Kategorie: Von der Tageskarte

Kaum passiert, schon gebloggt

Im kleinen Kreis

Gestern fand die Urnenbeisetzung der Schwiegermutter in einem Friedwald im Moselland statt. Der zuvor lang anhaltende Regen erklärte sich dann doch rechtzeitig bereit, etwa eine halbe Stunde zuvor zu versiegen. Ich hatte die überschaubare Trauergemeinde vor meinem geistigen Auge schon wie in einschlägigen Filmszenen unter tief gehaltenen Schirmen durchnässt, mit hochgeschlagenen Kragen und eingezogenen Köpfen unter wolkenverhangenem Himmel versammelt gesehen, aber so sollte es nicht sein. Wie schön. Ich bin als schon vor Jahrzehnten aus der Kirche ausgetretener »Evangele« bei der Zeremonie anwesend, der Rest des kleinen Kreises gehört ansonsten eher dem katholischen Glauben an. Auch der beleibte, schon ältere Geistliche ist ein katholischer Pfarrer. Er hält eine klare, fast nordisch anmutende, ehrliche und schöne Ansprache mit wenig religiöser Verbrämung, das gefällt mir. Ich nehme die eingeflochtenen biblischen Verheißungen an Auferstehung und ewiges Leben zur Kenntnis, akzeptiere und respektiere vollauf, dass das hier dazugehört und sicherlich vielen der Anwesenden Trost und Zuversicht gibt, auch wenn ich selbst diese Erwartung an den Tod nicht habe. Unter dem Messgewand des Priesters sehe ich eine Jeans und blaue Sneaker hervorblitzen. Die wunderschöne Musik von Mahler, die der Mann ausgesucht hat und die aus einem Standlautsprecher erklingt, mischt sich für einige Sekunden von fern mit dem Geräusch eines überfliegenden Flugzeugs. Und dann, nach der Ansprache des Paters, kurz bevor der Bestatter die helle steinerne Urne aus dem umgebenden Blumenkranz nimmt und in das von Kunstrasen umsäumte ausgehobene Loch vor dem Friedwaldbaum hinablässt, nehme ich im Wurzelwerk des Baumes eine zaghafte Bewegung wahr. Eine kleine rotbraune Maus steckt ihre Schnauze aus einem Loch zwischen Laub und Baum, schaut in Richtung der Gäste, kommt eine Handbreit hervor, umhuscht in kurzen Intervallen mit bewegten Schnurrhaaren eine der Baumwurzeln und verschwindet dann für den Rest der Zeremonie in einem weiteren dunklen Loch daneben. Wenig später ist die Urne in der Vertiefung verschwunden, oben auf die Grabstätte wird von jedem eine pfirsichfarbene Rose abgelegt und in die Öffnung eine Schaufel Erde gestreut. Ich spüre eine wieder aufkommende Traurigkeit, aber das darf genau jetzt auch so sein. Nach einem letzten Moment des abschließenden stillen Gedenkens gehen alle zurück zum Parkplatz am Waldrand.

Ich habe nur den Mann hinterher gefragt, ob er die Maus auch bemerkt hatte, was er verneinte. Die anderen Trauergäste mochte ich nicht fragen. Am liebsten möchte ich glauben, dass nur ich dieses kleine Waldwesen gesehen habe, das sich kurz zu dem kleinen Kreis der Beisetzungsgäste gesellte und mir einen Augenblick schenkte, der mir mehr Erdung und Zuversicht gab als ein geschriebener oder verlesener Text es jemals vermocht hätte.

Vorbildlich

In einem der benachbarten Orte nahe dem Elternhaus des Mannes, in dem wir derzeit »logieren«, führt die Straße vorbei am Gebäude eines Gebrauchtwagenhändlers. Auf dem Fries oberhalb der Garageneinfahrten ist zu lesen »Auto Miesen – Ihr fairer Partner«. Jedesmal, wenn wir dort vorbeifahren, frage ich mich, was wohl der Grund war, diesen Werbespruch oder Firmenslogan so zu formulieren. Eigentlich sollte man doch erwarten können, dass ein Kfz-Händler mit einer permanenten, gemauerten Niederlassung in einer ländlichen Siedlung, wo oft noch jeder jeden kennt, fair mit seinen Kunden umgeht. Unfaire Gebrauchtwagenhändler würde ich eher vermuten auf temporären Fahrzeugflohmärkten, wo die Anbieter vorübergehend einen freien Stellplatz belegen, eine billig gedruckte Visitenkarte mit einer GMX-Mailadresse und einem in PowerPoint selbstgebastelten Logo ihre einzige Legitimation ist, oder bei spontan verabredeten, windigen Transaktionen auf Rast- oder Parkplätzen, nach denen man den fremden Anbieter nie wiedersieht. Auf dem Autohaus steht also etwas eigentlich Selbstverständliches, das als Besonderheit und Zuwendungs- oder Kaufargument hervorgehoben wird.

In Hamburg komme ich öfter an dem verglasten Büro eines Altenpflegedienstes vorbei, das, wie so viele dieser Dienstleister, kontinuierlich nach neuem Personal sucht. An der Fensterscheibe prangt ein großer Aufkleber mit der Botschaft »WIR RESPEKTIEREN, DASS UNSERE MITARBEITER EIN LEBEN AUßERHALB IHRES BERUFES HABEN«. Auch hier drängte sich mir die Frage auf, wieso eine solche Botschaft an potenzielle Bewerber notwendig ist. Ich würde es begrüßen, wenn sämtliche Arbeitgeber, die diesen Satz nicht vorbehaltlos unterschreiben würden, dies wahlweise noch einmal überdenken, ihre Geschäftstätigkeit einstellen oder aber ihre neuen Mitarbeiter mit dem Hinweis »FÜR UNS IST ES INAKZEPTABEL, DASS UNSERE MITARBEITER ETWAS ANDERES IM SINN HABEN, ALS SICH FÜR UNS RUND UM DIE UHR KAPUTTZUSCHUFTEN« anwerben würden.

Auch auf Produkten lese ich häufig Botschaften oder vermeintliche Qualitätsmerkmale, auf die ich augenblicklich mit »JA WAS DENN SONST, IHR FLITZPIEPEN?!« antworten möchte. So steht zum Beispiel auf auffällig vielen Reinigungs- oder Kosmetikprodukten prominent der Hinweis »OHNE MIKROPLASTIK«. Das ist, so sehe ich das, vordergründig kein edles Prädikat, sondern eher ein trauriges Indiz dafür, dass sich zahllose Hersteller in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einen Scheiß darum gekümmert haben, was sie in ihre Cremes, Pasten, Gele, Lotionen, Milche, Wachse und Tinkturen hineingerührt haben und was dann der Kanalisation überantwortet wurde. Durch den Abfluss, aus dem Sinn. Deodorantprodukte, die sich rühmen, »ohne Aluminium« produziert worden zu sein, gehören ebenfalls in diese Kategorie. Man könnte sie mit der Überschrift versehen »Wir haben’s seinerzeit mal reingemischt, ohne zuvor richtig zu erforschen oder mal darüber nachzudenken, ob das sinnvoll, gefährlich oder gesundheitsschädlich sein könnte, dann kam raus, dass das ’ne Scheißidee war, jetzt haben wir’s wieder rausgenommen und IST DAS NICHT SUPER, KAUF DAS DOCH BITTE!«. Es ist altbekannt, dass Plastik in jedweder Erscheinungsform recht hartnäckig in der Umwelt verbleibt, ehe es abgebaut wird. Zuvor werden größere Teile durch Zerfall, Verwitterung und andere mechanische Prozesse immer feiner zermahlen und die Partikel verteilen sich dabei munter in der Biosphäre. Inzwischen wurde Mikroplastik im menschlichen Blutkreislauf nachgewiesen, es kann in der Tiefsee ebenso nachgewiesen werden wie in Wolken, es kann sogar die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Die Definition des Wortes »Mikroplastik« stammt aus dem Jahr 2008, die Gefahren und Gesundheitsrisiken wurden spätestens seit Beginn der 2010er Jahre offenbar. Trotzdem frage ich mich, wie man auch ohne wissenschaftliche Begleitung jemals auf die bescheuerte Idee kommen konnte, das Plastik quasi gleich »vorgemahlen« in die Produkte zu quirlen und neuerdings fröhlich auf die Verpackungen zu drucken, dass dies nun wieder unterlassen wird. Toll. Aber wenn man ein bisschen länger darüber sinniert, ist die Geschichte der menschlichen Zivilisation ohnehin eine ebenso lückenlose wie reichhaltige Chronik der Emission schädlicher Substanzen in die Umwelt, die sich hinterher entweder gar nicht mehr oder nur sehr aufwendig wieder einsammeln oder entfernen lassen: FCKW, Asbest, Pestizide, Blei im Benzin, PTFE, CO₂, Weichmacher, Mineralöl, Stickstoff, Radioaktivität, Schwermetalle, Hormone, Antbiotika, die Liste ist endlos. Alles muss raus, solange der Vorrat reicht. Nachdenken können wir hinterher. Vielleicht.

