Ich stehe in Hamburg Hauptbahnhof an einem Bahngleis. Der gesamte Bahnsteig ist schwarz vor Menschen. Ein Zug fährt ein und die aus den Türen quellende Menge an Passagieren versucht sich einen Weg durch die wartenden Fahrgäste zu den Ausgängen oder Anschlussgleisen zu bahnen. Sicherheitspersonal der Bahn weist die Menschen darauf hin, doch bitte die schraffierte Sicherheitszone an der Bahnsteigkante freizuhalten. Manchmal klappt das, manchmal schwappt die Menschenmenge wie zur Seite geschobener Pudding gleich nach dem Abgang der Security wieder zurück vor die weiße Linie. Ein ICE fährt im Schrittempo an uns vorbei und verschafft sich deutlich nachhaltiger Abstand und Respekt durch ein gellendes Hornsignal. Für meinen Zug wurden erst 5 Minuten Verspätung angekündigt, dann 15. Inzwischen ist seit 20 Minuten noch kein Zug zu sehen und keine Ansage gibt ein Update. Ein Gleiswechsel für einen anderen Regionalzug wird durchgesagt. Auf der elektronischen Anzeigetafel rutscht die Meldung für den ersatzlosen Ausfall eines weiteren Regionalzuges nach oben ins Blickfeld. Ein paar Teenager haben es sich auf dem Asphalt neben ihrem Gepäck niedergelassen und vertreiben sich die Zeit mit ihren Smartphones.
Endlich wird »mein« Zug angesagt, 25 Minuten später als geplant. Langsam fährt der »Metronom« ein. Es ist ein Pendelzug, der unentwegt zwischen zwei Regionalbahnhöfen pendelt. Die Verspätung sei begründet in »Verzögerungen aus vorhergehender Fahrt«, heißt es. Der Zug hält, die Türen öffnen sich (glücklicherweise eine davon direkt vor mir) und die Passagiere ergießen sich auf den vollen Bahnsteig. Ungeduldig warten die neuen Fahrgäste seitlich der Türöffnungen auf das Versiegen der aussteigenden Menge Reisender, dann werden Wagen, Abteile und Gänge sofort wieder in Beschlag genommen. Ich bekomme einen Einzelsitzplatz im oberen Deck, die meisten Reisenden sind offenbar zu mehreren unterwegs und möchten gerne zusammen sitzen. Ich habe nicht viel Gepäck, deshalb bin ich nicht auf die völlig unterdimensionierten »Gepäckablagen« über den Sitzen angewiesen. Der Zugführer ermahnt die Fahrgäste per Durchsage, zurückzutreten und nicht fortwährend ihre Köpfe aus den Türen zu stecken, man wolle nun gerne möglichst umgehend abfahren. Ein Schwatzen und Lärmen liegt in der Luft. Irgendwo weint ein Kind, eine Spieluhr wird aktiviert, »Schlaf, Kindchen schlaf« klingelt hell durch den Wagen. Bei jedem Halt kommt Bewegung in die Menge, Menschen stehen auf, kommen durch, wollen raus, machen Platz. Erneute Durchsage des Zugführers, gleiches Thema wie vorhin, nur eine Spur bestimmter in der Tonlage. Gleich danach formuliert eine weibliche Zugbegleiterin dieselbe Bitte nach zügigem Aus- und Zustieg und Freihalten der Türöffnungen noch mal etwas freundlicher, so als würde Mama noch mal sanfter formulieren, was Papa zuvor kommandiert hat. Der Zug hat nun rund 30 Minuten Verspätung, die Hoffnung auf meinen Umstieg an meiner Zwischenstation innerhalb der fahrplanmäßig veranschlagten 5 Minuten habe ich bereits in Hamburg am Hauptbahnhof fahren lassen. Ich habe keine Termine, bin nicht auf pünktliches Ankommen angewiesen. Mein Laptop habe ich im Rucksack dabei, ich kann beim Fahren oder beim Warten an Unterwegsbahnhöfen arbeiten, glücklicherweise ist im Büro ein wenig »Sommerloch« und es gibt nur wenige, größtenteils entspannte Deadlines für meine Projekte.
