Brotmomente

Springe direkt zum Focaccia-Rezept

Es gibt eine »Rubrik« in meinen Alltagserlebnissen, für die ich immer noch nach einem passenden Wort suche: kleine sensorische Überraschungen, die beim beiläufigen Kontakt mit vermeintlich banalen Alltagsgegenständen oder Nahrungsmitteln plötzliche, freudige Aufmerksamkeit wecken. Wenn ich zum Beispiel ein Hotelzimmer beziehe, das Bad zwecks Händewaschroutine aufsuche und beim Abtrocknen plötzlich denke »Wow, sind die Handtücher schön weich!«. Oder wenn ich in einer fremden Wohnung zu Gast bin und dort ebenfalls beim Händewaschen meine Nase aufmerkt »Oh, diese Seife riecht aber gut!«. Auch besonders hautschmeichelnde Bettwäsche, ein ungewöhnlich komfortables Sitzmöbel oder ein Gebrauchsgegenstand mit herausragend ergonomischem Design können bei mir erfreute Verblüffung dieser Art auslösen.

Am häufigsten passierte mir dies bislang in Restaurants. Das übliche Ritual ist es ja, den Platz einzunehmen, in die Karte zu schauen, eine schöne Speisenfolge sowie Getränke auszuwählen und dann bei leichter Konversation auf das Essen zu warten. Meistens wird während der Wartezeit vom Service ein Körbchen mit Brot o.ä. serviert, manchmal gibt es auch ein oder mehrere kleine Schälchen mit Aufstrichen: aufgeschlagene Salzbutter, Kräuterquark, Schmalz, ein Näpfchen mit Olivenöl oder dergleichen. Normalerweise mümmele ich das Brot entweder fast gleichgültig während des Tischgesprächs weg oder – wenn es bereits optisch und haptisch eher an Standardware erinnert – rühre ich es auch gar nicht erst an oder höre nach der ersten Scheibe damit auf, um mehr Platz für das folgende (meist bessere) Essen zu lassen.

Manchmal jedoch passiert es, dass die Unterhaltung plötzlich stockt, weil das Vorweggebäck alle Aufmerksamkeit abzieht, quasi die oben erwähnte Spontanekstase in Form bemerkenswerten Brotgenusses. Es kann ein besonders kerniges Brot sein, wunderbar duftend, unglaublich fluffig und dabei saftig, mit einer besonderen Gewürznote oder einfach eindeutig »selbstgebacken« schmecken. Dann ist das Körbchen ruckzuck leergefuttert und wird manchmal sogar nachbestellt. Oft frage ich das Personal auch, woher das Brot stammt und habe so schon etliche Male famose kulinarische Impulse bekommen oder neue Bezugsquellen entdeckt. So erfuhr ich bei meinem Besuch im Berliner Sternerestaurant »Reinstoff« (inzwischen leider geschlossen), dass das dortige Brot von der Hannoveraner Handwerksbäckerei »Broterbe Gaues« geliefert wurde, die kurz darauf mehrere Filialen in meiner Wohnstadt Hamburg eröffnete – seither bin ich regelmäßig Kunde dort (inzwischen heißt die Kette »Backgeschwister«, die Brote und ihre Qualität sind jedoch geblieben) und mein Lieblingsbrot ist das »Walnuss-Ciabatta«. Im Hamburger Restaurant »Die Bank« (inzwischen leider geschlossen) wurde vor dem Essen ein vortreffliches hausgebackenes dunkles Kaffee-Kardamom-Brot serviert, von dem ich netterweise einen Laib »to go« kaufen durfte und das ich auch schon einmal versucht habe, nachzubacken (ich kam recht dicht dran, aber das Original war besser). Es gab noch mehrere dieser unerwarteten Gaumenglücksmomente: in Berlin, in Prag – und im April 2022 in Hamburg im Restaurant »Kleine Brunnenstraße № 1«. Auch dort stellte der Kellner ein Körbchen hellen Brotes auf den Tisch – und schon beim ersten Biss war alle Achtsamkeit bei den Geschmacksknospen. Es war eine hausgebackene Foccacia, noch ofenwarm, außen mit einer rustikalen, aber dünnen Kruste, innen weich und feinporig, saftig und mit fantastischem Weizenaroma, gekrönt vom Geschmack frischer Rosmarinnadeln und zarter Salzflocken auf der Außenseite. Doch ihre bewährten und beliebten Rezepte rücken Restaurants ja leider selten heraus, und so fragte ich kurz danach in meiner Twitter-Bubble nach erprobten und geliebten Rezepten für Foccacia, denn so ein grandioses Backwerk wollte ich zu Hause auch mal zubereiten.

Die recht zahlreichen Antworten (siehe Thread zum obigen Tweet) lieferten viele gute Hinweise und Rezepte, zusätzlich ging ich auch noch einmal ins Netz und tauchte buchstäblich in den Focaccia-Kaninchenbau ein: Es gibt unzählige Rezepte und Rezeptvarianten, viele Berufs- und Hobbybäcker, Backfreaks und Foodblogger haben seitenweise Recherchen, Erkenntnisse, Tipps und Empfehlungen veröffentlicht. Es wurden Rezepturen renommierter Kochbuchautoren miteinander verglichen, eigene Verfeinerungen ausgearbeitet, es gibt gelingsichere und besonders schnelle Rezepte, welche, bei denen mehrere Mehlsorten gemischt werden oder solche, bei denen statt Hefe Sauerteig zum Einsatz kommt, was allerdings die Vorbereitungszeit auf mehr als einen Tag ausweitet, sofern man Muße, Lust und Zeit dafür hat.

Außer einigen Recherchen hatte ich jedoch seit April noch keinen eigenen Backversuch gestartet, teils war das Vorhaben aus dem Gedächtnis verdrängt, teils ergab sich keine passende Gelegenheit, denn ein solches Beilagenbrot braucht ja auch eine Grundlage, zu der es Beilage sein soll. Und wenn die heimische Menüplanung doch mal etwas Passendes enthielt, reichten entweder die verfügbare Zeit oder die verfügbaren Vorräte nicht, um noch »spontan« Focaccia zu backen. Doch dann hob Twitter das Thema wieder auf die Tagesordnung, mit einem Post von Frau @novemberregen, die nach Rezepten dafür fragte. Ich erinnerte mich an meine damaligen Twitter-Replys und reichte eine Rezeptempfehlung von @dammiLoh weiter.

Und plötzlich war die Lust am Nachbacken wieder erwacht, zumal für den gestrigen Abend eine Auswahl feiner Fischsalate vom Hamburger Isemarkt auf dem Speiseplan stand, wozu eine Focaccia die perfekte Beilage wäre. Also kaufte ich flugs ein und bereitete das empfohlene Rezept nahezu textgetreu zu (ich habe es hier ins Deutsche übersetzt und meine minimalen Änderungen integriert):

Alessandras Focaccia mit Rosmarin

Zutaten:
500 g Mehl (Type 405 oder 550)
1 Päckchen Trockenhefe
300 ml lauwarmes Wasser
50 g gutes Olivenöl + 6 EL für die Backform
10 g Zucker
10 g Salz
1–2 EL Rosmarinnadeln, vorzugsweise frisch (grob gehackt oder ganz)
1-2 TL Salzflocken

Zubereitung:
Direkt in der Rührschüssel die Hefe im lauwarmen Wasser auflösen. Dann Salz, Zucker, Olivenöl und Mehl hinzufügen. Nun den Teig bei mittlerer Geschwindigkeit (mit Küchenmaschine oder Handmixer) mit Knethaken etwa 8 Minuten lang kneten. Wenn der Teig mit der Hand geknetet wird, am besten noch etwas länger. Den Teig kneten, bis er homogen wird. Er bleibt ziemlich klebrig, aber das ist wohl beabsichtigt.

Dann den Teig direkt in der Rührschüssel abgedeckt (z.B. mit einer Topfhaube oder einem Geschirrtuch) etwa eineinhalb Stunden gehen lassen, bis er sein Volumen verdoppelt hat.

Eine hohe metallene Backform (ca. 34 x 24 cm) oder ein tiefes Backblech gut einfetten mit mindestens 6 EL Olivenöl. Den Teig aus der Schüssel in die geölte Form geben und mit den Fingern rechteckig flachdrücken, bis er den kompletten Boden der Form ausfüllt. Darauf achten, dass am Rand ein Teil des Öls vom Boden der Pfanne auf die Oberseite des Teigs gelangt. Das nach oben gelangte Öl zum Schluss auf der Teigoberfläche gleichmäßig verstreichen.

Den Teig erneut abdecken und weitere anderthalb Stunden ruhen lassen.

Jetzt ist der Teig aufgegangen und bereit zum Backen. Die Abdeckung von der Backform entfernen, mit den Fingern über die Fläche verteilt einige Vertiefungen hineindrücken und nach Belieben nochmals mit etwas Olivenöl besprenkeln. Zum Schluss gleichmäßig mit Rosmarinnadeln und Salzflocken bestreuen.