Eigentlich ist dieser Text heute eine kleine Fortführung meines kürzlichen Blogeintrags »Brombeerwörter« über Textstellen und Begriffe, an denen ich beim Lesen immer wieder hängenbleibe, weil sie mir störend, unsinnig oder fragwürdig erscheinen. Denn genauso verhält es sich mit diesen sonderbar eigenlöblichen Werbeverkündigungen des eigentlich Gebotenen.

Irgendwie ein bisschen so, als gäbe es Schulen oder Kitas, an deren Fassade ein Banner aufgehängt ist mit der werbenden Anpreisung »In dieser Einrichtung wird nicht geprügelt!«

Makroplastik in der Umwelt ist genauso kacke wie Mikroplastik (Hinweisschild an einem Wanderweg im Moselland).

Undercover

Ich weile gerade in meinem Osterurlaub an der Mosel und heute habe ich zum ersten Mal einen Tisch unter falschem Namen in einem Restaurant reserviert. Und das unbeabsichtigt. Klingt komisch – ist aber so. Seitdem verspüre ich einen Hauch des Gefühls, das Agenten oder Ganoven in Filmen haben, wenn sie undercover in Hotels einchecken oder Grenzkontrollen passieren. Trotzdem werde ich heute Abend lediglich ganz manierlich essen, ich werde mich nicht nervös umschauen und ich werde auch kein Halfter mit einer Schusswaffe unter dem Hoodie tragen.

Wie kam es dazu? Mein Nachname nervt mich. Eigentlich ist er im Prinzip ganz okay, aber er fängt genau dann an, mich zu nerven, wenn ich ihn zum am Telefon oder bei einer ersten Begegnung einer bislang fremden Person nennen muss – insbesondere in Situationen, wo mein Gegenüber den Namen aufschreiben oder sich merken muss. Denn dieser Nachname hat zwei Eigenarten, die unweigerlich zu immer denselben drei Reaktionen führen und ich bin ihrer hochgradig überdrüssig. Die erste Rückfrage bezieht sich fast immer auf die korrekte Schreibweise des Namens, denn man kann »Pfeiffer« sowohl nur mit »f« in der Mitte schreiben als auch mit »ff«. Sowie ich dann bestätige, dass es sich um die Schreibweise mit »ff« handelt, erfolgt die zweite Rückmeldung. Und jedesmal, je-des-mal, ist die Person, die mir dann gegenübersteht, anscheinend felsenfest davon überzeugt, dass sie die erste und einzige ist, der das jemals aufgefallen ist: »Wie in dem Heinz-Rühmann-Film? ›Die Feuerzangenbowle‹? Hehe!«. Und ich kann dann nur matt nicken oder »jaja« sagen, vielleicht finde ich die Kraft für ein homöopathisches Lächeln. Ich kann es den Leuten nicht verübeln und sie sagen ja auch nichts Falsches. Aber, um eine andere ausgeleierte Redewendung zu bemühen, hätte ich für jedes einzelne Mal, wo ich diese Bemerkung entgegennahm, einen Euro oder eine Mark bekommen, wäre ich heute ein signifikant wohlhabenderer Mensch. Doch nun kommt noch die dritte Anmerkung, die dann oft folgt. Nicht immer, aber mit verlässlicher Regelmäßigkeit – und sie entstammt genau demselben Film. Meist besteht sie aus einem mehr oder weniger ausführlichen Zitat jener Szene, in der sich der falsche Schüler Johann Pfeiffer erstmals seinem Lehrer vorstellt:

»Sie heißen?«
»Johann Pfeiffer.«
»Mit einem f oder mit zwei?«
»Mit drei, Herr Professor.«
»Mit drei f?«
»Eins vor dem Ei, zwei hinterm Ei.«

Der einfachste Weg, meine Zermürbung ob dieser sich ständig wiederholenden Anspielung zu minimieren, liegt für mich seit etwa 15 Jahren darin, zumindest bei Reservierungen in Restaurants, bei telefonischen Abholvereinbarungen und ähnlichen Gelegenheiten, wo prinzipiell nur die Angabe eines Nachnamens ausreicht, lediglich meinen Vornamen zu nennen, denn er taugt gleichermaßen als Nachname: Thomas. Ich hatte in der 5. Klasse einen Mitschüler mit dem Nachnamen Thomas und es gibt auch den bekannten »Raumpatrouille-Orion«-Filmmusikkomponisten Peter Thomas. Wenn ich also auf die Frage nach dem Namen für die Registrierung/Reservierung o.ä. mit »Thomas« antworte, muss ich nicht flunkern (denn es ist ja mein Name) geht alles wunderbar einfach, fast immer ohne Rückfragen und garantiert ohne Rühmannreferenzen und Eierscherze vonstatten. Okay, manchmal fragt jemand »mit h oder ohne h?« oder ich muss nach einem Stutzmoment sagen »Wie der Vorname«, aber das passiert selten. Zeit gespart, Klarheit begünstigt, Geduldsfaden geschont – win-win.

Heute jedoch fragte die Restaurantmitarbeiterin im Anschluss an die Aufnahme des vermeintlichen Nachnamens »… und der Vorname, bitte?«. Ups. Nun brauchte ich ganz dringend eine Antwort und nannte den erstbesten Vornamen, der mir einfiel: »Frank«. Ich habe aktuell keine Freunde, Bekannten, Verwandten, Vorgesetzten oder Kollegen, die so heißen, aber vielleicht war es eine spontane Assoziation zu dem bekannten Telefonservice »Frank geht ran«, der ebenfalls oft zur Anwendung kommt, wenn jemand nicht persönlich angesprochen werden möchte. Im Moment ist das für mich die plausibelste Erklärung für meine spontane Wahl.

Wenn also heute Abend von Euch auch jemand in Trier-Olewig in einer beliebten Braugaststätte zu Abend isst und mich dort trotz meines Inkognitos »Frank Thomas« identifizieren möchte: Vielleicht bin ich der mit der Sonnenbrille und dem tief ins Gesicht gezogenen Hut.

In geheimer Mission (Bild generiert via Midjourney)

Picky (1)

Es ist schon eine Weile her, da fragte ich – damals noch auf Twitter – in meiner Followerblase nach Inspirationen zu Blogthemen. Einige der eingehenden Vorschläge habe ich schon »verwurstet«, andere noch nicht, weil ich noch nachdenke oder mir dazu (noch) nichts Mitteilenswertes einfiel. Und wiederum andere waren mir zu persönlich, sodass ich darüber nur ungern öffentlich schriebe.

Einer der Vorschläge hat mich jüngst wieder angeregt, weil er ein interessantes Denkfeld eröffnet, wenn man ihn etwas weitreichender interpretiert. Er lautete ursprünglich:

„Das Tinder-Syndrom. Was mir nicht sofort gefällt (weil es mir ja so ähnlich ist), will ich gar nicht erst kennenlernen.“

Die einreichende Person habe ich mir leider nicht notiert, sie ist inzwischen auch bei X nicht mehr auffindbar, was man ja auch niemandem verdenken kann.

Im Kern geht es bei dem Themenvorschlag um »persönliche Vorlieben beim Bewerten und Auswählen von Dingen«. Ich habe über die eingereichte Formulierung gegrübelt, denn diese Vorlieben greifen ja nicht nur im Hinblick auf den genannten Vorgang des sehr schnellen, spontanen Auswählens oder Zurückweisens innerhalb einer Serie von Vorschlägen, sondern auch bezüglich anderer Such- und Find-Vorgänge. Zudem kann sich eine individuelle Auswahl aus mehreren Optionen ja sowohl online als auch offline vollziehen. Dabei umfasst sie sowohl Dinge, mit denen ich zufällig/ungewollt konfrontiert werde als auch Auswahlmöglichkeiten, die ich erst nach einer aktiven/gezielten Suche erhalte. Bei der Online-Suche z.B. haben etliche Kriterien Einfluss auf die erhaltenen Resultate: Welcher Suchmaschine und damit welchem Suchalgorithmus vertraue ich mich an? Suche ich nur mit Suchmaschine(n) oder auch innerhalb konkreter Websites (Portale, Shops)? Welche Suchbegriffe gebe ich ein? Wie hartnäckig bin ich bei der Variation meiner Suchbegriffe oder beim geduldigen Durchblättern der Ergebnisseiten, wenn die gelisteten Ergebnisse mich auf Anhieb nicht zufriedenstellen? Nach welchen Kriterien entscheide ich mich? Eher abwägend und rational oder spontan und emotional? Suche ich eher text- und faktenbasiert oder sind Bilder bzw. Videos für mich wichtig oder sogar unverzichtbar, um mich entscheiden zu können? Bin ich experimentierfreudig oder willens, mich überraschen zu lassen, auch wenn eine Option eigentlich nicht hundertprozentig meinen üblichen Vorlieben entspricht? Um welche Dinge geht es überhaupt – und wähle ich in verschiedenen Lebensbereichen ggf. nach unterschiedlichen Mustern aus – z.B. beim Dating oder der Partnerwahl, im Bereich Wohnen/Wohnaccessoires/Möbel, der Auswahl von Kleidung und Mode, auf dem Feld Filme/Musik/Bücher oder bezüglich Essen/Trinken/Gastronomie?

