Minst 10 skäl att resa till Sverige (3)

#03 Die vielen Seen

Kurz nach dem Verlassen der Autofähre im Hafen Göteborgs, während der Weiterfahrt Richtung Karlskrona, sagte ich noch bei der ersten Sichtung eines Sees am Wegesrand »Oh, guck mal – ein See!«. Ebenso beim nächsten und übernächsten. Danach wurde es dann müßig, denn wir fuhren alle Naselang an einem weiteren See vorüber – kleine Seen, große Seen, von Wald gesäumt, inmitten von Wiesen, mit großen Granitfindlingen am Ufer, mit Schilfgürtel, mit flachem sandigem Strand, klare Seen, trübgraugrüne Seen … Seen, Seen, Seen.

Will man die Anzahl der schwedischen Seen benennen, muss man zunächst definieren, ab welcher Fläche ein Gewässer als »See« gezählt werden soll. Nach wissenschaftlichen Schätzungen gibt es in Schweden 95.795 Gewässer mit einer Fläche von mehr als einem Hektar (10.000 m²). Lässt man alles bis 1.000 m² gelten, sind es sogar rund 227.000 Seen und bei einer Fläche von mindestens 100 m² kommt man auf beeindruckende ~520.000 Seen, obwohl dafür »Teich« vielleicht passender wäre.

Der mit rund 5.500 km² oder 772.983 Fußballfeldern größte schwedische See (und der größte in der EU) ist der Vänern, nordöstlich von Göteborg. Es folgen der Vättern bei Jänköping und der durch etliche Buchten und Inseln zerklüftete Mälaren bei Stockholm. Alle weiteren Seen in Schweden haben »nur noch« eine Fläche mit dreistelligen Quadratkilometern. Aber, wie es so schön heißt: es kommt nicht auf die Größe an. Ich habe schon mehrmals wunderschöne Wochen am Rottnensee (mit popeligen 32,5 km²) verbracht und der traumhaft schöne, einsame Waldsee, auf den ich dieses Jahr aus dem Ferienhaus blicke, hat auf Google Maps nicht einmal einen Namen.

Der Rottnensee bei Ormeshaga

Foto: © formschub

Minst 10 skäl att resa till Sverige (2)

#02 Die typischen rot-weißen Holzhäuser

Heute Nachmittag, mitten im Wald …

Sie gehören zu Schweden wie Schären, Elche und Köttbullar: die gemütlichen, rot-weißen Holzhäuser, die man von der Straße aus am Wegesrand, in fast jeder kleinen Ortschaft, oder auch einsam gelegen mitten im Wald, vorfindet. Ihr kräftiger, braunroter Anstrich kontrastiert wunderschön mit dem umgebenden Grün von Moos, Bäumen und Gras und mit den strahlend weißen Flächen der Sprossenfenster, Türen und Eckbalken.

Die schöne Farbe, so ist zu lesen, war anfangs eher ein pragmatischer Brauch: sie schützte das Holz der Hausfassaden vor Verwitterung und erinnerte an das Ziegelrot der Backsteinhäuser reicher Europäer, wie sie sich die meisten ärmeren Schweden damals nicht leisten, sich ihnen aber so immerhin optisch annähern konnten. Das Pigment entstand als Abfallprodukt beim Abbau von Kupfer in einer großen traditionsreichen Mine nahe der schwedischen Stadt Falun und trägt daher den Namen Faluröd oder Falu rödfärg. Zur Geschichte der Kupfermine und dem tiefroten Farbpigment, das bis heute weiterhin hergestellt wird, kann man im Netz noch etliches Wissenswerte und Interessante nachlesen – oder man lässt den hübschen Anblick der hölzernen warmroten Häuser einfach so auf sich wirken.

Foto: © formschub

Minst 10 skäl att resa till Sverige (1)*

* Wenigstens 10 Gründe, nach Schweden zu reisen

Endlich Sommerurlaub! Lange »vor Corona« schon waren Reise und Unterkunft gebucht, noch bis vor wenigen Wochen schwebte der Stornofinger bang und bebend über der Maustaste, als schließlich sowohl das Auswärtige Amt als auch das RKI unser Reiseziel Schweden von der Liste der Risikogebiete entfernten. Uff!

