, auf einem schier endlos langen, handgefertigten Holzxylophon in einem Wald nahe Kyushu in Japan. Wunderschön.

Kreiert wurde der 3minütige minimalistische Film von der japanischen Kreativagentur Drill Inc. als Werbespot für das Handymodell Touch Wood SH-08C des Mobilfunkbetreibers NTT DOCOMO. Kreativdirektor Morihiro Harano entwickelte das Instrument gemeinsam mit Kenjiro Matsuo von Invisible Designs Lab, Fukuoka. Auf der Website von DoCoMo gibt es auch ein Video zum Making Of.

(Via @kriminalistin ihr Gezwitscher.)

Bücherfragebogen [♂] – 12

12 Ein Buch, das du von Freunden/Bekannten/… empfohlen bekommen hast
Da entscheide ich mich spontan für »Hartmut und ich« von Oliver Uschmann, das ich während eines Dänemarkurlaubs von einem mitreisenden Freund empfohlen und auch gleich ausgeliehen bekam.

Es gibt ja immer wieder so »Wellen« in der populären Literatur. Eine der ersten war die Welle der »witzig-modernen Frauenromane«: »Beim nächsten Mann wird alles anders« von Eva Heller ebnete den Weg für eine ganze Serie ähnlicher Bestseller von Hera Lind (»Das Superweib«), Gaby Hauptmann (»Suche impotenten Mann fürs Leben«), Amelie Fried (»Traumfrau mit Nebenwirkungen«) oder Helen Fielding (»Das Tagebuch der Bridget Jones«). Und so kann man auch dieses Buch inmitten einer Reihe ähnlich getakteter Werke sehen – nennen wir sie »lakonisch-chaotische Männer-erwachsenwerd-Romane« wie »Herr Lehmann« von Sven Regener, »Vollidiot« von Tommy Jaud, »Fleisch ist mein Gemüse« von Heinz Strunk oder »Dorfpunks« von Rocko Schamoni.

Worum geht es? Hartmut und der namenlose Ich-Erzähler leben in einem ziemlich heruntergekommenen Bochumer Mietshaus auf 120 qm in einer Zweier-Männer-WG. »Ich« arbeitet als Packer für einen Paketdienst, Hartmut studiert Philosophie. Beide lieben ihre Playstation, Wannenbäder und »Pommes Spezial«. Das Buch erzählt dabei keine durchgehende Romanhandlung, sondern eine Serie in sich abgeschlossener kurzer Episoden hauptsächlich rund um die ungewöhnlichen Ideen und Initiativen Hartmuts, die das Leben in der ohnehin schon chaotischen Konstellation zusätzlich durcheinanderbringen. Ich habe beim Lesen oft geschmunzelt und manchmal herzhaft gelacht, ein Buch, das niemandem wehtut und durchaus geeignet ist, sich im Urlaub oder in Alltagspausen zu zerstreuen. Sascha Lobo pflegt in seinem Debütroman »Strohfeuer« – so empfand ich es während einer seiner Lesungen daraus – einen durchaus ähnlichen Stil. Keine hohe Literatur, aber ein okayes Buch.

Der komplette Fragebogen im Überblick.

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Foto: © formschub

London Delights

Für ein paar Tage durfte ich es mal wieder tun – einen privaten Kurztrip (in geschätzter Begleitung) in die britische Hauptstadt unternehmen. Das Wetter dort war trüb und kalt, aber trocken, so dass meiner Lieblingsbeschäftigung, dem Erkunden der Stadt per pedes und Tube, nichts im Wege stand. Eigentlich war ich willens, ein wenig zu shoppen, doch zur Form- und Farbgebung der aktuellen Herrenoberbekleidung und Schuhmode im Angebot der aufgesuchten Geschäfte fand ich diesmal keinen rechten Zugang (teils auch nicht zur Preisgestaltung, aber das kennt man ja von London). Zudem bot das graue Wetter wenig fotogenes Licht für schöne Schnappschüsse, weshalb auch das Fotografieren nahezu unterblieb.

Fündig wurden meine Konsumsensoren in der Haushaltswarenabteilung des legendären Warenhauses Harrods, wo ich für meine ganz in grün ausgestattete Küche einen farblich passenden Zwiebelhacker der Firma Zeal und einen patenten Wechselsparschäler von Joseph Joseph erstand. Kochwerkzeug, und noch dazu so schönes, kann ich eigentlich immer gebrauchen.