Beim Nachdenken stellte ich fest, dass ich in verschiedenen Bereichen unterschiedlich »picky« bin. Ich habe mich bewusst für dieses englische Wort entschieden statt für das deutsche Pendant »wählerisch«, weil es für mich eine zusätzliche Konnotation enthält. »Picky« bedeutet für mich, nicht nur sehr gezielt etwas Gewünschtes auszuwählen, sondern auch gleichzeitig, unerwünschte Optionen mit leichter Abscheu bis hin zur kategorischen Verweigerung zurückzuweisen. In Hamburg sagt man dann, so jemand sei »krüsch«, das beinhaltet neben wählerisch auch mäkelig, kapriziös, schwer zufriedenzustellen, heikel, eigenwillig oder zimperlich.

Am ambivalentesten ist meine Krüschheit (Krüschigkeit? Krüschness? Krüschität?) beim Essen. Einerseits gibt es nur wenige herkömmliche Zutaten oder Gerichte, die ich kategorisch verschmähe, weil sie mir nicht schmecken oder mir davor graust. Andererseits bin ich aber auch offen für Neues und Unbekanntes. Die Top 3 meiner Verschmähungen sind 1.: pure rohe Zwiebeln (z.B. als Ringe auf Mettbrötchen), 2.: gekochtes und daher labberiges Fett (z.B. als Eisbein oder gekochte Hühnerhaut im Frikassee) und 3.: einige Arten von Innereien bzw. Fleischsorten (z.B. Lunge, Herz, Hirn, Euter, Kutteln usw., Leber hingegen ist okay). Daneben gibt es Lebensmittel, die ich meide, weil ich ihre Inhaltsstoffe nicht (übermäßig) zu mir nehmen möchte oder sie mir geschmacklich oder sensorisch missfallen. So kaufe und konsumiere ich etwa möglichst wenig industriell verarbeitete Lebensmittel mit Zucker, also keine Limonaden, Fruchtsaftgetränke/-nektare, Bonbons, Fruchtgummis, Marmeladen, Kuchen/Süßgebäck, Schokoriegel, Fruchtquarks/-joghurts oder andere Fertigdesserts. Dunkle Schokolade esse ich gerne, ebenso ab und zu gutes Speiseeis und hin und wieder ein Stück hausgebackenen Kuchen von mir oder einer passionierten Konditorei. Ich meide Schlagsahne mit dem Zusatz Carrageen, einerseits weil ich es liebe, wenn sich bei Sahne obenauf dick der Rahm absetzt, andererseits weil die Nebenwirkungen dieses Zusatzes noch ungeklärt sind. Ich mag keine künstlichen Süßstoffe, einerseits ebenfalls aufgrund ihrer Nachteile und damit verbundener Krankheitsrisiken und andererseits, weil damit versehene Lebensmittel meist genauso ekelhaft übersüßt werden wie ihre zuckerhaltigen Pendants. Auch der natürliche Süßstoff Stevia schmeckt mir nicht, ich finde ihn flach und bitter, ich habe mich übermäßiger Süße generell entwöhnt und das kann gerne so bleiben. Lediglich zum Abschmecken am eigenen Herd und zum gelegentlichen Kuchenbacken halte ich einen kleinen und sehr langlebigen Vorrat an Honig, Ahornsirup und Rohrzucker vor. Konservierungsstoffe versuche ich ebenfalls zu umgehen, sie beeinträchtigen für mein Empfinden oft spürbar den Geschmack. Am schlimmsten finde ich das bei Fertigsalaten aus der Kühltheke. Die sind einerseits auch sehr oft unfassbar gezuckert (z.B. Farmersalat) und andererseits mit säuerlich schmeckenden Stoffen zur Haltbarmachung wie Sorbin- und Benzoesäure versehen. Ich ärgere mich regelmäßig in Restaurants über dargereichte Salatschälchen (z.B. Cole Slaw) oder Dips, bei denen ich sofort herausschmecken kann, dass die »aus dem Eimer« kommen und lasse diese Beilagen nach dem Kosten kategorisch stehen. Es gibt auch ein oder mehrere Bindemittel, die in Salaten oder Saucen zu einer Art »schleimiger Sämigkeit« führen, die ich trotz ihres neutralen Geschmacks, allein vom Mundgefühl her, widerlich finde. Ich bin noch unsicher, welche Zutat(en) dafür verantwortlich sind, aber ich hatte mir neulich für die eigene Küche aus Lowcarbgründen zum Ausprobieren das Bindemittel Johannisbrotkernmehl gekauft und die Textur der damit angedickten Sauce fand ich so entsetzlich, dass ich das Pulverglas sofort entsorgte. Ich binde eigene Saucen fast nie, mit einer pürierten Zwiebel- oder Gemüsebasis, durch Einkochen, Legieren mit Ei oder kalter Butter werden sie meist auch ohne Zusätze cremig genug. Und wenn alles nichts hilft, greife ich zur guten alten Mais- oder Kartoffelstärke.

Im Supermarkt sieht man mich demnach sehr oft vor Regalen stehen und auf den Etiketten akribisch die Zutatenlisten und Nährwertangaben lesen. Als ich kürzlich etwa eine »Barbecue-Sauce« als Topping für Pulled Pork mit Waldorfsalat suchte, schwankte der Zuckergehalt in den angebotenen Varianten zwischen 13 und über 30 Gramm pro 100 ml. Man möge raten, welche ich kaufte.

In Restaurants habe ich weniger Zugriff auf die verarbeiteten Inhaltsstoffe, hier muss meine Krüschigkeit die Speisekarte als Indiz hinzuziehen. Am skeptischsten bin ich gegenüber Imbissen mit Selbstanpreisungen wie »Pizza, Pasta, Gyros, Indisch, Sushi«. Wer alles können will, kann meist nichts davon wirklich gut. Auch mit asiatischen Restaurants mit »modularem« Angebotskonzept »Huhn süßsauer, Ente süßsauer, Rind süßsauer, Schwein süßsauer« suggerieren oft eine Vielfalt, die sich eher in rein mathematischem Kombinationsreichtum erschöpft statt in Qualität und kulinarischer Hingabe. Um Restaurants, die »XXL-Portionen« zu unfassbar günstigen Preisen anbieten, mache ich ebenfalls gern einen Bogen, denn nur wer billigst und damit minderwertig einkauft, kann solcherlei rentabel auftischen. Sehr, sehr selten gönne ich mir hingegen tatsächlich mal einen Burger bei McDonald’s oder einen Whopper mit Käse bei Burger King. Die schlonzigen Umamibomben haben trotz aller ökotrophologischen Bedenken immer noch was für sich.

Bei Restaurants, die mich ansprechen, bin ich als Gast hingehen eher neugierig als krüsch. Wenn ich etwas auf der Karte noch nicht kenne, eine bislang unbekannte Länderküche, eine zentrale Zutat, eine mir fremde Zubereitung oder ein nie gekostetes Gericht, probiere ich gerne etwas Neues aus. Viele famose Speisen, die ich danach immer wieder bestellte oder sogar inzwischen zu Hause nachkoche, habe ich so entdeckt. Die Enttäuschungen oder neu entdeckten Aversionen aufgrund dieser Neugier blieben bislang ausgesprochen überschaubar.

Meine Getränkevorlieben beschränken sich auf Wasser (meist Leitung, selbsgesprudelt), ungesüßten Kaffee, ungesüßten Tee (unaromatisiert schwarz/grün/Kräuter), Milch/Hafermilch, (Craft) Biere und gute trockene rote sowie weiße Weine, gelegentlich einen guten hochprozentigen Absacker wie Brände/Geiste, Whisk(e)y, Cognac, Rum oder Grappa. Keine Cola, keine anderen Softdrinks, höchstens mal alle Jubeljahre einen Gin Tonic oder Campari Soda. Zum Feiern darf es zudem auch mal Prosecco, Sekt, Cremant oder Champagner sein, aber immer möglichst trocken, bitte. Jagen kann man mich mit Likören, Bubble Tea, durch Sirup oder andere Zusätze aromatisierte Tee- und Kaffeesorten, Energydrinks, flachem und langweiligen Supermarktbier und lieblichen Weinen jedweder Couleur.