Den Umgang der Schweden mit der Corona-Pandemie lasse ich hier mal unkommentiert, er war und ist außerhalb und innerhalb des Landes vielfach umstritten, hat nachweislich etliche Todesopfer, insbesondere in Alten- und Pflegeheimen gefordert und selbst Schwedens »Chef-Epidemiologe« Anders Tegnell räumt ein, im Nachhinein hätte er einiges anders handhaben lassen.

Was mir jedoch während der ersten Einkaufsstopps in Geschäften und Supermärkten in Göteborg und Växjö auf dem Weg zu unserem Ferienhaus auffiel, war – im Gegensatz zu Deutschland – zweierlei. Erstens: die Menschen trugen zu 90–95% keine Masken. Zweitens: sie achten individuell sehr gewissenhaft auf Abstand, das weiträumige und deutliche einander-Ausweichen bei Begegnungen im Ladeninneren gehört bei den Schweden offenbar inzwischen konsequent zur »fest verdrahteten« Alltagsroutine – und es scheint wirksam zu sein.

Ungeachtet dessen freue ich mich sehr, wieder einmal in Schweden zu »urlauben« und möchte in Anlehnung an eine Serie früherer Blogbeiträge zu einem anderen meiner Lieblingsurlaubsländer eine solche kleine Sammlung mit Anreizen, diesmal für eine Reise nach Schweden, fortführen. Los geht’s!

#01 Der Wald

23 Millionen Hektar, mehr als die Hälfte (57%) der gesamten Landfläche Schwedens, sind mit Wald bedeckt. Dies entspricht der Oberfläche gesamt Großbritanniens (Link zur Quelle). Man merkt es auf nahezu jeder Autofahrt: links und rechts der Fahrbahn Wald, Wald, Wald. Die Schweden lieben die Natur und den Wald, sie sind ein Volk der Pilz- und Beerensammler, sie pflegen seit jeher das »Jedermannsrecht« (Allemansrätten), welches allen Menschen erlaubt, sich überall ungestört in der schwedischen Natur aufzuhalten, solange der Ort so verlassen wird, wie er vorgefunden wurde und etliche Schweden besitzen selbst ein Wochenend- oder Ferienhäuschen im Grünen. Die Bevölkerungsdichte in Schweden ist mit 23 Einwohnern pro km² rund zehnmal so niedrig wie in Deutschland (2016: 236 Einwohner/km²), in Nordschweden leben sogar im Schnitt nur rund drei Menschen auf einem Quadratkilometer. Wer Ruhe und wohltuende Einsamkeit sucht, ist hier also genau richtig – und im Wald ist die gleich nochmal so erholsam.

Elche schauen dich an (Video-Screenshot, 2017)

Foto: © formschub

Smultronställe

»Smultronställe« ist ein schwedischer Begriff für einen Ort, der ein unterschätztes Kleinod ist. Wörtlich übersetzt bedeutet er »Walderdbeerstelle« und bezeichnet einen Platz, an dem man sich wohl fühlt, den man zur Entspannung und Erholung aufsucht und der für andere nicht leicht zu finden ist. Oft hat man zu dieser Umgebung auch einen persönlichen emotionalen Bezug.

Letzter Urlaubstag an der Havel. Auf Wiedersehen im nächsten Jahr.

(Ich selbst beherrsche leider keine Aquarellmalerei, aber ich konnte der iOS-App Waterlogue zumindest die Fotovorlagen liefern …)

Grillmarinade »Tiānshàng de zhū*«

* Himmlisches Schwein

Trotz aller teilvegetarischen Ambitionen ist der Sommer für mich auch immer wieder der große Verführer dahingehend, mal wieder ein gutes Stück Fleisch zu verzehren und das – natürlich – gegrillt. In dem aktuellen Kurzurlaub kamen zwei weitere Versuchungskatalysatoren hinzu: zum einen überraschte uns der Vermieter mit einem nagelneuen, originalverpackten Luxusgrill mit Kohlebrikettwannenhöhenverstellung, Warmhalterost, Temperaturanzeige, Grillgutablage, integriertem Flaschenöffner (fällt marketingtechnisch vermutlich unter »Männerzubehör«) und etlichen Ventilationshebeln zum Regulieren von Feuer und Glut, zum anderen kamen wir bei einer Einkaufstour ins nächstgelegene supermarktbestückte Nachbardorf an einer kürzlich eröffneten Landfleischerei vorbei, deren Auslage mit Produkten aus eigener Viehhaltung lockte. Und so beschlossen wir, mit zwei rustikalen Nackensteaks, zwei Scheiben feinem Roastbeef und einem Paar »Currygriller« den in bester IKEA-Manier zuvor selbst zusammengeschraubten Grill einzuweihen.