Im vorgeheizten Backofen (220 °C Ober-/Unterhitze oder 200 °C Umluft) etwa 14 Minuten backen (oder bis die Focaccia auf der Oberfläche goldbraun ist).

Fürs erste Mal war das Ergebnis ziemlich gut gelungen. Der Gier halber wurde das Gebäck noch warm in schmale, abbeißbare Streifen geschnitten und zum Fischsalatbuffet gereicht, wozu es hervorragend passte. Dennoch würde ich beim nächsten Mal (dieselbe Rezeptgrundlage vorausgesetzt) ein paar Details variieren.

Dadurch, dass die Facaccia in der Backform gebacken wurde, war sie zwar auf der Oberseite wunderbar knusprig, aber die Unterseite war für meinen Geschmack ein bisschen zu weich geblieben. Ich würde sie also entweder nächstes Mal am Ende der Backzeit aus der Form nehmen, im noch heißen, aber schon ausgeschalteten Ofen auf Backpapier noch 5 Minuten weiterknuspern lassen und schauen, ob dies das Ergebnis verbessert. Alternativ könnte ich auch nach Backvarianten suchen, bei denen die Focaccia ohne Form frei auf einem Pizzastein oder auf einem Blech (mit Backpapier?) gebacken wird, was vermutlich einen weniger üppigen Einsatz des Olivenöls mit sich brächte, aber dafür sorgen könnte, dass sie rundum etwas krosser würde.

Zweitens war mir der Teig mit der gewählten Mehlsorte »Kuchenmehl« (Typ 405 der im Supermarkt gekauften Marke »Diamant«) ein wenig zu fein und zu kultiviert, ich vermisste die rustikale, erdige Robustheit bei Teig und Kruste der im Restaurant genossenen Vorlage. Bei einem erneuten Versuch würde ich daher wohl den etwas kräftigeren Weizenmehltyp 550 ausprobieren und zudem ein wirklich gutes Biomehl oder sogar eins von einem Hofladen oder einer Handwerksmühle besorgen, denn auch der spürbare Weizen-/ Getreidegeschmack war im Debütgebäck noch lange nicht so intensiv wie in meiner Erinnerung.

Ansonsten ein tolles, schnell durchführbares und gutes Rezept, auf dem sich aufbauen lässt. Meinen ersten Versuch habe ich zunächst bewusst – außer Flockensalz und Rosmarin – nicht mit weiteren Belägen wie Tomaten, Zwiebeln usw. zubereitet, um die Teigbeschaffenheit und das Grundaroma möglichst »pur« bewerten zu können. Sowie das einmal perfektioniert ist, kann ich mir aber durchaus auch üppiger belegte Varianten vorstellen. Oder ich springe nochmal ins »Rabbit Hole« und probiere weitere Rezeptversionen aus.

Es war jedenfalls nicht mein letzter Versuch.

Herr Doktor, ich hab’ Hybris!

Vorhin telefonierte ich mit einem Kollegen und meldete mich dabei für eine kurze Abwesenheit ab, um in einem Sanitätshaus ein Rezept meines Orthopäden für temporäre Schuheinlagen einzulösen. Grund: gelegentliche lokale Beschwerden am Fuß während längeren Gehens, kann man behandeln, geht wieder weg. Er habe auch seit einiger Zeit morgens beim Aufstehen so seltsame Symptome am Fuß, berichtete der etwa gleichaltrige Kollege. »Du«, sagte ich, »ich habe eine unbequeme Wahrheit für Dich: Das ist vermutlich das Alter.« – »Hör bloß auf!« winkte er ab.

Dann fiel mir als nächstes ein Posting auf Twitter ins Auge: »Sarah von den Sarggeschichten«, die sich als Bestatterin beruflich, auch durch erklärende Kommunikation, mit dem Thema Tod beschäftigt, fragte: »(…) Du wird 1400 geboren, moderne Medizin gibt es noch nicht. Alles was deinem Körper in deinem Leben hier passiert ist, passiert Dir auch in 1400. Wie lange lebst Du und woran stirbst Du? Bei mir wäre es wohl der Blinddarm mit 13 gewesen.«

Inzwischen gibt es mehrere tausend Antworten auf den Tweet und sehr viele der Verfasser geben an, ohne moderne Diagnostik und Medizin sehr wahrscheinlich ihr heutiges Lebensalter nicht erreicht zu haben. Nicht wenige berichten sogar schon von Behandlungen kurz nach der Geburt, in der Kindheit oder Jugend.

Wenn ich diese Frage beantworte, kann ich mindestens fünf Gelegenheiten aufzählen, bei denen mich der Sensenmann ohne rechtzeitige Behandlung bereits jedesmal hätte abholen können: eine akute Blinddarmentzündung (etwa mit 15), eine Hodentorsion (mit ca. 17), ein gutartiger »mesenchymaler Tumor« im Oberschenkel, der jedoch unbehandelt durchaus Entartungspotenzial hat (mit 45), ein sich plötzlich mit rasenden Koliken manifestierender Nierenstein (mit 49) und schließlich – bislang erfolgreich per OP und Rezidiv-Bestrahlung behandelter – Prostatakrebs (mit 52). Dazu kommen noch einige »Glücksfälle« nichtmedizinischer Art, bei denen ich einfach großes Glück hatte, dass mir bei Stürzen, Unfällen und Ähnlichem nicht das passiert ist, was im schlimmsten Fall hätte passieren können – meine Beerdigung.

Wenn man das den Taten und Äußerungen etlicher Menschen gegenüberstellt, die sich im Internet abfällig über Krankheit, Tod, Behinderung, Unfallschäden, Immunsuppression und die davon betroffenen Personen äußern, muss man zwangsläufig vier Schlussfolgerungen ziehen:

  • Erstens scheint es eine ganze Menge Menschen zu geben, die in ihrem Leben noch niemals ernsthaft krank gewesen sind.
  • Zweitens scheinen diese Leute zu glauben, ihre beständige Gesundheit sei so etwas wie ein Zeitschriftenabonnement, das so lange geliefert wird, bis sie es persönlich abbestellen.
  • Drittens denken vermutlich ebenso viele, ihr womöglich bewusst »gesunder Lebenswandel« ohne Zigaretten, Alkohol, mit gesunder Ernährung, viel Sport etc. würde sie auch in ihrem künftigen Leben vor jeglicher Erkrankung bewahren.
  • Und viertens scheint dieses Geschenk der stabilen Gesundheit (denn es ist kein Verdienst, sondern eine Mischung aus Zufall und Glück) bei einer reichlich großen Gruppe nicht zu sowas wie Dankbarkeit oder Demut zu führen, sondern zu Hochmut und Arroganz.

Ich selbst bin dankbar dafür, erkrankt gewesen und wieder gesund geworden zu sein. Ich merke, dass mich das wertschätzender gegenüber dem Leben an sich macht und auch mitfühlender gegenüber Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft krank bzw. behandlungsbedürftig sind. Ich merke auch, dass das Alter (hier schließe ich wieder den Kreis zum oben erwähnten Telefonat mit dem Kollegen) nach mehreren glücklich überwundenen, riskanten Diagnosen etwas von seinem Schrecken verliert. Denn die einzige Alternative zum Altwerden ist leider, jünger zu sterben. Und deshalb ist älter werden nach jeder gut überstandenen Erkrankung eigentlich die Belohnung für den Behandlungserfolg. Vielleicht können nur dauerhaft Gesunde lautstark das Altern beklagen, denn es ist das Einzige, was sie zu beklagen haben. Frohlocken sollten sie. Aber, ach.

Was ebenfalls auffällt, ist, dass viele derjenigen, die vom Turm ihres gesegneten Wohlbefindens herunter die Kranken und Leidenden schmähen oder missachten, dem konservativen, neoliberalen und gerne auch neurechten Spektrum zuzuordnen sind. Fast schon salonfähig scheint die Floskel vom »gesunden Immunsystem«, dem Mikroben aller Art nichts anhaben können, im schlimmsten Fall predigen Unbelehrbare gar vom »Volkskörper«, dessen schwache Glieder zu entfernen seien.

