Monat: Februar 2024

Brombeerwörter

Als ich neulich am Wochenende mit dem Mann auf einer Wanderung war, mussten wir uns an einer durch tiefen Schlamm unwegsam gewordenen Wegstrecke gezwungenermaßen einen Umweg durchs Unterholz parallel zum Wanderweg suchen. Dabei blieb ich mit meiner Winterjacke im Vorbeigehen ohne Sachschäden an einer Brombeerranke hängen und stoppte kurz, um die Dornen aus dem Jackenstoff zu lösen, ehe ich weiterging.

Ich bin seit jeher ein Mensch, der Freude an Sprache hat und der es liebt, einen möglichst großen Wortschatz zu haben. Ich schätze es, die Nuancen zu kennen und in von mir verfassten oder mündlich geäußerten Texten zu nutzen, die mir durch Synonyme gegeben sind, egal, ob es in einer alltäglichen E-Mail, während einer beruflich gehaltenen Präsentation, in einem Gespräch oder in einem zur Veröffentlichung vorgesehenen Beitrag geschieht. Ebenso aufmerksam beobachte ich Wortwahl und Formulierungen in allem, was ich anderswo lese oder höre: Werbetexte, Nachrichtenmeldungen, Zeitungen und Zeitschriften, Blogbeiträge, Social-Media-Postings und -Kommentare oder bei Texten in Büchern. Und manchmal habe ich bei der Wahrnehmung von Texten und Formulierungen genau dasselbe Gefühl wie bei der anfangs geschilderten Wanderung. Plötzlich bleibe ich im an mir vorbeilaufenden Text an etwas hängen, das mich innehalten lässt und davon abhält, den nachfolgenden Worten in ungestörtem Fluss zu folgen. Manchmal sind es Veränderungen, die in der (Umgangs)sprache mit der Zeit unausweichlich entstanden und die ungewohnt oder störend wirken. Viele Ausdrücke, Regeln und Vokabeln haben sich gewandelt, seit ich damit begann, Sprache zu erlernen und bewusst zu gebrauchen. Ich habe die Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 erlebt sowie deren Überarbeitungen in den Jahren 2004 und 2006. Der neue Gebrauch von »ß« und »ss« ist mir mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen, aber ich möchte z.B. immer noch lieber »Portemonnaie« schreiben, weil das so viel schöner aussieht als »Port­mo­nee«. Ist ja auch erlaubt. Gefühlt steht im Duden sowieso bei jedem zweiten Fall, dem ich bei Sprachzweifeln hinterhergoogle, »kann man so schreiben, kann man aber auch so schreiben«. Dann such’ ich mir eben das aus, das mir am meisten pläsiert.

Im Job werde ich oft gebeten, Texte von Kollegen zu lektorieren, weil ich das recht gut hinbekomme und mir Auffälligkeiten und Unrichtigkeiten im Text schnell ins Auge springen. Ich war schon immer eher ein praktischer Sprachnutzer, kein theoretischer. Mir fällt es leicht, Formulierungen hinzuschreiben wie »das Talent, dessen materielle Vorzüge auszukosten ihm in den folgenden Jahren vergönnt war«, aber ich zucke ratlos mit den Schultern, wenn mich ein in der Theorie versierter Deutschprofi fragen würde, wie diese zu benennen wären. Plusquamperfekt, Präteritum, Partizip, Futur zwei – keine Ahnung, lasst mich einfach hier sitzen, schreiben und reden.

Da ich viel im Internet lese, fallen mir auch oft Tipp-, Schreib- und Formulierungsfehler auf, die in allerlei Postings vorkommen. Da bleibe ich ebenfalls oft hängen, aber im privaten Umfeld finde ich es unangemessen und schulmeisterlich, darauf zu reagieren und verkneife es mir z.B., eine (wie freundlich auch immer formulierte) Nachricht an die Verfasser*innen zu versenden, um z.B. auf eine Formulierung wie »diese Freiheit hat seinen Preis« in einem Posting oder einem Blog hinzuweisen. Aber das Brombeergefühl beim Lesen kann ich trotzdem nicht abschalten (Anm.: Wer hingegen in diesem Text sprachliche oder grammatikalische Fehler findet, darf mich gerne darauf hinweisen).