Wir erreichen den Zielbahnhof dieses Zuges, Uelzen. Ein Bahnhof mit einer sonderbaren Gleisnummerierung und sehr schmalen Bahnsteigen, an denen nur einseitig Züge halten, die andere Seite wird durch ein Metallgitter begrenzt. Wir fahren an Bahnsteig 302 ein, für mich geht es weiter an Gleis 304. Alle Fahrgäste müssen gleichzeitig den Zug verlassen, der Bahnsteig ächzt förmlich unter der Last der aussteigenden Menschen. Selbst bei pünktlicher Ankunft hätte ich nie im Leben innerhalb von 5 Minuten mein Anschlussgleis erreicht, das wird mir nun klar. Egal. Ich habe mich bereits unterwegs informiert – 30 Minuten später fährt bereits der nächste Regionalzug, mit dem ich meine Reise fortsetzen kann. Ich folge der Bewegung der Menschenmenge langsam in Richtung der einzigen schmalen Treppe, die zu den anderen Gleisen und zum Ausgang führt. Manche Reisende führen monströs große Rollkoffer mit sich, neben denen sie fast winzig wirken, angesichts des engen Abgangs ohne Rolltreppe verschattet sich ihre Miene. An meinem Anschlussgleis warten deutlich weniger Menschen, die Weiterfahrt scheint etwas entspannter zu werden. Als der Zug einfährt, bekommen fast alle Fahrgäste einen Sitzplatz. An einem Vierertisch kommen einander fremde Reisende ins Gespräch. Einer hat ein Laptop dabei, die Kameralinse ist abgeklebt, er gibt seinen Sitznachbarn anhand der Bahn-Website Hinweise für die Fortsetzung ihrer Reise. Im hinteren Teil des Wagens schreit ein Kleinkind, laut, unentwegt, zornig und in sehr hochfrequenten Tönen. Ich hole meine Noise-Cancelling-Ohrhörer heraus und dämpfe so den Trubel, zumindest ein wenig. Die Schar der Passagiere ist bunt gemischt: Familien, Alleinreisende, Senioren, verschiedenste Hautfarben, von elegant über casual bis leicht abgetragen gekleidet. Eine Zugbegleiterin kontrolliert die Fahrscheine. Der Zug fährt pünktlich weiter von Station zu Station, mit der geringeren Anzahl an Fahrgästen reduzieren sich die Verzögerungen bei den Zwischenhalten. Ich muss nun noch ein weiteres Mal umsteigen, diesmal allerdings mit einer Wartezeit von 90 Minuten, denn der letzte Teilzug verkehrt nur alle zwei Stunden, ohne die Verspätung des ersten Zuges hätte ich nur 30 Minuten zu warten gehabt.
Am letzten Zwischenhalt, Stendal, hole ich mir im Kiosk in der Bahnhofshalle ein »Warte-Eis«. Ich setze mich auf eine metallene Sitzreihe am nahegelegenen Busbahnhof und warte auf die Bereitstellung meines letzten Anschlusszuges. Mit dem Eis, dem Beobachten der Menschen um mich herum und etwas Arbeit am Computer vergeht die Zeit vergleichsweise schnell, der erwartete Zug fährt bereits 30 Minuten vor Abfahrt hinter mir am Gleis ein. Ich suche mir im fast leeren Wagen einen Sitzplatz und setze meine Arbeit fort. Nach und nach füllt sich auch dieser Zug, die Menschen wirken nun eher so, als lebten sie hier in der Gegend und nutzten den Zug zum Pendeln, Einkaufen, einander besuchen. Erneut ist die Abfahrt pünktlich, ich erreiche mein Ziel, Rathenow, um 18:55 Uhr, eine Stunde später als anfangs geplant. Der Mann holt mich am Bahnhof ab.
Ein großer Teil der oben geschilderten Ereignisse, Abläufe und Beobachtungen auf meiner Reise besteht aus ungeplanten Zwischenfällen, Verzögerungen, Beeinträchtigungen. Bin ich deshalb genervt oder sauer? Auf die Bahn oder auf die Fahrgäste? Nein. Ich habe das 9-Euro-Ticket genutzt, wie vermutlich die meisten anderen meiner Mitreisenden. Wäre dieselbe Verbindung eine Fernverbindung zum »Normalpreis« gewesen, hätte ich der Bahn einen nicht unerheblichen Geldbetrag in Erwartung der Erbringung einer möglichst reibungslosen Beförderungsleistung übergeben. Dann wäre ich genervt von Verspätungen, Änderungen, verpassten Anschlüssen. Das 9-Euro-Ticket hingegen kostet zwar immer noch Geld, aber eigentlich ist es ein Geschenk. Ein Geschenk an sehr sehr viele Leute, die sich bislang solche Reisen tatsächlich nicht leisten konnten oder die Bahn als Verkehrsmittel für sich schlicht nicht »auf dem Schirm« hatten. Sie alle können sich nun alternativ fortbewegen, frei nach eigenem Ermessen und auch auf längeren Strecken, ohne eigenen Pkw. Sie können eine Reise machen, einfach zur Erholung oder um nahestehende Menschen zu besuchen, sie können Urlaub machen, am Leben und an mehr Mobilität teilhaben. Sicher, wenn man am Ziel seiner 9-Euro-Fahrt einen wichtigen feststehenden Termin hat, das Ticket zum möglichst pünktlichen Pendeln zur Arbeitsstätte nutzt, oder spät abends unterwegs irgendwo unerwartet »strandet«, hat man allen Grund, sich darüber zu ärgern und wird vielleicht beim nächsten Anlass wieder gezwungenermaßen auf das verlässlichere Verkehrsmittel Auto ausweichen (sofern es auf der Route keine Staus gibt). Aber das Gros der Fahrgäste profitiert von diesem Geschenk. Und über Geschenke regt man sich eigentlich nicht auf. Für die Bahn und alle Verkehrsträger sollte, ja, muss dieses Experiment ein Ansporn sein. Ein Ansporn, Kapazitäten, Infrastruktur, Verbindungen und Angebote in bisher ungekanntem Maße auszubauen und zu verbessern. Vermutlich wird das 9-Euro-Ticket nicht zu denselben Konditionen fortgesetzt, es wird teurer werden, hoffentlich mit einem gestaffelten Tarif- und/oder Gültigkeitssystem, das dann nicht »zurückfällt« und finanziell schlechter Gestellte wieder wie zuvor benachteiligt oder ausschließt. Ich hoffe darauf. Und für mich ist nach einigen Fahrten das 9-Euro-Ticket ein Ereignis, das ich eigentlich noch eher als ein »Sommermärchen« bezeichnen würde als damals die Fußball-WM 2006.