Bei Nackensteaks geht es bei mir nicht ohne eine Marinade. Anders als sonst bin ich dabei jedoch extrem wenig experimentierfreudig, seit jeher lege ich diese in eine asiatisch inspirierte »Tunke« ein, deren Rezeptursprung irgendwo im Dunkel der elterlichen Grillhistorie liegt und die ich über die Jahre stetig perfektioniert habe, wobei das Rezept angenehm mengentolerant ist – will sagen: ob von einer Zutat etwas mehr oder weniger drankommt, wirkt sich auf das Ergebnis kaum aus, wichtig ist aber, dass keine Zutat vergessen wird. Auf dem Grill karamellisiert die leicht zuckerhaltige Mixtur zu einer köstlichen Kruste, die entfernt an die Lackierung einer Peking-Ente erinnert. Ich möchte meine Nackensteaks bitte niemals mit etwas anderem grillen.

Zutaten
Mengenangaben pro zu marinierendes Steak, einfach entsprechend multiplizieren

1 EL Sojasauce
1 EL dunkler Balsamico
1 EL Sherry medium, Portwein oder Madeira
1 EL guter Tomatenketchup (Zuckergehalt nach Geschmack, je mehr Zucker die Marinade enthält, desto mehr ist zum Karamellisieren da …)
1 TL Tomatenmark
1 EL Öl (Raps, Olive, Sonnenblume, Erdnuss o.ä.)
1 Prise Salz und Pfeffer
½ TL Chinesisches Fünfgewürzpulver

Alle Zutaten in einer flachen Schüssel gut miteinander verrühren und die Steaks rundum gut damit einstreichen. Mindestens 1–2 Stunden ziehen lassen und ab auf den Grill. Es hilft, wenn der Grill nicht allzu heiß ist, da der Zucker in der Marinade ansonsten schnell verkohlt – dunkelknuspriges Karamellisieren ist hingegen absolut erwünscht.

Fertig gegrillt, an Wachsbohnensalat mit Dill-Orangen-Sahne

Bonusrezept: Wachsbohnensalat mit Dill-Orangen-Sahne

Ein sommerliches Bohnensalatrezept für alle, die keine rohen Zwieben mögen.

Zutaten
für 4 Portionen

3 Gläser/Dosen Wachsbohnen (Abtropfgewicht zusammen ca. 600 g)
200 ml Sahne
1 kleiner Bund Dill
Saft einer kleinen Orange
Saft einer kleinen Zitrone
1/2 TL frisch gemahlener grüner Pfeffer
1/2 TL frisch gemörserte Korianderkörner
1 EL Balsamico
Salz

Die Bohnen in einem Sieb gut abtropfen lassen und in eine Salatschüssel geben. Den Dill von dicken Stielen und Stängeln befreien und das Grün fein hacken. Sahne, Balsamico, Zitronen-/Orangensaft und Gewürze zu einem Dressing verrühren, den Dill zugeben und mit Salz abschmecken. Das Dressing unter die Bohnen heben und den Salat im Kühlschrank mindestens 2 Stunden durchziehen lassen.

Foto und Rezept: © formschub

Sommerkokon

Ich liege rücklings auf einer Decke auf einer Wiese am Ufer der Havel und schaue nach oben. Drei Baumkronen rahmen meinen Blick auf den Himmel ein. Überhaupt sollten nur Baumkronen das Wort »Krone« benutzen dürfen, alle anderen Kronen sind lächerlich, unmajestätisch oder eitel (»Krone der Schöpfung«, hamwergelacht). Die Schaumkrone auf einem Bier oder einer Welle würde ich vielleicht noch durchgehen lassen, aber damit hat es sich auch ausgekront.