A propos Küche: Essen und Trinken mussten wir natürlich auch auf unserer Reise. Von vergangenen Aufenthalten in London gab es zwar noch genug »Stammlokale« (z.B. Browns), die wir auch diesmal wieder hochzufrieden besuchten, aber auch ein paar neue Adressen beeindruckten uns nachhaltig:

Die mit drei Niederlassungen in der Stadt vertretene Pub-Kette The Draft House, die sich der Vielfalt globaler Bierkultur verschrieben hat und in einem sehr geschmackvollen Ambiente je Filiale etwa 20 Fassbiere und 30 Flaschenbiere aus aller Welt ausschenkt (wir besuchten diejenige am südlichen Ende der Tower Bridge). Für Bierfreunde auf jeden Fall ein lohnenswerter Ort!

Die zweite Entdeckung war das karibische Restaurant Mango Room, nicht ganz so zentral, aber dafür nur wenige Meter entfernt von der Tube-Station Camden Town gelegen und somit bequem mit der schwarzen Northern Line erreichbar. Und wieder einmal wurde das Vorurteil widerlegt, es gäbe in London keine hervorragenden und trotzdem preiswerten Restaurants. In dem nicht zu großen, gemütlich eingerichteten Lokal hat man durch die verglaste Fassade einen schönen Ausblick auf die belebte Kentish Town Road. Der Service war freundlich und hoch aufmerksam und das Essen war delikat – denn wenn ein Fan gebratener Entenbrust nach dem Genuss der Roast Honey and Ginger Duck Breast with Sweet Potato Crisps and Juniper Berries Jus diese zur besten jemals genossenen kürt, dann will das schon was heißen. Ich entschied mich für die Platter of Sea Bass, Grilled Tiger Prawns and Scallops with Papaya Sambale and Fried Cassava und wurde ebenfalls nicht enttäuscht. Besonders angetan war ich von den frittierten dicken Stäbchen Cassava (Maniok), so ganz anders als Pommes Frites: leichter, fluffiger, trotzdem knusprig und ausgesprochen lecker. Wurde sofort auf der To-Nachkoch-Liste vermerkt.

Damit London schließlich nicht gleich wieder kulinarisch verblasst, kamen ins Heimgepäck zum Schluss noch zwei kleine, typisch britische Melton Mowbray Pork Pies zum Aufbacken aus der unvergleichlichen Harrods Food Hall. Soeben, vor dem Verfassen dieses Blogbeitrags habe ich sie genossen – und damit sofort meinen Wunsch wiederbelebt, eine dieser köstlichen Pasteten einmal selbst zuzubereiten. Schon beim letzten London-Besuch hatte ich mir zu diesem Zweck ein opulentes Kochbuch gekauft, aus dem ersichtlich wurde, dass man sich für die Zubereitung entweder einen Tag Urlaub nehmen oder ein halbes Wochenende aufbringen muss – auch wenn das unten eingebundene, sehr anschauliche Video den Herstellungsprozess in nur 10 Minuten zu zeigen vermag. Das ist wahres Slow Food.
Ach, London, Du schmeckst mir jedes Mal wieder.

Bücherfragebogen [♂] – 22

22 Das Buch in deinem Regal, das die meisten Seiten hat
Noch vor zwei Wochen hätte ich hier irgendein anderes Werk aus meiner Bibliothek vorstellen müssen, doch mit einem Buchgeschenk, das ich mir selbst zu Weihnachten machte, wurden sämtliche Kandidaten für diese Frage locker enttrohnt: Das »Lesikon der visuellen Kommunikation« – ist ein Buch der Superlative. 9 Jahre lang hat die Autorin Juli Gudehus, Gestalterin und Grafik-Designerin aus Berlin, an ihrem monumentalen Nachschlagewerk gearbeitet, 9.704 Begriffe zusammen getragen, 3.513 Co-Autoren haben ihr mit eigenen Beiträgen geholfen. Wäre das Opus nicht auf hauchdünnem Bibelpapier gedruckt, würden die exakt 3.000 Seiten einen einzelnen Buchband zweifellos sprengen.