»Sie ahnten nichts …«, würde eine unheilvoll sonore Stimme in einer Reality-Crime-Doku nun raunen. Denn auch der Mietvertrag im Gesundheitsturm kann vom Leben und dem Zufall jederzeit gekündigt werden. Es kann auch dich treffen, als Selbstoptimierer, Kraftstrotzer, Leistungsträger, Erfolgsmensch oder Rechtsaußenflirter jeden Geschlechts – egal, wie viele grüne Smoothies oder Vitamintabletten du dir eingeworfen hast, ob du viermal die Woche ins Fitnessstudio gehst oder Oma und Uropa fast hundert Jahre alt geworden sind. Ein Spalt in deiner Maske (so du sie trägst), während du im Supermarkt neben einer Person mit Grippe oder COVID-19 anstehst. Ein zufälliger Schreibfehler bei der Replikation deiner DNA während der Zellteilung, der zu einer bösartigen Mutation führt. Ein ungünstiger Aufprall bei einem Sturz. Eine infizierte Wunde. Ein Verkehrsunfall, ganz ohne eigene Schuld. Infektiöse Keime im Essen oder unbemerkte Giftstoffe in der Umwelt, in deiner Wohnung oder am Arbeitsplatz. Eine genetische Veranlagung, von der du nichts ahnst. Ein Aneurysma vielleicht. Du magst dich sicher fühlen, gesegnet, auserwählt, gefeit. Aber du bist es keineswegs. Dein Immunsystem ist nicht allmächtig, dein Körper nicht unverwundbar, der Zufall liebt dich nicht für immer. Und plötzlich stehst du unten am Fuß des Turms, brauchst eine langwierige Therapie mit eventuell unklarer Prognose oder siehst dich mit lebenslangen Folgen konfrontiert, und die Gesunden, Starken lachen auf dich herunter, verweigern dir die Behandlung, wollen dich als lästigen, mitgeschleppten Ballast zurücklassen, sprechen dir dein Recht auf Gesundheit oder ein Leben ohne Schmerzen ab. Selber schuld, werden sie sagen. »Stimmt nicht!«, möchtest du dann zurückrufen, ich bin doch einer von euch. Aber niemand von denen hört dir mehr zu.

Gesundheit ist ein Geschenk. Krankheit ist weder Schuld noch Strafe.
Und Älterwerden allein ist eigentlich gar nicht so schlimm.
 

Gesund geblieben? Schwein gehabt!

Destatis »Datenreport 2021«, Kapitel 9: Gesundheit – Gesundheitszustand der Bevölkerung

Wildsuppe mit dunkler Einbrenne nach Art von »Omas Ochsenschwanzsuppe«

Über das kürzliche lange Wochenende war ich gleich zweimal zu Gast im »Wirtshaus im Gut« in Wunsiedel und genoss dort als Vorspeise eine hervorragende Wildsuppe. Ich habe versucht, die Zutaten und die Zubereitung zu erschmecken, um zu versuchen, sie zu Hause nachzukochen. Heute hatte ich die Muße und Lust dazu, habe morgens auf dem Wochenmarkt und im Supermarkt alles Notwendige besorgt – und das Ergebnis kommt dem Original wunderbar nahe. Vom Aufwand und den feinen Zutaten her (die Pilzeinlage ist ein von mir hinzugefügtes Extra) ist es ein wahres Sonntagsessen – aber es lohnt sich.

Zutaten (für 3–4 Teller)

300 g Wildgulasch (z.B. Reh oder Wildschwein)
1 große Karotte*
1 mittelgroße Zwiebel
1 kleine Stange Lauch*
1 etwa mandarinengroßes Stück Knollensellerie*
3 EL Tomatenmark
200 ml Rotwein
1200 ml Wildfond aus dem Glas
1 Handvoll frische oder tiefgekühlte Waldpilze (z.B. Pfifferlinge oder Steinpilze)
neutrales Öl zum Braten und Gemüse-Rösten (z.B. Rapsöl)
4 schwarze Pfefferkörner
8 Pimentkörner
6 ganze Gewürznelken
1 Lorbeerblatt
Salz
Pfeffer aus der Mühle
60 ml Madeira oder Sherry
50 g Mehl
35 g Butter
1 El Balsamico
2–3 Zweige Petersilie*

(* = kann man auch im Bundle als Suppengrün kaufen)

Zubereitung (alles in allem dauert sie ca. 2½–3 Stunden)

Das Gemüse putzen und in ca. würfelzuckergroße Stücke schneiden. Mit etwas Öl vermengen, einlagig auf einem mit Backpapier belegten Blech verteilen und im vorgeheizten Backofen bei 220 °C etwa 20–30 Minuten anrösten, bis es deutliche dunkelbraune Stellen bekommt.

Derweil die Pilze putzen und fein würfeln. In einem großen Suppentopf mit etwas Öl oder Butter kurz anschmoren, rausnehmen und beiseitestellen. Ggf. Öl nachgießen und die Wildgulaschstücke im selben Topf scharf von allen Seiten braun anbraten. Ebenfalls herausnehmen und beiseitestellen.

Nochmals ggf. Öl nachgießen und das geröstete Gemüse in den Suppentopf geben. Mit dem Tomatenmark unter Rühren anrösten und mit dem Rotwein ablöschen. Hitze reduzieren und den Rotwein fast völlig einkochen lassen. Das gebratene Fleisch zugeben, mit dem Wildfond aufgießen und die Gewürze zugeben. Mit geschlossenem Deckel 45 Minuten leicht vor sich hin köcheln lassen, dann nochmal 15 Minuten mit geöffnetem Deckel simmernd einkochen lassen.

Das Fleisch aus der Suppe herauslesen und beiseitestellen. Die Suppe durch ein feines Sieb in einen kleineren Suppentopf gießen und das getränkte Gemüse im Sieb gut ausdrücken – es hat damit seine Schuldigkeit getan und kann in den Bioabfall.

In einem trockenen kleinen Topf bei mittelstarker Hitze das Mehl trocken unter ständigem Rühren erhitzen, bis es goldbraun wird (nicht anbrennen lassen!). Die Butter zugeben und unterrühren, bis eine streuselartige, aber homogene Masse entsteht. Zwei Kellen der durchgesiebten Suppe zugeben und mit einem Schneebesen glattrühren. Die entstandene Mehlschwitze zum Rest der Suppe zurückgießen und alles unter Rühren mit dem Schneebesen nochmals einige Minuten leicht aufkochen lassen. Den Sherry/Madeira zugeben und mit Salz, Pfeffer und Balsamico würzig abschmecken.

Das gekochte Wildfleisch in kleine Stücke schneiden, zusammen mit den angeschmorten Pilzen und der kleingehackten Petersilie in die heiße Suppe geben und unterrühren.

Hier der Link zum Rezept, das ich als Basis für meine Anpassung genommen habe

Da capo

Es ist Donnerstag, der 29. September. Ich sitze im ICE 587 auf der Strecke Hamburg – Nürnberg, um nach Umstieg und Weiterfahrt ein langes Wochenende über den 3. Oktober mit dem Mann im Fichtelgebirge zu verbringen. Mein DB-Reiseplan gewährt mir 10 Minuten Umsteigezeit in Nürnberg in den RE-Anschlusszug, aber ich weiß bereits jetzt, dass das nicht klappen wird, denn der ICE muss aufgrund einer technischen Störung in der Zugkoppelung langsamer fahren als geplant und daher hat er bereits 15 Minuten Verspätung. Ich bin ohne Groll, denn weitere Anschlusszüge ab Nürnberg fahren regelmäßig.

Wir erreichen den vorletzten Zwischenhalt Würzburg. Kurz nach der Weiterfahrt – ich kann aus dem Fenster den Bahnsteig und das Stationsschild des Ortsbahnhofs Rottendorf sehen – bleibt der Zug plötzlich stehen. Einige Minuten vergehen, dann erfolgt die Durchsage, dass auf der vor uns liegenden Strecke »Sicherheitsbedenken« für eine Weiterfahrt bestehen. Der ICE müsse ab hier eine Umleitungsstrecke nehmen und es käme zu einer weiteren Verzögerung von 40 bis 50 Minuten. Auch das nehme ich als regelmäßiger Bahnfahrer eher gleichmütig zur Kenntnis, als ein anderer Fahrgast nahebei zum Handy greift und mit deutlich im ganzen Wagen vernehmbarer Stimme zu telefonieren beginnt. Ich gebe den Inhalt des Telefonats aus dem Gedächtnis wieder und er wird daher zwangsläufig nicht 100% korrekt sein, aber darum geht es auch gar nicht, sondern um das Muster innerhalb seines Telefon-»Monologs«. Ich habe schon öfter bemerkt, dass einige Menschen dazu neigen, nach erfolgter Übermittlung ihrer Gesprächsbotschaft diese nochmals und nochmals mit leicht variierten Formulierungen zu wiederholen und ich frage mich, wieso die das machen. Man könnte mutmaßen, das Gegenüber bei dem nachfolgenden Telefonat sei hochbetagt und/oder vielleicht schwerhörig, vielleicht nicht mehr im Besitz der vollen geistigen Kapazitäten, aber ich war auch schon »Live-Zeuge« solcher da-capo-Monologe, bei denen der oder die Zuhörer*innen im besten Alter und geistig absolut rege schienen.

Es bleibt mir ein Rätsel.