In meinem Krüschheitsranking auf Platz zwei kommen vermutlich Möbel und Gebrauchsgegenstände. Ich mag gut designte Dinge. Dinge, die nicht trendy oder modisch sind, sondern schick, ergonomisch, benutzerfreundlich, zweckmäßig und langlebig. Dinge, die die Aufgabe, die sie erfüllen sollen, hervorragend meistern, die keinen Verdruss durch Unzulänglichkeiten beim Handhaben oder Benutzen bereiten und die mich jedesmal ergötzen, wenn ich sie anschaue oder gebrauche. Ich hasse geplante Obsoleszenz, bitte her mit Regularien und Gesetzen, die festlegen, dass Dinge möglichst lange halten und bei einem technischen Defekt jederzeit reparierbar sein sollten. Abnutzung, die einen Neukauf erfordert, ist natürlich nicht vermeidbar, aber übermäßig schnelle Abnutzung bestimmt. Ich erinnere mich noch gut an einen Designkugelschreiber von Pelikan, der Anfang der 1980er auf den Markt kam und damals ein ziemlich »heißer Scheiß« war, sowohl weil er so spacig aussah als auch weil er von dem damals sehr angesagten »Stardesigner« Luigi Colani entworfen worden war. In den folgenden Monaten und Jahren sah ich diesen Kuli im Besitz etlicher Menschen auf dem Tisch liegen und mir fiel auf, dass bei der Mehrzahl dieser Stifte der Clip abgebrochen war. Offensichtlich war Herr Colani davon ausgegangen, dass die Besitzer und Nutzer seines futuristischen Schreibgeräts den Clip ausschließlich bestimmungsgemäß einsetzen, nämlich um den in eine Schul-, Akten- oder Brusttasche eingesteckten Stift verrutschsicher am Rand zu fixieren. Was der Stardesigner wohl nicht bedacht hatte, war, dass sehr viele Menschen, wenn sie gerade nicht mit einem Kuli schreiben, mit dem Gerät spielen und dazu gehört auch, mit dem Daumen unter dem Clip hin und her zu fahren. Das hat den feinen, wenn auch elastischen Kunststoffsteg am Kopf des Stiftes sehr oft überbeansprucht und so brach der Clip eben auffällig häufig ab, was der eleganten Linienführung leider nicht zugute kam. Ich finde, gutes Design sollte daher nicht nur einem möglichst angenehmen und effizienten Gebrauch dienen, sondern auch in gewissem Rahmen einen Missbrauch oder eine Fehlbedienung mit einkalkulieren und diese tolerieren können.

Wenn ich mir neue Möbel kaufe, kann ich bei der Recherche Tage und Wochen im Internet mit Recherche verbringen. Ich nutze dazu oft die Google-Bildersuche. Selbst wenn ein Bild, auf dem mir ein Möbelstück gefällt, nicht direkt von einem Hersteller oder Anbieter stammt, so ist doch das (reale) Foto ein Beweis dafür, dass dieser Gegenstand irgendwo industriell produziert und verkauft worden war. Was fotografiert wurde, sollte man auch kaufen können. Manchmal erfuhr ich im Text zu einem Bild, wie das Produkt genannt wurde, wie die Marke oder der Hersteller heißt oder ob es einen gängigen Gattungs- oder Suchbegriff dazu gibt, den ich bis dahin nicht kannte. So konnte ich oft nachfolgend meine Suche erweitern und verfeinern und landete nicht selten bei einem Anbieter, der es tatsächlich zum Kauf anbot.

Auch von meinen Möbeln erwarte ich Langlebigkeit und eine gewisse Zeitlosigkeit. In meinem Wohnzimmer steht noch immer mein erster eigener Couchtisch mit matt lackierter MDF-Platte und Gummirollen. Man kann ihn beim Staubsaugen einfach an die Seite rollen und auf einer zweiten Ebene unterhalb der Tischplatte »Zeug« ablegen, das obenauf stören würde. Mein schlichter, schwarzer Kleiderschrank mit Lamellentüren im Schlafzimmer ist ebenfalls seit Jahrzehnten derselbe. Sicher könnte ich mir einen größeren kaufen, aber ich mag es auch, dass mich sein begrenztes Volumen dazu anhält, ihn regelmäßig auszumisten bzw. mir nicht unnütz neue Kleidung zu kaufen, die meinen Stauraum sprengt. Mein ebenfalls schwarzes hölzernes Bett könnte zwar mal einen neuen Anstrich vertragen, aber die Form – eine Mischung aus einem flachem Futongestell und einem normalem Bettrahmen, mit einem breiten umlaufenden Sims, auf dem man (statt auf einem Nachttisch) sehr gut Bücher oder das Smartphone ablegen kann – gefällt mir nach wie vor. Am ehesten würde ich es wohl gegen ein neues Bett austauschen, wenn sich abzeichnete, dass ich aus dieser sehr tiefliegenden Bettstatt beim Aufstehen aus Altersgründen nicht mehr hochkomme. Mit Mitte Fünfzig bin ich überdies ganz nüchtern auch an einem Punkt angekommen, an dem ich ein neues, dann auch gern etwas teureres Möbelstück mit dem Hintergedanken suche und auswähle, dass es vielleicht die letzte Anschaffung dieser Art in meinem Leben sein könnte, da mir unverändert daran liegt, dass es mir genauso lange gefällt und halten wird, wie meine Möbel, die ich zuvor ausgewählt habe.

Wenn ich Gebrauchsgegenstände brauche, sind die »Farbkonzepte« in meiner Wohnung, die ich in einem früheren Blogbeitrag als »Fimmel« bezeichnete, über Design und Langlebigkeit hinaus, für mich ein wichtiges und manchmal ziemlich zeitaufwendiges Suchkriterium. Ich brauche eine Gießkanne für die Zimmerpflanzen, die auf der Fensterbank im Schlafzimmer stehen? Dann muss sie genau dasselbe dunkle Violett haben wie die Vorhänge am gleichen Fenster. Mir fehlt ein Seifenspender fürs Bad? Ich kremple das Internet um nach einem, der nicht nur schick, sonder auf jeden Fall auch königsblau sein muss. In der Küche wird ein neuer Pfannenwender benötigt? Da fast alles in der Küche grün ist, wäre ein Werkeug in einer anderen Farbe inakzeptabel. Diese Schrulle kostet mich zwar Zeit, aber immerhin nicht zwingend mehr Geld, und das Gefühl der Zufriedenheit, das ich hinterher beim Verwenden und Anschauen habe, wiegt diese Mühe für mich jedesmal auf.

Puh – ich hätte nicht gedacht, dass mir so viel zum Pickysein einfällt. Deshalb mache ich hier erstmal einen Cut und widme mich den weiteren Krüschfeldern in einem separaten Blogbeitrag. Es fehlen noch die Bereiche Dating und Partnerwahl, Kleidung und Mode und der Kulturbereich mit Filmen, Serien, Musik und Büchern. Tatsächlich bin ich selber auch ein bisschen gespannt, was mir dazu beim Nachdenken noch einfallen wird.

Die Qual der Wahl (Symbolbild).