Der Himmel ist unglaublich blau, nur ganz feine Wolken beschleiern ihn, Schwalben ziehen weite Schleifen hoch oben, es weht ein leichter Wind und die Temperatur ist »genau richtig«. Dann ist es egal, ob das Thermometer dreiundzwanzig Grad zeigt oder achtundzwanzig, die Luft hat auf eine wunderbare Weise genau dieselbe gefühlte Wärme wie die eigene Haut, sie ist einfach nur ein temperaturloser Hauch, der leicht zwischen den Härchen auf Armen und Beinen hindurchweht, ohne jede andere Eigenschaft als genau dieses sommerliche Streicheln. »Schwedenwetter« ist mein Wort für so eine Konstellation und dazu gehört irgendwie auch, dass man dabei in der Nähe eines schönen Gewässers liegt (oder sitzt).

Gerade war ich schwimmen, in der Havel. Das Wasser ist zwar noch ein wenig frisch, aber mit einem beherzten Eintauchen kalibriert sich der Körper schnell in der nassen Umgebung. Etliche kleine Fische huschen durch das erstaunlich klare Wasser, auf den ersten Blick sind sie kaum vom sauberen sandigen Grund zu unterscheiden. Wenn man ganz still hält, kommen sie in kleinen Wellen aus Neugier und Zurückschrecken immer näher, manchmal berühren sie fast meine Hände oder Füße. Zwischendurch durchstupsen sie immer mal die Wasseroberfläche, um sich einen obenauf treibenden Insektensnack einzuverleiben.

Schon mehrfach war ich hier in diesem Ort, in dem kleinen, gelb gestrichenen Häuschen, zwei Gehminuten vom Flussufer entfernt. Ich werde mich hüten, den Namen des Dörfchens auszuplaudern, es sind in diesem Jahr schon deutlich mehr Urlauber hier als in den vergangenen Jahren, Corona sei’s gedankt. Ich freue mich natürlich für die Ladenbesitzer, Ferienvermieter und Gastronomen, andererseits ist es gerade die spärliche Schar an Urlaubern, die einen der vielen Reize dieser Gegend ausmacht. Ich brauche keine Handtuchparzelle inmitten einer Horde von Ostseestrandtouristen, für mich gehört Abstand zu anderen Menschen seit jeher zu dem, was ich im Urlaub und im Alltag nicht missen möchte. Abstand und Stille.

Stille gibt es hier auch reichlich. Man spürt sie am stärksten, wenn man gerade aus der wimmeligen Großstadt eingetroffen ist, dann ist der Gegensatz zum Gewohnheitslärm am stärksten. Nach ein paar Tagen hört man die Stille nur noch, wenn sie durchbrochen wird, von einer vorbeibrummenden Hummel, einem klappernden Storch – von denen es hier viele gibt – oder von einem geselligen Heiterkeitsausbruch auf einer umliegenden Biergartenterrasse. Stille kann natürlich durchbrochen werden, aber sie muss nicht. Ich zumindest habe sie gerne in meiner Nähe und mag es, wenn sie mich begleitet. Es scheint Menschen zu geben, die sie nicht ertragen, die sich und andere stetig beschallen müssen, mit Musik aus Kopfhörern und Lautsprechern, mit Unterhaltungen, dem Lärm ihrer Maschinen und Gerätschaften, dem künstlich lautfrisierten Knattern von Motorrädern oder anderem Tumult. Ich bin dankbar für Tage wie heute, an denen mir solcherlei fern bleibt.

Ich liege hier auf dem Rücken am Fluss inmitten der Stille und der Sommer umspinnt mich mit einem Kokon aus flunkernder Friedlichkeit, die für einen Nachmittag alles vergessen macht, was die Welt da draußen beutelt. Es fühlt sich an, als gäbe es hinter diesem perfekten himmelblauen Tag kein Corona, keinen Klimawandel, kein Mikroplastik, kein Artensterben, keine größenwahnsinnigen »regierenden« Irren, keinen aufkeimenden neuen Faschismus, keine Überbevölkerung, keine Gewalt und keine Diskriminierung.