»Hallo? Ja, ich bin’s. Du … ich bin hier im Zug nach Nürnberg und wir stehen gerade … Ja, ich weiß auch nicht, wieso. Ich wollte nur bescheid sagen, dass ich mich dann heute nicht mehr melde. Ich fahre direkt nach Hause. … Keine Ahnung, wie lange das dauert und wann ich dann ankomme. Ja … nee, das kann spät werden. Ok? … Ja, wie stehen hier immer noch. Eine Durchsage, wann es weitergeht, gab es noch nicht. … Hm … Ja, okay? Ich melde mich dann heute nicht mehr. Wisst Ihr Bescheid. … Ja.«

(Der Zug setzt sich auf einmal nach einer kurzen Durchsage des Zugchefs wieder in Bewegung)

»Ah, wir fahren wieder. Bis eben standen wir ja, aber jetzt fahren wir wieder. ›Und sie bewegt sich doch!‹, könnte man sagen, haha! Ja, jetzt fahren wir weiter. Aber ich komme wohl trotzdem dann erst spät abends an, heute. Wir hatten ja schon eine Viertelstunde Verspätung, das wird jetzt also noch später. … Ja. … Ich rufe dann nachher nicht mehr an, ne? Wer weiß, wann ich dann zu Hause bin. Sonst hätte ich mich ja nochmal gemeldet, aber so wird das dann zu spät. … Weißte Bescheid, ne? Das kann ja noch dauern hier, die Umleitung geht über Schweinfurt. Eine Stunde kommt dann ja bestimmt noch dazu. Und dann muss ich ja noch weiter bis nach Hause. … Ja. … Das wird bestimmt zehn oder später, da rufe ich dann lieber nicht mehr an, das ist ja dann auch für Euch zu spät. Ja. Wir fahren jetzt eine Umleitung über Schweinfurt weiter bis Nürnberg, eben gab es eine Durchsage. Nee, das macht keinen Sinn. Ich kann ja so spät nicht mehr anrufen. Wollte ich nur kurz Bescheid sagen, damit Ihr Euch nicht wundert. Ich bin ja dann erst weiß Gott wann zu Hause. … Nee. Ja … mal sehen, wann wir dann endlich ankommen. Aber zu spät ist das dann auf jeden Fall. … Gut. … Weißte Bescheid, ne? Nicht, dass Ihr wartet, dass ich noch anrufe. Wir sprechen dann später. … Ja. … Okay. Na, zumindest fahren wir wieder. Alles klar. … Also, nicht wundern. Ich fahre dann nach Hause und melde mich dann morgen. … Ja. … Okay, gut. Dann tschüs.«

Wir wollen mal hoffen, dass die Botschaft angekommen ist und verstanden wurde. Er hat dann übrigens abends nicht mehr angerufen. Es war ja auch schon ziemlich spät.

Aliens kidnapped my Pellkartoffelgabel

Ich habe mir vor einigen Tagen eine neue Digitalkamera gekauft. Anlass war ein Knipserlebnis während meines hier bereits erwähnten jüngsten Dänemarkurlaubs auf der Insel Fanø. Es gibt an der Südspitze der Insel eine Sandbank, auf der sich bei Ebbe Dutzende Seerobben räkeln. Wenn man als Inselbesucher*in den Gezeitenkalender hinzuzieht, kann man zeitlich passend den betreffenden Strand aufsuchen und zu Fuß noch etwa einen Kilometer bis in die Nähe dieser Sandbank laufen, um das regelmäßige Naturschauspiel zu betrachten. Die Robben räkeln sich dort nämlich nur deshalb in aller Seelenruhe, weil sie genau wissen, dass die neugierigen menschlichen Beobachter*innen nicht direkt bis zu ihnen vordringen können: ihre Sandbank bleibt nämlich trotz Ebbe durch eine recht tiefe Meerwasserfahrrinne vom Strand getrennt, so dass keine/r der Gezeitenbesucher*innen näher als etwa 100 Meter an sie herankommt. Ein paar sehr neugierige der Flossenfüßer wagen es bisweilen, sich von der Sandbank zu Wasser zu lassen und bis auf etwa 10 Meter ans »Menschenufer« heranzuschwimmen. Das gibt dann immer ein besonderes Hallo bei den Zweibeinern und ich bin sicher, wenn die Robben Smartphones oder Kameras hätten, würden sie sicher den einen oder anderen Schnappschuss von den Touristenscharen machen.

Umgekehrt passiert das natürlich reichlich. Fast jede/r der Robbenspotter*innen versucht mit dem Handy oder Fotoapparat die sonnenbadenden oder heranschwimmenden Tiere zu knipsen – so auch ich. Mein iPhone hat einen 2fachen optischen Zoom und so dachte ich, das würde ausreichen, um aus der gegebenen Entfernung einigermaßen scharfe Beweis- und Ergötzungsfotos zu erstellen. Doch leider liefert die Optik, so gut sie im Alltag für allerlei Knipsereien von nah und fern zu sein scheint, bei der anspruchsvolleren Robbenablichtung nur unzureichende Ergebnisse. Man erkennt zwar, was das Motiv zeigt, aber von detailreicher Abbildung kann keine Rede sein, es läuft auf unscharfe, sich im Sand sonnende Klumpen hinaus.

Sommer, Sonne, Sand und unscharfe Seehunde

Damit war ich unzufrieden und beschloss, mir für Reise und Urlaub nach etlichen Jahren erneut eine Digitalkamera zuzulegen, um künftig besser in die Ferne fotografieren zu können. Ein anständiges Zoomobjektiv sollte sie haben, von einem renommierten Hersteller sein und zudem handlich, klein und schön leicht, damit das zusätzlich mitgeführte Equipment bei Ausflügen nicht zur Last fällt. Nachdem ich online ein passendes und gut bewertetes Modell recherchiert hatte, galt es »nur noch« die derzeitigen Verfügbarkeitsimponderabilien aufgrund gestörter Lieferketten, mangelnder Lagerhaltung oder großer Nachfrage zu überkommen und alsbald – es war am 13. September – konnte ich die Kamera postalisch entgegennehmen. Zum unverzüglichen Einfriemeln und Vertrautmachen mit dem neuen Gerät gehörte neben der Lektüre der Bedienungsanleitung, dem Aufladen des Akkus und einigen ersten intuitiven Bedienungsversuchen auch das Einfädeln der mitgelieferten Trageschlaufe in die am Gerät befindliche, ins Gehäuse eingelassene Öse. Nach ein paar schweißtreibenden Dröselversuchen mit den bloßen Fingern merkte ich: so wird das nix, ich brauche ein spitzzinkiges Werkzeug. Da ich ohnehin am Küchentisch saß, wurde ich gleich in der Besteckschublade fündig: meine Pellkartoffelgabel mit ihren drei nadelspitzen Zinken schien mir dafür perfekt geeignet – und so war es auch. Nach dem gelungenen Einfädeln probierte ich noch etwas mit der Kamera herum und ging dann zu anderen Beschäftigungen, inklusive Haus- und Erwerbsarbeit über.

Als ich nach getaner Arbeit den Küchentisch aufräumen wollte, die Kamera und die Bedienungsanleitung verstauen, mein Laptop, tagsüber benutzte Trinkgefäße sowie Notizbuch und andere Arbeitsutensilien auf- und abzuräumen, fiel mir ein, dass ja auch die Pellkartoffelgabel wieder zurück in die Schublade gehörte. Aber sie war weg. Nicht auf dem Tisch, nicht unter dem Tisch. Nicht in der Besteckschublade, nicht in einer anderen Küchenschublade, nicht im Geschirrspüler, im Brotkorb, in der Laptoptasche, in der Kameraschublade, im Bedienungsanleitungsordner, im Mülleimer, auf dem Schuhschrank, im Bad, im Schlafzimmer, im Wohnzimmer. Nirgends. Verlor ich den Verstand? Hatte ich einen Filmriss? Besaß ich am Ende gar keine Pellkartoffelgabel und hatte nur mit einem Phantombesteck hantiert?

Ich zweifelte an meinem Geisteszustand und grübelte noch bis abends beim Fernsehen auf dem Sofa über das rätselhafte Verschwinden nach. Auf ZDFinfo lief eine Dokumentation, in der ganz normale Bürger*innen wie Du und ich in lebhaften Farben schilderten, wie sie UFOs begegnet waren. Einige der Interviewten waren nach eigenen Angaben sogar von Aliens entführt worden, mit Traktorstrahlen auf die Raumschiffe transportiert, in eine andere Galaxie auf einen fremden Planeten verschleppt und dort allerlei seltsamen und zum Teil unangenehmen Untersuchungen unterzogen worden. Vielleicht, dachte ich, entführen Aliens ja hinter unserem Rücken auch menschliche Gebrauchsgegenstände, um sie auf ihren Heimatplaneten zu untersuchen. Am hellichten Tag beamen sie mit unsichtbaren Traktorstrahlen Pellkartoffelgabeln, Eierschneider, Füllfederhalter, Tesaroller, Nagelfeilen, Knirschschienen, Nasenhaarschneider und andere kleinteilige Dinge unbemerkt, lautlos und am hellichten Tag in ihre Flugscheiben und hinterlassen ratlose Exemplare der Spezies homo sapiens, die noch tagelang in ihren Behausungen umherirren und vergeblich nach den gezeugnappten Utensilien suchen.