Standardomas

Als ich Kind war, sahen gefühlt fast alle Omas gleich aus. Sie hatten zwar oftmals noch unterschiedliche Haarfarben und Frisuren, aber ansonsten waren sie einander äußerlich erstaunlich ähnlich. Ich sah sie während meiner Ferienaufenthalte in den kleinen Harzer Wohnorten meiner eigenen Omas – in dem kleinen Dorfsupermarkt, im Zeitschriftenladen, auf den Friedhöfen oder auf gelegentlichen Kaffeekränzchen, bei denen ich anwesend war. Manche Omas hatten kürzere, wellig-ondulierte Omafrisuren, manche hatten einen Dutt, einige hatten noch braunes oder dunkelblondes Haar, andere waren bereits ergraut oder auch schon schlohweiß. Die Omas von früher waren ziemlich klein, vielleicht, damit sie in die kleinen Häuser passten, in denen sie wohnten. Die Häuser hatten niedrige Decken und verwinkelte Zimmer und in mancher Stube bollerte noch ein Brikettofen. Zu Hause trugen die Omas meist bunte Kittelschürzen aus knisterndem Kunststoffgewebe und mit großen Knöpfen. Wenn eine Oma von damals das Haus verließ – und dazu gehörte schon, nur kurz vor die Tür zu gehen und die Zeitung reinzuholen oder ein Staubtuch auszuklopfen – musste sie auf jeden Fall »zurechtgemacht« sein. Die Haare mussten einigermaßen liegen und die Kleidung ordentlich sein, ein schnelles aus-dem-Haus-Huschen im Morgenmantel oder gar ungekämmt, das war undenkbar, das konnte man nicht machen, was sollten die Nachbarn sonst denken, wenn man sich derart gehen ließe. Bei etwas ausgedehnteren Aufenthalten außer Haus – etwa beim Friedhofsbesuch, anlässlich eines Einkaufs in der nächstgelegenen Stadt, zum Kaffeetrinken in der Konditorei oder für einen Verwandtenbesuch – war die nächste Stufe der Selbstherrichtung geboten. Die Frisur musste einwandfrei gekämmt, toupiert und eingesprüht sein, eine Bluse und ein adretter Rock waren vonnöten und manchmal auch etwas Schmuck, dezente Ohrstecker vielleicht, oder eine schlanke Damenuhr. Für festliche Anlässe wurde dann noch mal nachgelegt, nun war der vorherige Gang zum Friseur mit Erneuerung der Dauerwelle unabdingbar, die mehrreihige Perlenkette oder der Bernsteinschmuck wurden der Preziosenschatulle entnommen, eine Brosche an Bluse oder Revers gesteckt, in ein edles Kostüm aus Rock und farblich passender Jacke geschlüpft und ein besonderes Parfum aufgetragen. So machten es nahezu alle Omas und daran ist ja auch nichts auszusetzen, denn schließlich ist die Gepflogenheit der stufenweise gesteigerten Aufbrezelung auch heute noch gang und gäbe. Das Besondere daran war nur, dass Optik und Zusammenstellung der Omakluft bei fast allen Damen ähnlichen Alters hinterher so bemerkenswert gleichartig ausfielen. Eine Abart dieses Stils, wenngleich deutlich farbgewagter, pflegte auch die inzwischen verstorbene Queen. Eine schlichtere, ebenfalls britische Variante dieses Omastereotyps repräsentiert Margaret Rutherford als Miss Marple in den populären Agatha-Christie-Verfilmungen der frühen 1960er Jahre. Auch in deutschen Filmen dieser Zeit und bis in die 1970er hinein gab es Vertreterinnen solcher Omas, in meinem Kopf lagern noch dunkel die Namen der Schauspielerinnen Agnes Windeck oder Lina Carstens, die ich als Besetzungen für solche Rollen erinnere. 1988 und 1991 tauchten ähnliche Omafiguren in den Loriot-Kinofilmen »Ödipussi« und »Pappa ante Portas« in einigen Haupt- und Nebenrollen auf, allen voran Edda Seippel als Gerda Tietze, Katharina Brauren als herrische Mutter des Protagonisten Paul Winkelmann und Rose Renée Roth als Tante Mechthild.

Beliebte Standardtöne beim Omaoutfit waren zumeist gedeckte Farben wie beige, braun, violett, grau, oliv, schwarz oder bordeaux. Sehr häufig fielen mir hohe Glockenhüte oder feine Filzhüte auf, mit spitzem Federschmuck oder textilen Blumenrosetten. Aber auch gemusterte, unter dem Kinn verknotete Kopftücher waren bisweilen zu sehen. Unter dem gern getragenen braunmelierten Kamelhaarmantel lugte oft ein gedeckt getönter Faltenrock hervor, auch flache braune Halbschuhe mit Kreppsohlen und einer umlaufenden wulstig abgesteppten Einfassung um die Oberseite der Schuhkappe gehörten vielfach zur Ausstattung der uniformen Seniorin, ebenso eine große kantige Handtasche mit kräftigem Henkel und metallener Knipsverschlussleiste. Es wirkte, als mussten Omas so oder sehr ähnlich aussehen, als gäbe es eine offizielle behördliche Omaverordnung, in der die Komponenten, ihre Varianten und maximal erlaubte Abweichungen festgeschrieben waren und die zu missachten es sich schlicht nicht schickte. Womöglich wurden bei Verstößen gar Ordnungsgelder verhängt. Wenn Omas neue Kleidung brauchten, gingen sie in spezielle Läden, die sie »Schwickert«, »Erdmann« oder »Brenninkmeyer« nannten. Dort gab es Omakleidung und -accessoires in reichhaltiger Auswahl, augenscheinlich gefertigt von Omaschneidern in Omamodefabriken, von der festlichen pastellfarbenen Bluse mit elegantem Volant bis zum großblumig gemusterten Sommerkleid. Aber alles im Rahmen der erlaubten Toleranzen, denn gewiss beobachteten die Nachbarn auch solche Details.

Auch bei ihrer häuslichen Rollenzuweisung waren Omas an aus heutiger Sicht restriktive Konventionen gebunden. Ich erinnere mich tatsächlich noch an einige Sätze Ende der 1990er Jahre, das ich trotz eingehaltenem Diskretionsabstand in der Tresenwarteschlange einer Hamburger Sparkasse zum Teil mitbekam. Direkt vor mir wurde gerade eine alte Dame, eine sehr hamburgische, vornehm wirkende Oma, bedient. Mit leiser Stimme berichtete sie dem Bankmitarbeiter, ihr Mann sei verstorben und nun habe sie Post bekommen, die es erforderte, dass sie eine »Überweisung« tätigen müsste, sie hätte so etwas noch nie zuvor gemacht, wüsste überhaupt nicht, wie das geht und ob ihr der Bankkaufmann dabei wohl behilflich sein könnte, was er selbstverständlich tat.

Was mich daran beschäftigt, ist der gefühlte Widerspruch zwischen dieser Hilflosigkeit einerseits und der Resolutheit und Durchsetzungskraft andererseits, den ich bei vielen der im bisherigen Text als Omas bezeichneten Frauen, auch aus meinem eigenen Umfeld, beobachten konnte. In meiner Kindheit nahm ich Omas schon als solche wahr, wenn sie etwa 60 waren. Heute würde ich dazu erst jene zählen, die 85 oder älter sind. Die Spanne der Geburtsjahrgänge ist somit recht breit, sie endet aber etwa um 1940. Viele dieser Frauen nahm ich als ausgesprochen starke Frauen wahr. Sie mussten während des Krieges und in den Jahren danach, sofern sie schon verheiratet und Mütter waren, oft ohne ihre Männer Kinder großziehen, vielleicht ältere Familienmitglieder versorgen, erlebten Flucht, Vertreibung, die Vernichtung oder den Verlust ihres Heims, mussten harte Arbeit im Haushalt oder andernorts leisten, sich unter schwersten Bedingungen um Nahrung, materielles Auskommen und medizinische Versorgung kümmern, ihre Gefühle und Bedürfnisse den unglaublichen Zwängen dieser von Krieg, Mangel und Zerstörung geprägten Zeit unterordnen. Sie mussten sich durchsetzen, sich gegenüber Männern behaupten und viele Arbeiten und Pflichten übernehmen, für die zuvor Männer »zuständig« waren. Das Wort »gleichberechtigt« fühlt sich dafür irgendwie falsch an, weil es nicht aus freiem Willen geschah, vielleicht wäre »gleichbelastet« passender. Trotz dieser Stärken und Fähigkeiten jedoch, die auch nach dem Krieg bei den Frauen innerhalb der Familie eigentlich hätten weiterbestehen und genutzt werden können, beobachtete ich bei Ehepaaren dieser Generation dann in den Nachkriegsjahren eine sonderbar strikte Aufgabenteilung, so auch in den Haushalten meiner eigenen Omas, in der Familie einer Tante dieser Generation oder auch bei den inzwischen verstorbenen Eltern meines Mannes. Viele Frauen schienen die Selbstständigkeit, die sie sich während der Kriegsjahre aneignen mussten, wieder abgelegt zu haben. Fortan ging der Mann arbeiten, kümmerte sich um Geldangelegenheiten, Behördengänge oder Versicherungsdinge, erledigte handwerkliche Arbeiten in Haus und Garten, stutzte Hecken und Bäume, mähte den Rasen, grub die Beete um und pflegte und wartete das Auto. Die Frau hingegen kochte, putzte, erledigte die Wäsche, kümmerte sich um die Kinder, im Garten war sie für Blumen und Gemüse zuständig, sie plante die Einkäufe (bei denen der Mann dann wieder als Fahrer und Träger involviert wurde) und kümmerte sich generell darum, Haus und Heim »wohnlich« zu halten. Diese Aufgabenteilung war so konsequent, dass sich beide komplett aus Zuständigkeiten des jeweils anderen heraushielten. War nun eine(r) der beiden vorübergehend oder dauerhaft abwesend oder nicht handlungsfähig, etwa durch Kur- oder Krankenhausaufenthalt, Reisen, Pflegebedürftigkeit oder Tod, brach dem/der anderen plötzlich ein Kompetenzbereich, der für die Alltagsbewältigung notwendig war, komplett weg. Der Ehemann war ohne die Frau unfähig, sich eine Mahlzeit zuzubereiten, und sei es, tiefgekühlte Brötchen aufzutoasten oder sich einen Topf Nudeln zu kochen. Er wusste nicht, wo das Klopapier gelagert wurde oder die Kaffeefiltertüten, hatte keine Ahnung, wie die Waschmaschine bedient wurde und konnte sich kein Hemd bügeln. Die Ehefrau hingegen war ohne ihren Mann komplett hilflos bei Finanz- und Versicherungsthemen, wusste nichts über laufende Daueraufträge, Leasing- und Ratenzahlungen, hätte nicht den zuständigen Gas- oder Heizöllieferanten benennen können, hatte keine Ahnung, ob und wann das Auto wieder zum TÜV musste oder wusste nicht, wo wichtige Unterlagen abheftet waren. Es machte auf mich oft den Eindruck, als sei diese Aufteilung der Zuständigkeiten nicht vom Mann oder der Frau explizit »angeordnet« worden oder als hätten sich beide Eheleute in einem ausführlichen Gespräch abgestimmt und darauf geeinigt. Es wirkt eher so, als sei diese Zuteilung in einer Art stiller Selbstorganisation entstanden – geformt durch eine Mischung aus extern vermittelten Rollenbildern und eigenen Neigungen, Abneigungen, Fähigkeiten, Unfähigkeiten, Talenten, Defiziten, Ansprüchen und Erwartungen. Und in diese Ordnung haben sich dann beide gefügt. Der Mann hätte ja theoretisch zumindest Interesse daran zeigen können, was die Frau kann, tut und weiß (und sei es ohne die Absicht, die Erkenntnisse daraus sofort praktisch anzuwenden) und umgekehrt. Oder beide hätten die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten einander nach und nach proaktiv vermitteln können, gerade weil vielleicht mit fortschreitendem Alter nicht mehr jede(r) die übernommenen Aufgaben erledigen kann. Aber das geschah einfach nicht, beide verharrten in diesem Zustand der gegenseitigen Abhängigkeit bzw. weitreichenden Unfähigkeit. Ich finde die Häufung dieser Konstellation und der Fügung darin bemerkenswert. Ähnlich dem typischen Erscheinungsbild der Standardomas scheint es bei unzähligen Ehepaaren dieser Generation eine Standard-Zuständigkeitszuweisung gegeben zu haben. Das machte man wohl eben so.