Ich weiß natürlich, dass dieser Tag mir nicht die Wahrheit sagt. Aber manchmal ist es einfach unbezahlbar, sich ganz bewusst auch mal einen Moment lang anlügen zu lassen.

Auszeit mit Farbfasten

Immer noch: Corona, Masken, Händewaschen, Desinfektionsmittel, Abstand. Endlich wieder: Urlaub, Meeresrauschen, Waldluft, Radfahren, Draußensein. Fünf wundervolle Tage in einer traumhaften Gegend: in und um Stralsund und auf Rügen. Angeregt durch eine Facebook-Challenge (»Zehn Tage. Zehn Bilder meines Alltags in Schwarzweiß«) habe ich diesmal fast ausschließlich monochrom fotografiert. Denn die erlebten, gesehenen Farben kann ohnehin kein Film, kein CMOS-Chip wirklich einfangen. Die nehme ich allein in meinem Kopf mit nach Hause.

Kinder, kommt raus – Essen ist fertig!

Ein paar Mal ist es mir an der Supermarktkasse schon passiert, dass mir der/die Kassierer*in eins meiner aufs Kassenband gelegten Öbste oder Gemüse entgegenhält – etwa einen Knollensellerie oder einen Kohlrabi – und mich fragt, was das sei, um es korrekt in das Kassensystem eingeben zu können. Das macht mich traurig. Ich erwarte von niemandem, exotische Früchte wie eine Pitahaya, Physalis, Java-Äpfel oder unbekanntere Gemüse wie Cardy-Kohl oder Postelein zu (er)kennen, aber wenn gewöhnliche heimische Feldfrüchte Ahnungslosigkeit auslösen, ist das für mich ein Zeichen dafür, wie sehr uns die »Zivilisation« bzw. das Leben in Städten oft schon von der Natur entfremdet hat. Obst und Gemüse sind fertig geerntet, gesäubert, eingeschweißt, abgepackt und etikettiert. Was es ist, steht auf dem Klebeschild auf der Verpackung oder direkt darunter am Warenregal. Manche Menschen gar haben überhaupt keinen Kontakt mehr zu Naturprodukten, weil sie sich ohne frische Zutaten ausschließlich von Fertiggerichten ernähren. Es gibt Kinder und Erwachsene, die kennen etwa Waldmeister ausschließlich als künstliches Aroma in meist grellgrünen Süßspeisen und kämen niemals auf die Idee, dass in den Wäldern ihrer Umgebung im Frühjahr eine wunderbar duftende Pflanze wächst, die für diese synthetisch aromatisierten Lebensmittel irgendwann einmal eine ferne Inspiration war.

Ich bin als Kind zweier Eltern aus dem Südharz in ziemlich engem Kontakt mit der Natur aufgewachsen. Mutter und beide Omas erklärten mir auf Spaziergängen oder wenn ich allein aus dem umgebenden Wald mit »Fundstücken« nach Hause kam, die Natur und was sie an Essbarem übers Jahr hervorbrachte. Und auch jetzt, wo ich schon lange in der Stadt lebe, zieht es mich jedes Wochenende und im Urlaub wieder raus in den Wald, in die Heide oder andere Landschaften, um die Luft, die Ruhe und die Natur zu genießen. Immer im Gepäck: ein handliches Bestimmungsbuch, um Pflanzen am Wegesrand zu erkennen, zu bestimmen und gegebenenfalls zu ernten.

Wer dieser Tage rausgeht, merkt: jetzt ist die beste Zeit. Angefangen hat es etwa Mitte März, mit dem ersten sprießenden Bärlauch des neuen Jahres, kurz danach kamen die Brennnesseln und die Knoblauchsrauke, der Giersch (ein hervorragender Ersatz für Petersilie!), der Löwenzahn, und als der Frühling Fahrt aufnahm, folgten Waldmeister, Sauerklee, Sauerampfer und Gänseblümchen (einige abgebildet in der Bildergalerie). Bald folgt der Sommer mit den ersten Beeren, die Walderdbeeren und der Holunder blühen bereits, die Schlehenblüte ist vorbei, an den Johannisbeerbüschen und Kirschbäumen hängen die ersten noch grünen Früchtchen.