Die Irritation aufgrund des verschwundenen Dreizacks hielt noch einige Tage an, dann beschloss ich, sie hinter mir zu lassen. Aktuell hegte ich keine Pellkartoffel­zubereitungsabsichten und sobald sich welche abzeichnen sollten, würde ich eben in den sauren Neuanschaffungsapfel beißen müssen, so sonderbar es auch wäre.

Heute ist der 22. September. Wie an jedem Werktag beginnt meine Arbeitsroutine mit dem Herrichten des Homeofficearbeitsplatzes am Küchentisch und mit der Zubereitung eines Kaffees. Hafermilch kommt hinein, also muss umgerührt werden. Ich öffne zum Zwecke der Entnahme eines Teelöffels meine Besteckschublade und da liegt sie: meine Pellkartoffelgabel. Obenauf, nicht versteckt, verdeckt oder untergehoben. Es ist dieselbe Besteckschublade, die ich seit dem 13. September eigentlich täglich mehrmals benutzt habe, auch gestern abend noch. Das letzte Ausräumen des Geschirrspülers ist drei Tage her. Ich habe keine Kinder und keine Haustiere, hatte keinen Besuch (außer dem Mann, und der hatte während seiner Anwesenheit nachweislich weder Pellkartoffeln zubereitet noch Kamerahalteschlaufen eingefädelt) und Handwerker oder Einbrecher waren auch nicht hier. Und Einbrecher, die was bringen! Das ist ja noch unrealistischer als Aliens.

Die Entführungsopfer aus der UFO-Doku hatten genau dasselbe berichtet: dass sie nach ihrer Verschleppung bewusstlos an genau dem Ort abgelegt wurden bzw. erwachten, an dem sie sich unmittelbar vorher befanden. Okay, das trifft jetzt hier nicht exakt zu, denn die Gabel verschwand vom Küchentisch, wo sie benutzt wurde und tauchte neun Tage später in der Schublade, wo sie hingehört, wieder auf. Es sind also sehr nette Aliens, finde ich, sehr ordnungsliebend und hilfsbereit. Falls sie mal einen schmutzigen Teller kidnappen, würde mich wirklich brennend interessieren, ob sie ihn vielleicht sogar hinterher sauber abgewaschen wieder in den Geschirrschrank zurückteleportieren.
 

Bildmontage. Ausgangsmotiv via Dall-E mini / craiyon.com

Lass uns Fremde bleiben

Als ich neulich auf Twitter meine Follower nach Ideen für Blogbeiträge fragte, lautete eine der Rückmeldungen »Erworbene Misanthropie. Je mehr Menschen man kennt, desto weniger mag man.«

Ich habe lange über diese Anregung nachgedacht und ich denke, es ist einerseits etwas Wahres dran, aber andererseits auch nicht. Es ist natürlich unvermeidlich, dass man umso mehr Menschen wahrnimmt, auf sie trifft oder sie persönlich kennenlernt, je älter man wird. Und damit erhöht sich zwangsläufig auch die Anzahl der Menschen, die man nicht mag. Aber dass man manche Menschen nicht mag, andere aber schon – liegt das nur an den Menschen selbst – oder ebenfalls am eigenen höheren Lebensalter? Denn das Alter bringt ja nicht nur mit sich, dass die Zahl der Begegnungen mit Menschen stetig zunimmt, sondern auch die Erfahrungen, die man im Laufe des Lebens mit Menschen macht. Und aus den unangenehmen Erfahrungen kann man dann nach und nach ableiten, welchem »Schlag« Menschen man selbst künftig besser aus dem Wege zu gehen versucht bzw. mit Menschen welchen Charakters und welcher Gesinnung man sich fürderhin eher umgeben möchte. Das ist eine Erkenntnis, die man als junger Mensch per se noch gar nicht in dem Maße haben kann, weil das persönliche Dooffindraster ja noch in der Entstehung begriffen ist.

Im Alter wird man (zumindest ich) sich aber auch zunehmend der Endlichkeit des eigenen Lebens bewusst – und damit der Erkenntnis, dass die verbleibende Zeit im Kreise der existierenden Menschen begrenzt ist. Und damit kommen zwei Fragen auf: »Welchen dieser Menschen will ich überhaupt noch meine immer wertvoller werdende Zeit schenken?« bzw. »Für welche dieser Menschen ist mir meine begrenzte verbleibende Zeit schlicht zu schade?« Zwei Fragen, die ich mit zunehmendem Alter immer rigoroser beantworte, was dann dazu führt, dass Menschen, die ich ggf. einige Jahre zuvor schlimmstenfalls noch als »nervtötend« erduldet hätte, irgendwann in der Ausschlussgruppe landen. Lieber widme ich mich den Netten, den Gleichgesinnten, den Bereichernden, den Wohlwollenden, Amüsanten, den Erkenntnisbringenden, Lehrenden, Geliebten oder Seelenverwandten – und zwar, so lange ich noch kann.

Unsicher bin ich, ob der persönliche Prozentsatz doofgefundener Leute rein statistisch gegenüber früheren Zeiten derselbe geblieben ist. Bis in die 1970er Jahre konnte man nur die Leute doof finden, die man persönlich traf, von denen man in Büchern, Zeitungen oder Zeitschriften (Leserbriefe!) las oder die einem im Radio oder in den drei bis fünf ausgestrahlten öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern begegneten. Ab Mitte der 1980er Jahre kam dann das Privatfernsehen hinzu und damit ein nicht unbeträchtliches Potenzial zur Auffrischung der angewandten Misanthropie. Und dann, ab Mitte der 1990er Jahre, strömte schubweise nahezu die gesamte Menschheit ins Internet. Seit spätestens 2003 konnte theoretisch jeder technisch interessierte und bewanderte Nutzer online der ganzen Welt auf einer eigenen Website, einem Blog oder in den aufkommenden Sozialen Medien seine Ansichten und seinen Charakter offenlegen. Nie zuvor gab es ein größeres Potenzial, massenweise Menschen nicht zu mögen. Doch stieg mit den neuen sichtbaren Mitmenschen auch die Dooffindquote? Oder nahmen die Doofgefundenen bloß in absoluten Zahlen zu – und wurden damit präsenter? Ich habe keine Ahnung.

Es ist ja eigentlich auch gar nicht schlimm, wenn man einen Großteil der Menschen nicht mag oder unsympathisch findet. Fände man alle Leute super, sähe man sich dem Dilemma gegenüber, zeitlebens diejenigen daraus zu erkiesen, mit denen man sich gerne umgäbe. Unmöglich! Eine gesunde Misanthropie sorgt daher angenehmerweise für eine Erleichterung der Auslese, da man sich nur noch zwischen den übriggebliebenen netten Leuten entscheiden muss. Im Prinzip ist das Dooffinden anderer Menschen somit eine sehr nützliche Grundattitüde.

In einem Tweet hatte ich kürzlich grob ausgerechnet, wie viele Menschen übrigblieben, wenn man nur 1% der Weltbevölkerung nicht doof fände. Laut Wikipedia leben auf der Erde derzeit (2022) gut 7,95 Milliarden Menschen (7.950.000.000). Ein Prozent davon wären 79,5 Millionen (79.500.000). Wollte man jeden davon persönlich treffen, blieben ohne Schlaf-, Essens-, Trink- und Toilettenpause während einer gängigen Lebensspanne von gut 68 Jahren als heranwachsender und erwachsener Mensch dafür knapp 25 Sekunden Zeit pro Begegnung. Das lässt kaum Spielraum für tiefergehende Gespräche.

Man tut also gut daran, strenge Kriterien anzusetzen und den Kreis der nicht doofgefundenen Leute möglichst klein zu halten. Umso weniger Mühe macht dann darunter die Auswahl derjenigen, die man sich als Gefährten, Partner und Freunde auserwählt. Ich persönlich lege jedoch bei der anfänglichen Leutebeurteilung Wert auf die milderen Ausgangsformulierungen »doof finden« bzw. »nicht mögen«, die ich als Defaulteinstellung für die angewandte Misanthropie empfehlen möchte. Sollten sich einzelne Zeitgenoss*innen bei einer direkten Begegnung dann tatsächlich als echte Arschlöcher entpuppen, kann man nachträglich nach Bedarf natürlich Abscheu, Verachtung oder gar begründeten Hass bei der Einordnung nachtragen.