Betrüblicher ist es, in Werbetexten solche Schnitzer vorzufinden, die ja zumeist mit dem Ziel erstellt wurden, die lesenden Menschen zum Geldausgeben zu bewegen. Da sollte man doch eigentlich verlangen können, dass die dafür verantwortlichen Mitarbeiter*innen sich entweder selbst ein bisschen mehr Mühe geben, korrekte Texte abzuliefern oder, wenn sie dies selbst nicht können oder wollen, jemanden damit beauftragen, diese professionell oder sachkundig zu lektorieren. Sehr viele der auffälligen Fehler in Texten wirken überdies wie Flüchtigkeitsfehler. Schnell etwas in die Tastatur gehauen und auf »veröffentlichen«, »drucken«, »senden« oder »produzieren« geklickt, ohne sogar kurze Texte oder einzelne Zeilen zuvor noch einmal querzulesen. In meinem sporadisch gepflegten Tumblr-Blog »Pfuschmuseum« habe ich einige dieser Stilblüten gesammelt. Da denke ich dann immer: Wenn ich als Kunde derart schlampig umworben werde, wieso sollte ich dann der Behauptung der Werbetreibenden Glauben schenken, dass mein Wohlergehen oder mein Nutzen im Fokus ihrer Bemühungen um mein Interesse und meinen Kaufimpuls stehen und nicht bloß mein Geld? Bestimmt fallen von solchen Produkten bald irgendwelche Teile ab, die Bedienung der Anschaffungen ist unerfreulich oder die geplante Obsolenzenz der Waren haucht einem schon beim Unboxing aus dem Karton entgegen.

Update (07. März 2024): Neue Stilblüten aus der Echtzeit-Werbepfuscherei.

Am meisten jedoch schmerzen mich solche Fehler in vermeintlich professionell betriebenen Informations- und Nachrichtenmedien. Zumindest einen Teil meiner Rundfunkgebühren, die ich gerne bezahle oder des Geldes, das ich in Printmedien oder Online-Abonnements investiere, würde ich neben Produktions- und Personalkosten gerne in einem sprachlichen Qualitätsstandard angelegt sehen, der mich beim Konsum nicht schmerzhaft zusammenzucken lässt. Früher™ gab es bei der ARD-Tagesschau Chefsprecher wie Karl-Heinz Köpcke oder Werner Veigel, denen die sprachliche Sorgfalt und Korrektheit der verlesenen Texte ein persönliches Anliegen waren. Ganz ohne Krückstockfuchteln möchte ich hier ein wenig wehmütig zu Protokoll geben, dass ich diese Hingabe bei vielen Sendern oder Medien zunehmend vermisse. Sicherlich sind in Zeiten digitaler Medien und zusätzlich zu betreibender Social-Media-Kanäle ungleich mehr Mitarbeiter als damals damit betraut, Meldungen und Texte auf den verschiedensten Plattformen zu erstellen oder einzupflegen. Aber auch hier habe ich eine ähnliche Wahrnehmung wie bei den zuvor erwähnten lieblos lektorierten Werbetexten: Wie soll bei mir ein Gefühl von Vertrauen, Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit gegenüber dem Absender entstehen, das mir vermittelt, dass Berichte und Fakten (insbesondere im ÖRR) sorgsam recherchiert, bewertet, eingeordnet und aufbereitet wurden, wenn selbst kurze, auf einen Blick erfassbare und vor der Veröffentlichung eigentlich innerhalb von Sekunden noch einmal problemlos prüfbare Textschnipsel derselben Instanz bereits Fehler enthalten? Ich zumindest muss mich dann schon manchmal zwingen, derlei auf die leichte Schulter zu nehmen, obwohl es eigentlich nur Kleinigkeiten sind.