Heutzutage sieht man Standardomas nur noch selten, sie sterben allmählich aus. Und wie die gängigste Aufgabenteilung in gemeinschaftlichen Haushalten gegenwärtig aussieht, kann ich nur raten. Zeitgemäß wäre, wenn sie klar abgesprochen, fair verteilt, in gegenseitigem Einvernehmen und nach Möglichkeit im Rahmen der individuellen Vorlieben oder Eignungen geschieht. Ich zum Beispiel bin in unserer Beziehung für Handwerkliches zuständig, der Mann ist darin weder begabt noch dem zugeneigt. Kochen tun wir beide, weil wir es können und lieben, aber nur ich backe Brot, der Mann eher Süßgebäck. Er plant gerne Unternehmungen und Reisen, ich übernehme immer gerne das Steuer, sofern ein Auto als Verkehrsmittel dient. Putzen, waschen und aufräumen müssen wir beide, da jeder für (s)eine Wohnung zuständig ist. Bügeln verschmähen wir gleichermaßen, also lassen wir es ganz oder »outsourcen« den seltenen Bedarf. Finanz- und Behördenkram wird organisch von Fall zu Fall separat oder auch gemeinsam erledigt.

Ich finde, die Zuständigkeiten für und Kenntnisse über die notwendigen Alltagstätigkeiten einer Lebensgemeinschaft sollten so organisiert sein, dass jede(r) zwar den Alltag bei Bedarf auch komplett alleine bewältigen könnte, man aber die einvernehmlich gewählte Aufteilung beibehält, weil es sich genau so, wie es abläuft, für alle richtig anfühlt.

Das wäre doch ein guter Standard.

Mit Hilfe von Midjourney und Photoshop gelang es mir, diese ziemlich repräsentative Standardoma darzustellen.

Unzusammenhängendes

Im Dezember besuchte ich in Hamburg-Othmarschen anlässlich einer kleinen beruflichen Weihnachtsfeier erstmals das libanesische Restaurant »Hala«. Der Initiator und Gastgeber des Abends, der im Westen Hamburgs wohnt, hatte das Lokal vorgeschlagen und aufgrund seiner etwas nebulös gehaltenen Bestellung zu Beginn des Abends (»Bringense mal für uns alle eine schöne Mischung kalter und warmer Sachen, die teilen wir uns dann«) bog sich anschließend der Tisch vor orientalischen Köstlichkeiten. Zuerst wurden gut drei Dutzend Porzellanschälchen mit kalten und warmen Mezze aufgetragen: Hummus, Auberginencreme, Tabouleh-Petersiliensalat, gebratener Blumenkohl mit Sesam-Vinaigrette, Sesammousse mit Porree, Paprika und Mandeln, Labneh mit Walnuss, Minze und Knoblauch, marinierte Rote Bete mit Sesam und Thymian, Champignons mit Harissa und Koriander. Wow, dachten alle, als die Schälchen sämtlich ausgekratzt waren, das war ja sehr gut und auch reichlich. Doch nach dem Abräumen kamen die Servicekräfte dann unerwartet wieder – mit größeren Platten und einer Auswahl famoser warmer Hauptgerichte: Riesengarnelen auf Hummer-Estragon-Sauce mit Gemüse, Lammfilet auf Schafskäse-Sauce mit Gemüse und Zimt-Kardamom-Reis, Entenbrustscheiben auf Aprikosensauce, Makanek-Lammwürstchen mit Pinienkernen und mehr. Dazu Wasser und Wein und abschließend tatsächlich noch ein Dessertpotpourri plus Kardamom-Mokka. Das war ein sehr wohlschmeckender Abend und obwohl ich ganz aus dem Westen dann wieder fast eine Stunde mit dem Nachtbus in mein eher östlich gelegenes Viertel unterwegs war, wollte ich mir dieses famose Lokal unbedingt zwecks eines Wiederholngsbesuchs merken. Als nun Anfang März zwei gute Freunde anregten, kam mir das Hala gleich wieder in den Sinn und als ich nach der Website suchte, entdeckte ich, dass es in Hamburg-Rotherbaum und damit viel näher gelegen einen zweiten Ableger namens »Hala mignon« gab. Also schlug ich dieses vor, traf auf Gegenliebe und reservierte für vergangenen Samstag Abend einen Tisch.

Das Lokal ist klein, beim Betreten sieht man zunächst nur 4–5 Tische und ich dachte »Oh. Gut, dass wir reserviert haben«. Doch dann führte uns der Wirt eine Treppe hinunter in einen zweiten Gastraum mit ebenfalls 5 Tischen und dort sollten wir den Rest des schönen Abends verbringen. Das Ambiente ist in schönen gedeckten Farben gehalten, petrol, braun, grau und gold, die Akustik ist auch bei voller Besetzung noch angenehm und die kleinen, etwas verschachtelten Räume wirken fast wie gemütliche Wohnzimmer. Der Service war zur Stoßzeit bisweilen etwas hektisch, aber nie unaufmerksam. Wir alle gemeinsam bestellten »Das mignon-Menü«, bestehend aus Amuse bouche, einem Sortiment kalter Mezze, danach wahlweise entweder ein Hauptgericht oder zwei warme Mezze nach freier Wahl und abschließend eine »Assemblage aus Baklawa, Crème Brûlée Orange und Maracuja-Sorbet«. Der Menüpreis erschien schon vor der Bestellung mit 41 EUR pro Person mehr als gerechtfertigt und das Sättigungs- und Zufriedenheitsgefühl danach bestätigte dies. Es war ein sehr feiner, köstlicher Abend und ich empfehle beide Filialen dieses libaniesischen Restaurants hiermit gerne uneingeschränkt weiter.


Bei der morgendlichen Bartpflege bzw. -schur dachte ich so, wie großartig ist es doch, dass der Körper imstande ist, die ganzen Materialien und Stoffe, die ihn ausmachen und die er zur Aufrechterhaltung der Lebens- und Wachstumsfunktionen benötigt, bei einer angenehmen Temperatur von lediglich 37 °C und normalen atmosphärischen Bedingungen selbst herzustellen. Hormone, Enzyme, Proteine, Sekrete, Zellen, Haare, Nägel, Magensäure, Gallensaft. Alles ohne Gluthitze, Zischen, Dampfen, schädliche Abfallstoffe oder giftige Dämpfe in kritischen Mengen – das ist schon ziemlich genial. Wenn man bedenkt, welche extremen Reaktionsbedingungen in der Industrie zumeist vonnöten sind, um Kunststoffe, Chemikalien, Medikamente, oder Baustoffe herzustellen, dann bin ich doch dankbar, eine so dezente und geräuscharme Chemiefabrik sein zu dürfen.