Wer sich damit schwer tut, Leute aus dem Bauch heraus doofzufinden, für den/die mag die folgende Liste hilfreich sein, mit der ich einmal versucht habe, hundert Gründe dafür zu finden, warum und welche Leute ich nicht mag. Einiges ist nicht ganz trennscharf, anderes vielleicht sogar doppelt, das meiste aber auf jeden Fall hochgradig subjektiv. Vielleicht findet ja der/die eine oder andere Leser*in sogar ein paar derselben Arten von Menschen doof wie ich.

Und das wäre dann eigentlich schon wieder fast ein Grund, einander zu mögen.


  1. Ich mag keine Menschen, die aggressiv sind.
  2. Ich mag keine Menschen, die ihre Interessen im Alltag mit Gewalt durchsetzen.
  3. Ich mag keine Menschen, die nicht zuhören können.
  4. Ich mag keine Menschen, die auf Waldspaziergängen oder in freier Natur laut Musik abspielen.
  5. Ich mag keine Menschen, die andere bestehlen oder betrügerisch abzocken.
  6. Ich mag keine Menschen, die Tiere quälen oder misshandeln.
  7. Ich mag keine Menschen, die immer nur von sich erzählen.
  8. Ich mag keine Menschen, denen Besitz wichtiger ist als immaterielle Werte.
  9. Ich mag keine Menschen, denen Profit und Rendite wichtiger sind als Ethik und Moral.
  10. Ich mag keine Menschen, die beim Sprechen spucken.
  11. Ich mag keine Menschen, die bewusst die Grenzen anderer übertreten.
  12. Ich mag keine Menschen, die andere verspotten, beleidigen, demütigen oder emotional verletzen.
  13. Ich mag keine Menschen, die sich bewusst vordrängeln.
  14. Ich mag keine Menschen, die bedenkenlos Müll und Zigarettenkippen wegwerfen.
  15. Ich mag keine Menschen, die »das Recht des Stärkeren« über alles stellen.
  16. Ich mag keine Menschen, die Minderheiten diskriminieren.
  17. Ich mag keine Menschen, die Unwissenheit bei anderen lächerlich machen.
  18. Ich mag keine Menschen, die nicht vergeben können.
  19. Ich mag keine Menschen, die nicht teilen, abgeben oder Nachfolgenden etwas übriglassen wollen.
  20. Ich mag keine Menschen, die ein »Nein« nicht akzeptieren können.
  21. Ich mag keine Menschen, die Meinungsfreiheit mit einem Widerspruchsverbot verwechseln.
  22. Ich mag keine Menschen, die den Klimawandel leugnen oder nachweisliche Falschbehauptungen darüber verbreiten.
  23. Ich mag keine Menschen, die seriöse Erkenntnisse der Wissenschaft abstreiten.
  24. Ich mag keine Menschen, die im Straßenverkehr nur auf ihre eigene Ansprüche pochen.
  25. Ich mag keine Menschen, die stets nur ihre Rechte einfordern, sich aber um ihre Pflichten drücken.
  26. Ich mag keine Menschen, die die BILD-Zeitung lesen und ernst nehmen.
  27. Ich mag keine Menschen, die von ihnen besuchte Orte oder Räume verdreckter hinterlassen, als sie sie vorgefunden haben.
  28. Ich mag keine Menschen, die glauben, ihr Geld gäbe ihnen das Recht, damit entlohnte Personen schlecht zu behandeln.
  29. Ich mag keine Menschen, die eigene Unzulänglichkeiten und Fehler bei sich übersehen, aber bei anderen lautstark kritisieren.
  30. Ich mag keine Menschen, die mir bewusst körperlich zu dicht auf die Pelle rücken.
  31. Ich mag keine Menschen, die nicht aufhören, mich in ein Gespräch zu verwickeln, nachdem ich ihnen signalisiert habe, dass ich kein Interesse an einer Unterhaltung habe.
  32. Ich mag keine Menschen, die glauben, ihr Hass sei eine Meinung.
  33. Ich mag keine Menschen, die nicht imstande sind, andere um Verzeihung zu bitten.
  34. Ich mag keine Menschen, die sich vor ihrer Verantwortung drücken, wenn sie nachweislich einen Fehler begangen haben.
  35. Ich mag keine Menschen, die denken, nur weil andere Gesetze, Moral und Anstand missachten, sei das eine Rechtfertigung für sie, dies ebenso tun zu dürfen.
  36. Ich mag keine Menschen, die nur nett zu mir sind, weil sie sich einen Vorteil oder eine Gunst von mir erhoffen.
  37. Ich mag keine Menschen, die andere aufgrund ihres Aussehens verachten oder niedermachen.
  38. Ich mag keine Menschen, die sich bewusst sexistisch oder rassistisch verhalten.
  39. Ich mag keine Menschen, die ihr Alter oder ihre Jugend zum Anlass nehmen, jüngere oder ältere Mitmenschen abzuwerten.
  40. Ich mag keine Menschen, die glauben, Kranke oder Behinderte seien »weniger wert« als sie selbst.
  41. Ich mag keine Menschen, die mich oder andere – wozu auch immer – missionieren wollen.
  42. Ich mag keine Menschen, die Gruppenzwang ausüben.
  43. Ich mag keine Menschen, die Exzessen frönen.
  44. Ich mag keine Menschen, die sinnlos und übermäßig Ressourcen verschwenden.
  45. Ich mag keine Menschen, die das Leistungsprinzip vergöttern.
  46. Ich mag keine Menschen, die es bewusst ignorieren, unter welchen Arbeitsbedingungen oder mit welchen Umweltfolgen für sie Waren hergestellt oder Dienstleistungen erbracht werden.
  47. Ich mag keine Menschen, die extremistischem Gedankengut anhängen, egal ob politisch oder religiös.
  48. Ich mag keine Menschen, die Kinder misshandeln oder missbrauchen.
  49. Ich mag keine Menschen, die sich für die Todesstrafe aussprechen.
  50. Ich mag keine Menschen, die anderen absprechen, selbstbestimmt über ihre Identität und Sexualität zu entscheiden.
  51. Ich mag keine Menschen, die glauben, Freiheit könne ohne Rücksicht und Respekt existieren.
  52. Ich mag keine Menschen, die die Demokratie zerstören oder abschaffen wollen.
  53. Ich mag keine Menschen, die bewusst Kriege oder Konflikte anzetteln.
  54. Ich mag keine Menschen, die wissentlich Verbrechen vertuschen.
  55. Ich mag keine Menschen, die andere körperlich verletzen oder gar töten.
  56. Ich mag keine Menschen, die alles pauschal in »Schubladen« packen.
  57. Ich mag keine Menschen, die die Gesellschaft bewusst spalten und darauf hinwirken, dass »Grabenkämpfe« entstehen.
  58. Ich mag keine Menschen, die gegen die Gleichberechtigung von Frauen handeln und reden.
  59. Ich mag keine Menschen, die glauben, man müsse Kinder nicht ernst nehmen.
  60. Ich mag keine Menschen, die glauben, wer arm, krank oder ohne Arbeit ist, sei »selber schuld«.
  61. Ich mag keine Menschen, die zur Naherholung in der Natur immer bis auf den letzten Meter mit dem Auto fahren müssen.
  62. Ich mag keine Menschen, die in Städten oder Ortschaften an öffentlich zugänglichen Stellen ihre Ausscheidungen hinterlassen.
  63. Ich mag keine Menschen, die in der Gegend rumrotzen, andere anniesen oder anhusten.
  64. Ich mag keine Menschen, die der Ansicht sind, Höflichkeit sei überflüssig.
  65. Ich mag keine Menschen, die glauben, man könne sich allein durch Anschreien Recht oder Respekt verschaffen.
  66. Ich mag keine Menschen, die glauben, ihre Herkunft wäre mit irgendeiner Art von Überlegenheit verbunden.
  67. Ich mag keine Menschen, die humorlos sind.
  68. Ich mag keine Menschen, die nicht auch mal über sich selbst lachen können.
  69. Ich mag keine Menschen, die glauben, Einsicht, Reue, Selbstreflexion oder Zweifel seien Zeichen von Schwäche.
  70. Ich mag keine Menschen, die sich eigennützig oder unbedacht Tiere oder Kinder »anschaffen«, ohne sich die Konsequenzen dieses Schrittes oder ihre Verantwortung gegenüber diesem Lebewesen bewusst zu machen.
  71. Ich mag keine Menschen, die arrogant sind.
  72. Ich mag keine Menschen, die in vertrauter Gesellschaft nicht auch mal bewusst gemeinsam schweigen können.
  73. Ich mag keine Menschen, die aufgrund ihres hohen Alters bewusst danach handeln, dass ihnen die Zukunft der Erde und nachfolgender Generationen gleichgültig ist.
  74. Ich mag keine Menschen, die über andere hinter deren Rücken abfällig reden, aber in deren Anwesenheit sie Freundlichkeit vortäuschen.
  75. Ich mag keine Menschen, die von mir verlangen oder erwarten, dass ich blind für sie Partei ergreife, wenn sie über Dritte abfällig reden.
  76. Ich mag keine Menschen, die die Position eines Vorgesetzten innehaben, sich aber keinerlei bewusste Gedanken über gute Führungskultur machen.
  77. Ich mag keine Menschen, die mich kontrollieren oder nach ihrem Willen manipulieren wollen.
  78. Ich mag keine Menschen, die bi-, trans-, inter- oder homophob sind (siehe auch Punkt 50).
  79. Ich mag keine Menschen, die an einen Gott glauben, der die Menschen für was auch immer bestrafen würde.
  80. Ich mag keine Menschen, die nicht akzeptieren, dass ich Atheist bin.
  81. Ich mag keine Menschen, die nur Opfer bringen, um dafür Dank oder Gegenleistungen einfordern zu können.
  82. Ich mag keine Menschen, die geizig um des Geizes willen sind.
  83. Ich mag keine Menschen, die anderen das Recht absprechen, selbst über ihren eigenen Körper zu entscheiden.
  84. Ich mag keine Menschen, bei denen »bitte« und »danke« nicht zum aktiven Wortschatz zählen (siehe auch Punkt 64).
  85. Ich mag keine Menschen, die sich in Räumen und an Orten mit entsprechenden gültigen Infektionsschutzvorschriften weigern, zugunsten anderer eine Maske zu tragen.
  86. Ich mag keine Menschen, die auf Autobahnen rasen oder mit sonstigen Verhaltensweisen im Straßenverkehr offenbaren, dass ihnen §1 der StVO entweder komplett unbekannt oder scheißegal ist.
  87. Ich mag keine Menschen, die blind an Autoritäten glauben.
  88. Ich mag keine Menschen, die sich an Orten mit Sitzgelegenheiten absichtlich physisch »breiter machen«, um anderen den Platz zu verwehren.
  89. Ich mag keine Menschen, die den Faschismus verharmlosen oder den Holocaust leugnen.
  90. Ich mag keine Nazis.
  91. Ich mag keine Menschen, die es gezielt ausnutzen, dass andere von ihnen abhängig sind – egal, ob materiell, sozial oder emotional.
  92. Ich mag keine Menschen, die glauben, sie seien der Nabel der Welt und alle müssten nach ihrer Pfeife tanzen.
  93. Ich mag keine Menschen, die medizinisches Personal oder Rettungs- und Pflegekräfte attackieren.
  94. Ich mag keine Menschen, die oberflächlich sind und sich z.B. nur über Kleidung und Aussehen definieren.
  95. Ich mag keine Menschen, die zurück wollen zu einem nationalistischen Europa statt weiterhin an einem demokratischen, solidarischen und geeinten europäischen Kontinent mit freiem Grenzverkehr zu arbeiten.
  96. Ich mag keine Menschen, die meinen, »wahrer« Urlaub sei nur mit einer Flugreise oder einer Kreuzfahrt möglich.
  97. Ich mag keine Menschen, deren Auffassung von Status allein auf Karriereerfolgen, der beruflichen Position oder den mit Lohnarbeit verbrachten Stunden beruht.
  98. Ich mag keine Menschen, die »Verschwörungstheorien« fördern und weiterverbreiten oder andere in ihre Gedankenstrudel mit hineinziehen wollen.
  99. Ich mag keine Menschen, die mir mit Hass begegnen, weil ich diese Liste verfasst habe und sie sich darin wiedergefunden haben.
  100. Ich mag keine Menschen, die nicht daran glauben, dass eine Welt möglich ist, in der diese Liste deutlich kürzer sein könnte.