Schon am 07. Oktober 2010, dem Tag der Präsentation auf der Frankfurter Buchmesse, machte ein Artikel im Fontblog auf den kuriosen Schinken neugierig. Kurios deshalb, weil sich das Werk – wie schon das Wortspiel »Lesikon« andeutet – der klassischen Nüchternheit herkömmlicher Lexika entzieht, sich seinen Themen stilistisch frei, assoziativ, spielerisch, subjektiv annähert. In einem kurz darauf im selben Blog geposteten Interview mit der Autorin erzählt sie von der nicht immer einfachen Arbeit an ihrem Großprojekt.

Was der Veröffentlichung folgte, waren wohlwollendste Rezensionen selbst in Medien, die sonst dem wenig massentauglichen Fachthema visuelle Kommunikation eher zaghaft gegenüberstehen: Die FAZ schrieb »Einer der schönsten Sachbuchtitel der jüngeren Zeit«, die ZEIT urteilte »Das Lesikon ist eine Feier der Schwarte in den Zeiten des Internets«, ihm wurde von der Stiftung Buchkunst in der Kategorie »Wissenschaftliche Bücher, Fachbücher« die Auszeichnung »Die schönsten deutschen Bücher 2010« verliehen und natürlich widmeten sich auch weitere Designer- und Typographieblogs, wie etwa Slanted, dem üppigen Druckwerk. Spätestens da war mir klar: dies ist ein Must-have für jeden, der mit Werbung oder Mediengestaltung sein Geld verdient.

Eine schöne Besonderheit abseits der Massenfertigung sind die fünf Lesezeichen-Unikate aus der Druckschnipselsammlung der Autorin, die jedem Band beiliegen, etwa ein echter handschriftlicher Einkaufszettel in Sütterlin-Schrift, eine Tageskarte für die Berliner S-Bahn oder ein Ausschnitt aus der grellen »Schweinebauch«-Beilage eines Lebensmitteldiscounters. Man spürt, wie viel Engagement und Leidenschaft Juli Gudehus in ihr Werk investiert hat. Und das Beste: man muss es auf keinen Fall an einem Stück lesen, sondern kann darin schmökern, blättern und springen wie man will. Was mir persönlich bei der unglaublichen Seitenzahl auf jeden Fall ein großes Stück entgegenkommt.

Der komplette Fragebogen im Überblick.

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Foto: © formschub

Alles im Fluss

Am 14. November war die Releaseparty im Wiesbadener RUEXIV (leider ohne mich) und vor etwa einer Woche trafen meine bestellten vier Exemplare per Post ein – es ist da: das neue Stijlroyal Magazin. Dies bietet nicht nur wegen der exorbitanten Größe von DIN A3, der glamourösen Goldprägung auf dem Titel, den famosen Fotos und dem bahnbrechenden Industriefleischsalattest allen Grund zum Jauchzen, sondern auch, weil neben vielen anderen fulminanten Twitterern auch mir die Ehre zuteil wurde, einen Text dafür verfassen zu dürfen. Zum ersten Mal ein selbstverfasster Prosatext in einer gedruckten Publikation. Für mich ein ganz besonderer Moment.

Als im Sommer die Anfrage von Huck Haas aka @stijlroyal kam, wusste ich sofort: mein Beitrag würde eine Kurzgeschichte sein. Und den Anfang hatte ich auch schon: einen Tweet, der am 24. Juli 2010 meinem Hirn entperlte und mir sofort als ein perfekter Geschichtenanfang erschien.

Im kurz darauf folgenden Sommerurlaub begann ich zu schreiben. Ich war schon ziemlich weit, als ich das Mail von Huck mit den Wunschkriterien für die Texte noch einmal las. »Schreibt Maximal 5.000 Zeichen« stand da. Mist. Ich hatte schon 9.831 geschrieben und noch mindestens 3.000 spukten in meinem Kopf herum. Also beschloss ich kurzerhand, für das Magazin eine Kurzversion zu erstellen, in der der Mittelteil einfach fehlt – im nachfolgenden Text markiert durch die Auslassung (…) – und in weiteren Urlauben oder Mußestunden am langen »Director’s Cut« weiterzuschreiben. Somit erzählt die jetzt abgedruckte Textfassung – es geht um einen Traum – noch nicht alles, was der namenlose Protagonist darin erlebt. Vielleicht reizt Euch ja mein Beitrag, den ich heute hier zweitveröffentlichen möchte, das Stijlroyal-Magazin zu kaufen. Dann tut es. Es ist jeden Euro wert.
Kommentare, die mich zum Weiterschreiben ermuntern – oder davon abhalten wollen, können natürlich gerne unten eingetragen werden.