Am Sonntagnachmittag stand ein schönes kompaktes Konzert in der Elphi auf dem Programm: Das NDR Elbphilharmonie Orchester spielte das »Harfenkonzert« op.74 von Reinhold Glière und die Sinfonie Nr. 7 von Sergej Prokofjew. Zusammen eine gute Stunde ohne Pause, danach ist man jetzt im März »noch im Hellen« wieder draußen und kann den kaum angebrochenen Abend dann noch ausgiebig anderweitig beschließen. Wir saßen auf bewährten guten Plätzen in der ersten Reihe im obersten Rang der Etage 16, von dort hat man einen schönen, wenn auch steilen Blick hinunter auf das Orchester, die Solisten und den Dirigenten. Die Plätze befinden sich aber auch auf gleicher Höhe mit dem großen trichterförmigen Schallreflektor, der in der Mitte des Saals von der Decke herabhängt. Die Unterseite besteht aus einer mit den typischen, organisch strukturierten Akustikkacheln der Elphi-Wandverkleidungen beschichteten Kalotte, die Oberseite ist mit einer elastischen Stoffhülle bespannt, die sich bogenförmig nach oben zur Aufhängung verjüngt. Und genau auf dieser Stoffhülle liegen seit geraumer Zeit zwei längliche rote Würste, die dort offenbar nicht hingehören. Meine erste Assoziation während des Konzerts, bei dem ich diese Fremdkörper entdeckte, war »Da hat ein Zuschauer von seinem Platz aus zwei angebissene BiFi auf das Ding geworfen«. Von weitem sehen die Objekte tatsächlich ein bisschen aus wie Landjäger, Mettenden oder wie auch immer man solche Wurstsnacks nennt. Inzwischen (ich hatte bislang leider kein Opernglas dabei) denke ich, es sind Fragmente einer dicken roten Gummidichtung, wie auch immer die dorthin gelangt sein mögen.


Beim Konzertgenuss geht es zwar in erster Linie um Musik, aber diese Dinger lenken mich trotzdem ab, vermutlich in erster Linie, weil ich über ihren Ursprung und die Beschaffenheit grüble, ob die Objekte schon anderen im Publikum oder vom Hauspersonal aufgefallen sind, ob und wie sie an dieser Stelle überhaupt erreichbar wären, um sie zu beseitigen usw. Ein bisschen geht es mir übrigens auch so bei Besuchen in der Deutschen Oper Berlin. Ich schaue regelmäßig hoch zu den tellerförmigen gläsernen »Lampenschirmen« um die hängenden Leuchtkörper, welche den Zuschauerraum vor und nach der Vorstellung erhellen und frage mich, ob auf diesen, anscheinend über Jahrzehnte zugestaubten und inzwischen milchig-trüben Scheiben, die obendrauf vermutlich ebenso schwer erreichbar sind wie die Hamburger BiFi-Kalotte, nicht endlich mal jemand Staub wischen könnte und warum ein Innenarchitekt überhaupt auf die Idee kam, solch schwer erreichbare gläserne Lampenteller in einer Oper zu verbauen, obgleich ihnen unweigerlich die Verstaubung dräut.

Es ist schwierig. Da sitze ich in einem der teuersten und modernsten Konzerthäuser des Landes, unter mir auf der Bühne entfaltet sich die ganze Pracht menschlichen musischen Schaffens – und ich stiere auf eine Gummiwurst. Ich fühle mich erinnert an den Loriot-Klassiker »Die Nudel«, oder an den bekannten Monty-Python-Sketch »The Dirty Fork«, in dem ein Restaurantgast eine klitzekleine Verunreinigung auf seiner Gabel entdeckt. Ich muss an Nachrichtensprecher denken, die bedeutsame Meldungen aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft verlesen, aber deren Worte stumpf verhallen, weil sie einen Fitzel Spinat zwischen den Zähnen haben, der all diese Ereignisse nebensächlich erscheinen lässt. Ich fürchte, wenn ich demnächst von einem Elphibesuch berichte und gefragt werde, was denn auf dem Programm gestanden hätte, dass ich dann nur mit leerem Blick sagen kann »Wurst«.

Streuselscience

In einem großen Supermarkt im Umland von Trier, wo das Elternhaus des Mannes steht, kann man abgepackten Streuselkuchen einer lokalen Bäckerei erwerben, der überraschend gut schmeckt und daher seit geraumer Zeit bei jedem der sporadischen Besuche auf dem Einkaufszettel steht. Für die Zeit zwischen diesen Aufenthalten jedoch bedeutet das – selbst wenn ein Vorrat zum Export angeschafft wurde – eine längere streuselkuchenfreie Phase. Da das an den Nerven zehren kann, hatte ich vor einigen Monaten begonnen, nach einem ebenbürtigen Rezept zu suchen, um auch fern der Mosel gegen die Streuselkuchenabstinenz anbacken zu können. Ich bin kein versierter Kuchenbäcker, da der Genuss von Süßgebäck bei mir fast augenblicklich auf der Waage sichtbar wird, lieber backe ich Brot. Trotzdem stehen in meinem Kochbuchregal einige auf Flohmärkten erstandene Bände, in denen »althergebrachte« Kuchenrezepte verzeichnet sind, so zum Beispiel das »Dr. Oetker Schulkochbuch« von 1971 (editierter Nachdruck einer Ausgabe von 1963) oder ein undatiertes Werk ähnlichen Alters namens »Unser Kochbuch«, das von der »Grosseinkaufs-Gesellschaft Deutscher Konsumgenossenschaften mbH« (GEG) in Hamburg herausgegeben wurde und laut handschriftlicher Signatur hinter dem Einband einst einer gewissen Gertrud Tiedemann gehörte. Wo wenn nicht hier sollte meine Suche nach einem Streuselkuchenrezept »nach Omas Art« beginnen?

Ich glich die in den beiden Büchern verzeichneten Rezepte zunächst miteinander ab und dann mit einigen Rezepten, die ich mithilfe der Suchbegriffe STREUSELKUCHEN WIE BEI OMA ausfindig machte. Die größten Unterschiede gab es bei der Menge zugesetzten Zuckers, dem Butteranteil und der Frage »Hefeteig mit oder ohne Ei?«. Der erste Backversuch war ein Hybrid aus zwei oder drei Rezepten und zunächst ohne Ei. Es war ein okayer Kuchen, aber er wirkte schon nach dem Backen ein wenig trocken, was nach einigen Tagen Lagerung noch zunahm. Außerdem waren Temperatur und Backzeit wohl etwas zu mutig bemessen, sodass er etwas zu sehr gebräunt aus dem Ofen kam.

Beim zweiten Versuch modifizierte ich das Rezept erneut, diesmal mit Ei und einer optimierten Aromatisierung durch Zimt in den Streuseln. Nochmal besser, aber immer noch nicht perfekt. Beim dritten Versuch reduzierte ich die Backtemperatur weiter, der Bräunungsgrad war schon sehr nah am Optimum, aber immer noch fand ich die Teigmenge für den Boden zu groß bzw. die Streuselmenge zu gering. Außerdem probierte ich testhalber mal, die Butter gegen einen neuen veganen Butterersatz namens ELEPLANT auszutauschen. Diese Variante gefiel mir sehr gut, auch nach 4–5 Tagen kühler luftdichter Lagerung war der fluffige Boden noch saftig. Die sehr feine, nicht zu süße Aromatik des Kuchens, zitronig im Boden und zimtig in den Streuseln, passt für mich perfekt zusammen und das Kompliment des Mannes »besser als der gekaufte« (HA!) bestätigte meine Bewertung.

Im Verlauf der Rezeptrecherche hatte ich auch danach gesucht, wie man eigentlich am besten die Streusel zubereitet. Nimmt man warme weiche Butter oder kalte harte? Manche Rezepte sprachen sogar von zerlassener Butter. Benutzt man zum Vermischen einen Mixer? Wenn ja, mit Knethaken oder mit Rührstäben? Es gab Niederschriften, in denen die Verarbeitung ohne elektrisches Küchengerät, aber mit Hilfe einer Gabel angegeben war und andere, die eine Verarbeitung »mit der Hand« empfahlen. Aber wie mit der Hand? Rühren, vermengen, kneten, rollen? Entstehen die Streusel durch Agglomeration der Masse beim Durchmengen irgendwann »von selbst« oder sollten sie besser aktiv geformt werden? Fragen über Fragen. Meine jetzige und unten beschriebene Vorgehensweise führt für mich persönlich zum besten Ergebnis: Erst werden die Streuselzutaten, eher mit den Fingern, zu einer gleichmäßig feinkörnigen Masse vermengt (das kann einige Minuten dauern) und dann durch das feste Zusammenkneten jeweils einer Handvoll dieser Masse zu länglichen kompakten Ballen geformt. Diese Ballen kann man dann während des Bestreuselns direkt über dem Boden in schöne markante, nicht zu feine Klümpchen zerteilen.