Wenn aus Zuneigung Abneigung wird. | Foto: © formschub

Mikrokicks und Tiefgier

Während ich diesen Beitrag schreibe, befinde ich mich gerade für zwei Wochen im Urlaub in Dänemark. Die erste Woche verbrachte ich am schönen Limfjord. Letzten Samstag erfolgte dann ein »Umzug« auf die kleine Insel Fanø nördlich von Sylt. Fanø ist recht klein, gerade mal 15,7 km lang und 5,3 km breit und hat rund 3.500 Einwohner, der feine, ebene Sandstrand an der Westküste ist bis zu einem Kilometer breit.

Das Ferienhaus am Limfjord hatte riesige Fenster. Fast die gesamte Westseite des geräumigen Wohnzimmers war eine einzige Fensterfront mit Blick über eine zum Garten gehörende Blumenwiese auf das Wasser des Sallingsund und dahinter auf die Insel Mors. Jeden Abend konnte man vom Wohnzimmer aus den Sonnenuntergang verfolgen und jeden Abend sah er anders aus. Mal war der Himmel wolkenlos und bestand nach dem Versinken der Sonne ausschließlich aus einem zarten Verlauf von Orange über Gelb zu Blau (wobei ich mich immer frage, wie das geht, in der Mitte das Grün als eigentlich logische Mischfarbe auszulassen), mal überspannten flammend rot gesäumte, langgestreckte violette Dramawolken die Meerenge. Ich hatte schon einige Wochen zuvor bei einem längeren Aufenthalt im Havelland während des abendlichen Feierabendausklangs im Innenhof der dortigen Unterkunft bemerkt, dass der Himmel jeden Abend anders aussah. Anderes Licht, unterschiedlich viele Wolken in verschiedensten Formen, andere Farben, andere Stimmung. Ich dachte noch, beim nächsten Mal nehme ich eine kleine Zeitrafferkamera mit, stelle die gleich am ersten Tag auf einem Stativ nach oben gerichtet auf, lasse sie die ganze Zeit meines Aufenthaltes über alle zehn Minuten ein Bild knipsen und schaue mir dann hinterher das Video an, das müsste atemberaubend schön aussehen. Schon vor über 10 Jahren hatte ich hier im Blog schon mal vier sehr verschiedene Fotos desselben Meeresblicks auf Bornholm gepostet. Ich finde es faszinierend, wie ein Ort allein durch Licht, Wetter, Farbe und Zeit total verändert erscheinen kann.

Gestern Nachmittag dann machte ich eine erste kleine Wanderung durch einen Kiefernwald in den Dünen Fanøs. Die karg wirkende, sandige Heidelandschaft besteht auf den ersten Blick kilometerweit fast nur aus Kiefern, Birken, Heidekraut, Moos und trockenen Gräsern. Doch als ich meinen Blick beim Gehen auf die Details der Vegetation zu meinen Füßen richtete, wurde eine bemerkenswerte Vielfalt sichtbar: es gab verschiedene Sorten Heidekraut, mit unterschiedlich voluminösen Blüten in verschiedenen Rosa- und Purpurtönen, im Gras versteckt leuchteten winzige kleine vierblättrige gelbe Blumen, daneben etwas wie Mini-Kornblumen, mit kaum einem Zentimeter großen leuchtendblauen zottigen Kelchen. Es wuchsen fahlgrüne Puschel von Strauchflechten am Boden und an einer Stelle fanden sich zwischen Gras und Binsen sogar zahlreiche rotgrüne Sterne glitzernd lockstoffbetropfter Sonnentaupflanzen. Die vermeintliche Eintönigkeit der Landschaft löste sich in bunte Vielfalt auf, ich musste ihr nur Zeit und Aufmerksamkeit widmen.

Ich denke dann immer: bin ich langweilig? Ein Lieblingswort von Off-Sprechern in Naturdokus ist »spektakulär«. Es kommt beim Publikum offenbar gut an, wenn etwas spektakulär ist, groß, imposant, beeindruckend, gewaltig, anders, ungewöhnlich. Sicher, auch mich faszinieren Riesenwellen, Vulkanausbrüche, Steilküsten, Schluchten und Canyons. Aber genauso interessant sind doch die kleinen, wunderschönen, stillen Dinge. Und sie sind meiner Meinung nach unendlich zahlreicher. Wenn Menschen nach ihren Hobbys und Freizeitbeschäftigungen gefragt werden, antworten manche: Fallschirmspringen, Bergsteigen, Paragliding, Bungeejumping, Wellenreiten. Sie suchen nach dem »Kick«, dem Besonderen, möchten Action, Adrenalin, Herzklopfen. Oder Leute sagen, sie bräuchten Abwechslung, mal ganz was Anderes. Ich frage mich dann oft, wie genau die Menschen überhaupt hinsehen, wenn sie dann dem ganz Neuen gegenüberstehen. Reicht es ihnen, in der Umgebung eine zeitlang eine fremde Sprache zu hören, mal anderes Essen auf dem Teller zu haben, für eine Weile aus dem Auto oder im Vorbeiwandern von weitem ungewohnte Landschaften zu betrachten, ein paar Erinnerungsfotos zu schießen und dann meinen, alles Sehenswerte gesehen zu haben? Wie viele sehen genauer hin? Ist das Neue um des Neuen willen wirklich etwas Neues?