Sein Traum vom Fluss

Er erinnerte sich noch gut an den Traum, nach dessen Schilderung sein Therapeut kurz darauf die Praxis schloss und aus der Stadt verschwand. Es war einer von diesen Träumen, durchdringend real, die mehrere Nächte zu dauern schienen und aus denen sich das Bewusstsein beim Erwachen schwerfällig, wie durch eine meterdicke Schicht aus feuchtwarmem Humus, erst wieder einen Weg zurück in die Realität graben musste.

Licht.
Jetzt.
Ein Zimmer. Seins.
Zahlen. Eine Uhrzeit.
Welcher Tag?
Liegen und atmen.
Ein und aus.
Ein Fluss.
Sein Traum handelte von einem Fluss.

Zu Beginn stand er an einer Art Hafenkai, auf ein kühles eisernes Geländer gestützt und sah hinaus auf das Wasser. Es musste früh am Morgen sein, der kupferfarbene Dunst ließ keinen Blick auf das gegenüberliegende Flussufer zu. Hier, wo der Fluss am breitesten war, trug er auch am meisten Unrat mit sich. Die Luft roch salzig in seinem Traum, nach Diesel und Brackwasser. Irgendwo in Richtung der rostig verschleierten Stille, jenseits des dumpfen Rhythmus’ dieser übervölkert menschenleeren Stadt, die er nicht kannte, musste das Meer sein, das sich dem schlammigen Andrang des Flusses erst entgegenstemmte, mit trotzigen Strudeln dagegen ankämpfte und dann doch nachgab und ihn in sich aufnahm.
Er blickte hinunter auf den müden, trübbraunen Strom. Auf der Oberfläche trieben Holzstücke und Blätter. Müll und Verpackungsreste dümpelten träge vorbei: eine alte Plastiktasche, aufgebläht wie eine tote Qualle, der Werbeaufdruck PRIMA war kaum noch zu lesen. Eine Milchtüte – FAMOS. HAPPY – der Folienbeutel einer Fruchtgummimischung. Eine aufgerissene Kondompackung – PLEASURE. Das aufgeweichte Etikett einer Colaflasche – FUN. Ein lautlos klagender Jubelchor. Die öligen Schlieren dazwischen im Wasser formten verzerrte Gesichter, bewegten in munchesker Zeitlupe die Lippen dazu. Er schloss die Augen.
(…)

Er öffnete sie wieder, viel später, im Wald. Die Sonne streute gelbgrünes Konfetti durch das Dach aus Blättern über ihm und dem Fluss. Von hier aus sah er die Quelle, hoch oben, in einer senkrechten Spalte der Felswand. Das klare, kalte Wasser fiel in Kaskaden nach unten und sammelte sich in einem kleinen, von Moos gesäumten Becken, von wo aus es in einem flachen Bett seine Reise antrat. Es war seltsam: obwohl er dem Lauf von der Stadt am Meer bis hierhin gefolgt war, wusste er, dass der Fluss zurück einen anderen Weg nehmen würde. Er würde ein kräftiger, lebendiger Strom werden und bleiben, fernab von Straßen und Häusern, Menschen und Städten. Das Wasser fühlte sich frisch an, aber nicht kalt. Er trat in das Bachbett und legte sich in das seichte, perlende Wasser. Sein Kopf lag auf den Kieseln, das Lied der Strömung in seinen Ohren klang hell, vertraut und uralt. Winzige Gischttröpfchen tanzten in der Luft, die er einsog. Er spürte, wie der Bach ihn umspülte, erst lösten sich winzige Fasern aus seiner Kleidung, schließlich Haare und Hautschüppchen. Der Fluss nahm ihn mit, ganz sanft, es tat nicht weh.

Bald würde er wieder am Meer sein.

Fluss_Szene
Foto und Montage: © formschub