All diese Versuche, Verbesserungen und Erkenntnisse führten nun zu meiner heutigen vierten Rezeptur mit einer weiter reduzierten Teigmenge für den Boden. Ich denke, ich bin jetzt bei einem Ergebnis angelangt, das eine Niederschrift in der hiesigen Rezeptsammlung verdient und möchte es daher hiermit gerne teilen.

Streuselkuchen nach Omas Art

(Zutaten für ein hochwandiges Blech)

Boden:
390 g Weizenmehl 405
1 reichliche Prise Salz
1 Tütchen Vanillezucker
50 g Zucker
150 ml Milch
16 g frische Hefe (oder 1 TL Trockenhefe)
75 g weiche Butter
1 Ei (Gr. M)
1 TL Zitronenabrieb oder 1 Fläschchen Zitronen-Backaroma

Streusel:
240 g Weizenmehl 405
120 g Zucker
1 Tütchen Vanillezucker
1 TL Backpulver
1 gestr. TL Zimt
1 reichliche Prise Salz
125 g kalte Butter

Für den Hefeteig die Milch leicht erwärmen (z.B. Mikrowelle 450 W, 50 Sekunden). Mehl, Salz, Vanillezucker und Zucker, bis auf 1 TL, in einer Rührschüssel mischen, in die Mitte eine Mulde drücken. Frische* Hefe hineinbröckeln. Übrigen Zucker darüber streuen. Ca. 5 EL der Milch zugießen, mit der Hefe und etwas Mehl vom Rand zu einem Vorteig verrühren. Zugedeckt an einem warmen Ort ca. 10 Minuten gehen lassen.

* (Wenn man Trockenhefe nutzt, erübrigt sich die o.g. Vorbereitung, die Hefe kommt dann einfach mit allen anderen Zutaten gleichzeitig in die Rührschüssel und wird ohne Vorgärung verarbeitet.)

Übrige Milch, Butter, Ei und Zitronenschale/-aroma zugeben. Alles mit den Knethaken einer Küchenmaschine 3–5 Minuten kräftig durchkneten. Wenn das Verhältnis zwischen Flüssigkeit, Fett und Trockenzutaten perfekt ist, wird der Teig beim Kneten bald zu einer kompakten Kugel, die weder an der Rührschüssel noch an den Fingern klebt. Den Teigball in der Schüssel an einem warmen Ort zugedeckt ca. 40 Minuten gehen lassen.

Für die Streusel Mehl, Zucker, Vanillinzucker, Backpulver, Zimt und Salz mischen. Kalte Butter, in kleinere Stückchen geschnitten, dazugeben. Alles mit den Fingern gründlich zu einer homogenen feinkrümeligen Masse vermengen, anschließend mit den Händen zu dicken länglichen Streuselballen zusammendrücken, die sich später über dem Boden zu etwas kleineren Klumpen auseinanderbröseln lassen.

Den Teig auf einem gefetteten oder mit Backpapier ausgelegten Blech (die unten fotografierte tiefe Blechwanne ist innen etwa 25 × 35 cm groß) gleichmäßig ausrollen oder von Hand ausbreiten und gut verteilt mit den Streuseln bedecken, am besten flächendeckend bis ganz an den Rand – die Streusel schützen den Boden beim Backen vor dem Austrocknen und man hat mehr saftigen Kuchen ohne langweilige »Rinde«. Anschließend kann man ganz vorsichtig die Streuselschicht noch einmal mit flachen Händen auf dem Boden etwas andrücken, damit sie gut aufliegen. Den bestreuselten Teigboden nochmals etwa 20 Minuten gehen lassen und auf mittlerer Schiene bei sehr moderater Hitze (160 °C) 30 Minuten leicht goldgelb backen. Ich nutze aktuell Ober- und Unterhitze, bei Umluft müssten Temperatur und/oder Backzeit ggf. etwas angepasst werden oder öfter ein Blick in den Ofen geworfen werden, damit der Kuchen nicht zu sehr bräunt.

Für die Lagerung schneide ich den abgekühlten Kuchen in Stücke und bewahre ihn an einem kühlen Ort in einer mit Küchenkrepp ausgelegten, luftdicht verschlossenen »Tupperbox« auf, so bleibt er max. eine Woche lang schön frisch.

Ich würde mich freuen, von eventuellen Testbäcker*innen zu hören, ob es Euch ebenso gut und »omahaft« schmeckt und wünsche viel Spaß beim Nachbacken.

Dissertationsthema »Optimierung der Teigflächen-Streuselmengen-Ratio unter besonderer Berücksichtigung von Bodenfluffigkeit, lagerungstoleranter Saftigkeit und Bewahrung der Omahaftigkeit der Gesamtrezeptur«.

Die Verdichtung meiner Zielsetzung, gepostet auf Mastodon
Eben noch im Ofen, jetzt schon im Blog

Dreierlei-Pilz-Ragout mit Räuchertofu

Manchmal suche ich im Netz nach einem Rezept gemäß meiner tagesaktuellen Appetitlage, finde aber nicht genau das, wonach die Geschmacksknospen lechzen, sondern nur eine oder mehrere Annäherungen. Wenn ich dann entweder mehrere Rezepte zu einem neuen verquicke oder eines merklich modifiziere und mit dem Resultat geschmacklich sehr zufrieden bin, schreibe ich mir meine modifizierte Variante sicherheitshalber auf, damit ich die adaptierte Neukreation bei Bedarf problemlos reproduzieren kann.

Heute hatte ich Appetit auf »etwas sehr Pilziges, aber ohne Fleisch, lieber mit Räuchertofu«. Meine Recherche führte mich zu einem Rezept, das meinen Vorstellungen schon recht nahe kam, aber ebenfalls von mir angepasst wurde. Ich habe den Pilzanteil deutlich erhöht, hatte einige Zutaten nicht exakt wie aufgelistet vorrätig und musste zudem noch einen angebrochenen Becher Sahne unterbringen, der seiner Haltbarkeit entgegenlagerte. Das Ergebnis hat mir sehr gut geschmeckt und somit kommt auch diese abgewandelte Zubereitung hier ins Rezeptarchiv.

Zutaten (für 3–4 Personen)

1 große Zwiebel oder 1 kleine Gemüsezwiebel
Erdnussöl oder Kokosöl
2 EL Trockenpilze, z.B. Steinpilze oder Herbsttrompeten, im Mörser grob zerstoßen oder von Hand zerbröselt
150 ml Rotwein, Portwein oder Madeira
350 ml Gemüsebrühe
4 EL Sojasauce
1 EL dunkler Balsamico
1 EL Ahornsirup
1 EL Speisestärke
100 ml Schlagsahne oder vegane Kochsahne
200 g Räuchertofu (Meine Empfehlung: »Räuchertofu Klassik« von der Bio-Marke Taifun)
200 g braune Champignons*
200 g Kräuterseitlinge*
200 g Austernpilze*
1 TL getrockneter Thymian
Pfeffer, Salz

* Je nach Saison oder Verfügbarkeit können natürlich auch andere gekaufte oder selbstgesammelte bratfeste Pilzsorten miteinander kombiniert werden, wie z.B. Shiitake, Pfifferlinge, Steinpilze oder Edelreizker.

Alle Pilze nach Sorten getrennt putzen und in kleine mundgerechte Stücke schneiden, die Zwiebel in schmale geviertelte Ringe schneiden, den Tofu in Streifen oder mundgerechte Scheiben schneiden.

In einem größeren Topf oder einer Wokpfanne jeweils 2–3 EL des Öls erhitzen und die Pilze darin der Reihe nach bei guter Hitze unter Rühren ca. 5 Minuten lang braun anbraten – so bräunen sie besser, als wenn man die gesamte Menge Pilze auf einmal in der Pfanne braten würde. Jede gebratene Pilzportion aus der Pfanne nehmen, in einem geeigneten gemeinsamen Gefäß sammeln und zur Seite stellen.

Erneut etwas Öl in das Kochgefäß geben und die Zwiebelstücke ebenfalls unter Rühren braun anbraten. Die Trockenpilze und den Rotwein zugeben, Gemüsebrühe, Sojasauce, Balsamico, Ahornsirup und Thymian zugeben und einige Minuten aufkochen lassen. Die Speisestärke mit 1–2 EL kaltem Wasser glattrühren, in die köchelnde Sauce geben und 1–2 Minuten weiterkochen lassen, bis die Sauce deutlich andickt, dann die Sahne unterrühren. Mit Pfeffer und ggf. noch etwas Salz abschmecken. Alle gebratenen Pilze hinzufügen (inkl. des inzwischen ggf. im Sammelgefäß ausgetretenen Pilzsaftes), ebenso die Tofustücke. Alles gut umrühren und das Ragout noch 5–10 Minuten leise weiterköcheln lassen.

Dazu passen Hartweizen- oder Vollkornnudeln.