Das gilt nicht nur für Reisen. Ich liebe z.B. den Geschmack von Walderdbeeren. Und gerade deshalb bin ich meist wenig begeistert, wenn im Frühsommer die Erdbeersaison im Einzelhandel beginnt. Dann gibt es zwar »Erdbeeren« zu kaufen, knallrot, groß und saftig, aber der Geschmack ist für mich zumeist enttäuschend: wässrig, zu sauer, wenig aromatisch. Doch diesen Sommer gab es an einigen Ständen Erdbeeren zu kaufen, die einen Namen hatten: »Malwina«. Eine Erdbeersorte, die mir erstmals einen Genuss verschaffte, der an Walderdbeeren erinnert. Und dann frage ich mich: warum interessieren sich Kunden offenbar nur bei einigen Öbsten und Gemüsen für »Sorten«? Man kennt Kartoffelsorten – Linda, Annabelle oder Gala – und vielleicht kaufen einige Kunden diese auch gezielt ein, aufgrund ihres Geschmacks oder ihrer Kocheigenschaften. Sehr vertraut sind die Apfelsorten – Gravensteiner, Granny Smith, Cox Orange, Elstar, Boskop, Golden Delicious, Braeburn oder Jonagold und bestimmt hat fast jeder Apfelliebhaber seinen persönlichen Favoriten. In den meisten Supermärkten kann man zwischen verschiedenen Tomatensorten wählen, im Herbst locken verschiedene Kürbissorten. Aber warum besteht kein Interesse an Gurkensorten, Spinatsorten, Auberginensorten, Paprikasorten, Porreesorten, Zwiebelsorten, Zitronensorten? Ich hätte großes Vergnügen daran, die feinen Unterschiede zu schmecken und beim Kochen auszuprobieren. In einer Dokumentation über Peru lernte ich, dass es dort 50 verschiedene Maissorten gibt (und 3.000 verschiedene endemische Kartoffelsorten!). Sicher sind auch exotische »Trendfrüchte« und -Gemüse wie Yuzu, Pitahaya, Salak, Taro, Acai, Aronia und Goji nicht uninteressant. Aber mein Kick sind Nuancen, Varianten meine Abwechslung!

Bis vor etwa zehn Jahren war es auch völlig normal, dass zwar beim Wein feinste Unterscheidungen gemacht wurden, beim Bier jedoch waren allenfalls Pilsener, Lager, Alt, Kölsch, Weizen, Stout, Porter und Bayerisch Hell oder Dunkel bekannt. Seit dem Aufkommen der »Craft Biere« etwa um das Jahr 2010 erobern sich immer mehr neue und alte, sowohl traditionelle als auch experimentelle Biersorten die Zapfhähne und ich finde das großartig. Gleiches gilt für Kaffee. Noch nie gab es so viele kleine Kaffeeröstereien wie jetzt, die Herkunft, Sorte und Röstung der Kaffeesorten bieten eine unglaubliche Geschmacksvielfalt. Und seit ich selber regelmäßig Brot backe, habe ich große Freude daran, fast jede Woche neue Rezepte mit anderen Mehlen, Zutaten oder Zubereitungsarten auszuprobieren.

Fern halte ich mich hingegen von den kultartigen Auswüchsen, die manche der begrüßenswerten Vielfalt-Trends mit sich bringen. Beim Kaffee etwa sind dies der Hype um Baristas in Coffeeshops, die Kunstform »Latte Art« oder die geradezu explodierenden Sparten des Berufsbildes »Sommelier« – es gibt inzwischen nicht nur Wein- und Käsesommeliers, sondern auch Bier-, Brot-, Sake-, Gin-, Fleisch-, Fisch- und sogar Wassersommeliers. Mich hatte mal jemand gefragt, als ich ihm gegenüber von einigen meiner liebsten Weinsorten schwärmte, ob ich ein Weinkenner sei und ich antwortete, ich kenne viele Weine und wenn mir einer schmeckt, ist das für mich ein guter Wein. Die Freude am Ausprobieren und die persönliche Wahrnehmung, Einordnung und Bewertung der Sinneseindrücke sind das, was mir wichtig ist und was mich inspiriert. Was mir nicht gefällt oder schmeckt, ist nicht weiter interessant für mich und was medial angesagt ist oder hochgelobt wird, muss mir nicht automatisch gefallen. Wenn ich erstmals in einem neuen Restaurant esse, wähle ich aus der Karte entweder etwas, was ich noch nie probiert habe oder etwas, was ich schon Dutzende Male gegessen habe, um zu schmecken, wie speziell dieses Lokal dieses vertraute Gericht interpretiert. Auf diese Weise bin ich einerseits z.B. mit Nattō (–), Bries (±), geräucherten Miesmuscheln (+) und Ceviche (+) in Kontakt gekommen und andererseits zu der Auffassung, dass (zumindest in Deutschland) das Straciatella-Eis die Visitenkarte einer guten Eisdiele und die Wan-Tan-Suppe diejenige eines guten China-Restaurants ist. Man kann bei Rezepten aus ganz wenigen Zutaten unglaublich viel falsch machen und es sind die simplen Gerichte, die solche Fehler am schonungslosesten offenbaren. Wenn ich in einem anderen Land Urlaub mache, streife ich am liebsten ausgiebig durch lokale Lebensmittelgeschäfte oder Supermärkte. Was ist mir vertraut? Was kenne ich, aber anders? Was habe ich noch nie gesehen? Warum gibt es das nur hier und nicht auch woanders? Wie schmeckt das?

Ich dachte oft, ich sei »neugierig«, aber das trifft es nur zum Teil. Denn ich interessiere mich eben nicht nur für das komplett Neue, sondern für die unzähligen Details, Schattierungen und Unterschiede des schon Bekannten. Ich mag es, mir die Welt wie ein Apfelmännchen anzuschauen, je genauer ich hinschaue, je tiefer ich eindringe, desto mehr kann ich entdecken. Das gilt für Reisen, Essen, Trinken, Wandern, Kunst, Musik – für alles. Vielleicht bin ich ja nicht neugierig, sondern tiefgierig.

Knospenmeditation

»Je dois peut-être aux fleurs d’avoir été peintre.«
»Vielleicht verdanke ich es den Blumen, dass ich Maler geworden bin.«

(Claude Monet)

Auf meinem Balkon wächst dieses Jahr eine der Zucchini verwandte Pflanze, ein sogenannter »Melonenkürbis«. Ich hatte 2021 eine dieser in Osteuropa beliebten Früchte, geerntet im Garten seiner Eltern, von einem Freund geschenkt bekommen und die Samen entnommen und getrocknet. Sie wird wohl keine Früchte ausbilden, denn die beiden anderen Pflanzen daneben, die ich zwecks Bestäubung mit ausgesät hatte, sind eher kümmerlich geraten und entwickeln sich nicht mehr nennenswert weiter. Diese eine aber wächst und gedeiht und hat sogar einige schöne Blüten ausgebildet. Die Knospen sind wunderschön gezwirbelt (siehe Bild 1) und entfalten sich jeweils nur für einen einzigen Tag zu einem leuchtend orangegelben Stern, ehe sie wieder in sich zusammenfallen.

Die Natur gibt sich ja generell optisch ziemlich viel Mühe mit allem, was sie so hervorbringt – gerade und insbesondere bei blühenden Pflanzen. Dabei ist es ihr auch egal, wie lange die Schönheit andauert. Man könnte fast meinen, sie ist eine Perfektionistin. Schon vor dem Erblühen gibt es zahllose kreative Knospenformen, in denen Blütenblätter auf ihre Entfaltung warten: geschraubt (Bild 2), korbförmig (Bild 3 und 7), umeinandergewickelt (Bild 4), übereinandergeschichtet (Bild 5) oder tütenförmig gefaltet (Bild 6). Man könnte meinen, der Natur nachzueifern würde bedeuten, sich immerzu und jedesmal etwas tolles Neues einfallen lassen zu müssen. Alles muss wohlgeformt sein, makellos, harmonisch strukturiert. Wenn man aber genau hinschaut, gibt es auch Knospen, deren Innenleben ziemlich dahingeschludert wirkt, zum Beispiel bei der Mohnblume (Bild 9). Wie eine zerknüllte Brötchentüte wirken die roten Blütenblätter, ohne Form und Struktur in die haarige Hülle gestopft, als ob die Natur keinen Bock mehr hatte und dachte »Meh, Vielfalt hin, Perfektionismus her, ich lass’ das jetzt so.« Und trotzdem sind auch diese Knospen wunderschön. Vielleicht ist es das, was man von der Natur lernen kann: Perfekte Dinge müssen nicht makellos und fehlerfrei sein. Es reicht völlig, wenn man in ihnen etwas Schönes erkennen kann.