Ich kann das nur zur Nachahmung empfehlen, speziell jetzt, während der »Corona-Pandemie«. Es hat nur Vorteile. Man kann Gegenden aufsuchen, in denen kaum Menschen rumlaufen, was das Abstandhalten extrem erleichtert. Man kriegt den Kopf frei und kann den Social-Distancing-Homeoffice-Koller kompensieren. Man kann frische Luft atmen. Man kann etwas lernen. Man kann Haushaltsgeld sparen, denn die Ernte der Dutzenden Waren in der Open-Air Obst- und Gemüseabteilung von Mutter Natur ist gratis. Es gibt genug Pflanzen, die – wenn man sich auf kundige Quellen (am besten Bücher) verlässt – so einfach und zweifelsfrei zu erkennen sind, dass man sie guten Gewissens pflücken und verzehren kann (das Thema »Pilze« ist ein separates Kapitel, weshalb ich es hier und heute auslasse). Und so frisch wie die selbstgeernteten Pflanzen und Früchte bekommt man Vergleichbares kaum im Laden zu kaufen.

Bei der Bestimmung der Ausbeute würde ich mich zwar nicht nur auf Foren und Websites verlassen – dazu ist die Expertise der Ratgeber oftmals nicht verlässlich genug, bei der Suche nach Rezepten hingegen ist das Netz eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Die Zubereitungen reichen von Bärlauchpesto und in Backteig frittierten Holunderblüten über schokoladenüberzogene Fichtenknospen, herben Löwenzahnsalat und selbstgemachte Kapern aus Gänseblümchen bis hin zu Brennesselspinat, Sauerampfersuppe oder selbst fermentiertem koffeinfreiem Schwarzer-Tee-Ersatz aus Weidenröschenblättern. Wer neugierig und experimentierfreudig ist, kann sich damit für den Rest seines Lebens beschäftigen.

Und dann, ab Juni/Juli macht die Natur die Obstkammer auf. Insbesondere dann sind Streifzüge durch Wälder und Wiesen eine leckere Angelegenheit, wenn man alle paar hundert Meter am Wegesrand einen kleinen gesunden Snack findet*. Für die Anreise braucht man im Umland größerer Städte oftmals noch nicht einmal ein eigenes Auto. Viele regionale Verkehrsunternehmen (z.B. die S-Bahn Berlin) haben im Netz Seiten mit Tour-Empfehlungen veröffentlicht, die mit Nahverkehrszügen, Bussen und S-Bahnen durchführbar sind. Es gibt Bücher zu diesem Thema und auch Websites mit Empfehlungen von Stadtportalen, mit Radtouren-Tipps für naturnahe Ausflüge, mit Wanderrouten von Tourismusverbänden und mit Empfehlungen von privaten Naturfreunden. Googlen lohnt sich!

* Die Befürchtungen, sich durch den Verzehr von Wildpflanzen mit dem Fuchsbandwurm zu infizieren, sind größtenteils unbegründet bzw. werden oft unrealistisch übersteigert. Man sollte natürlich nichts essen, ohne es vorher auf Verschmutzungen oder kleine anhaftende Insekten geprüft zu haben. Und je weiter oben etwas wächst, desto geringer ist das Risiko.

Einige empfehlenswerte Bestimmungsbücher aus meiner Bibliothek, manche passen sogar in die Hosentasche.
  • Enzyklopädie essbarer Wildpflanzen, at Verlag | Link
  • Feld-, Wald- und Wiesenkochbuch, Heyne Verlag (nur antiquarisch erhältlich) | Link
  • Essbare Wildpflanzen, at Verlag | Link
  • Essbare Wildkräuter und Wildbeeren für unterwegs, Kosmos Verlag | Link

Nicht zuletzt ist das aufmerksame Wandern, Suchen, Erkennen und Ernten essbarer Pflanzen auch oft für Kinder ein großer Spaß. Und es hat auch einen schönen Nebeneffekt, dem Nachwuchs Wissen, Freude und Wertschätzung an allem, was die Natur bietet, zu vermitteln: die Chance, weniger künftige Erwachsene großzuziehen, die angesichts von Kräutern, Gemüse oder Obst – nicht nur an der Supermarktkasse – ratlos mit den Schultern zucken.

Weiterführende Links

Alle Fotos auf dieser Seite: © formschub