Ob ARD oder ZDF – hier bekleckert sich keiner mit Rum …

Wieder eine andere Kategorie sind allmähliche Änderungen der geschriebenen oder gesprochenen Sprache, die sich »basisdemokratisch« entwickeln und allmählich im Alltag und in der Sprachgemeinschaft ausbreiten. Gegenüber dem abfällig als »Deppenapostroph« oder »Deppenleerzeichen« bezeichneten Phänomen des Bindestrichmangels bzw. Hochkommaüberschusses bin ich mittlerweile schon abgestumpft und denke, derer ansichtig, zwar nicht »macht nicht’s«, aber immerhin »was soll’s?«. Weh tut mir allerdings immer noch der ebenso innovative wie inkorrekte schriftliche Gebrauch des mit Apostroph abgekürzten unbestimmten Artikels »ein« zu »’nen«. Wenn also beispielsweise jemand schreibt, »ich hole mir jetzt ’nen Bier«, reißt mir das brombeermetaphernmäßig im Vorbeilesen schon ein erkleckliches Loch in den Sprachmantel und ich verspüre ein spontanes Bedürfnis nach stärkeren Alkoholika. Die unbekümmert ins Deutsche übertragene Übernahme englischer Redewendungen ist auch so ein Thema. Da lese ich z.B. »Geheimdienste existieren literarisch um im Geheimen zu operieren« und kann mich zwar noch ein bisschen darüber freuen, dass das Wort immerhin noch als treffendes Synonym für »buchstäblich« verwendet wurde (oft genug nämlich auch für »tatsächlich«/»in der Tat« und dann lese ich Sätze wie »ein Flug nach Malle kostet manchmal literarisch 30 Euro«), aber mein innerliches Seufzen lässt mich dennoch kurz erbeben. Auch wenn jemand schreibt, er/sie habe Magen-Darm und muss nun »ein Antibiotika« nehmen, oder von einem Restaurantbesuch berichtet wird, bei dem »Scampis« und »Espressos« genossen wurden, verursacht dies ein leichtes dorniges Zupfen beim Durchfliegen des Textgewebes. Aber »macht es Sinn«, sich darüber aufzuregen? Nein. Mit diesen Störgefühlen muss man als Sprachopa zu leben lernen. Hauptsache ist doch, man versteht noch einigermaßen genau, was der oder die Absender*in damit sagen möchte (dabei muss ich gerade an die Szenen mit der allzu wortgewandten Shakespeare-Figur in der ZDF-Comedyserie »Sketch History« denken). Und mich selbst zwingt ja niemand, auf dieselbe Weise zu »senden«, in der ich »empfange«.

Eine andere populäre Erscheinungsform aus dem Englischen herüberdiffundierter Seltsamkeiten sind die Anglizismen. An sehr viele habe ich mich, wie alle, inzwischen gewöhnt, wie etwa »Meeting«, »Event«, »sharen«, »faven« und und und. Einige würde ich aber aufgrund ihres ebenso prätentiösen wie mehrwertfreien Gebrauchs gerne seltener lesen. So steht zum Beispiel auf dem Kassenzettel, den die Selbstscanterminals meines lokalen REWE-Marktes auswerfen, dass man den Bon unbeding mitnehmen solle, denn den aufgedruckten QR-Code benötige man zum Öffnen des »Exit-Gates«. Ich hätte einfach »Ausgangsschranke« gesagt, aber naja. Im Job streiche ich sehr gerne und beherzt das Wort »inkludiert« aus Texten, die mir zur Durchsicht vorgelegt werden und schreibe ein »beinhaltet« an seine Stelle, ich verstaubter Rebell. Es gibt noch einige weitere dieser Kandidaten, die einen Text zwar womöglich sehr contemporary klingen lassen, aber ihm oft genug nicht nur keinerlei hilfreiche Bedeutungsnuance hinzufügen, sondern ihn im Gegenteil weniger verständlich machen. Die Messlatte für diese Art des Sprachgebrauchs, der insbesondere in der Kreativszene sehr beliebt ist, hat seinerzeit die Modeschöpferin Jil Sander gesetzt. Dieses Zitat ist aus meiner Sicht bis heute unerreicht:

»Ich habe vielleicht etwas Weltverbesserndes. Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, dass man contemporary sein muss, das future-Denken haben muss. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, dass man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. Der problembewußte Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Allerdings geht unser voice auch auf bestimmte Zielgruppen. Wer Ladyisches will, searcht nicht bei Jil Sander. Man muss Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils.«

via Wikiquote | Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. März 1996, zitiert im SPIEGEL 01.04.1996

Ein paar sprachliche Gepflogenheiten jedoch habe auch ich mir angewöhnt bzw. selbst »verordnet« und versuche, diese zu befolgen, wenn ich schreibe oder rede. Weil ich es bei anderen nicht so gerne mag, wenn sie beim Reden übermäßig häufig »Ähs« oder »Öhs« einfügen (noch schlimmer finde ich es bei einem öffentlichen Vortrag), vermeide ich dieses »Stoibern« bei mir selbst so weit wie möglich. Auch Füllwörter wie »im Prinzip«/»prinzipiell«, »halt«, »eigentlich«, »irgendwie« fallen mir bei reichlichem Gebrauch in der Alltagskonversation sofort auf, deshalb achte ich auch bei mir darauf, sie möglichst zu meiden. Ich mag auch keine Abkürzungen, die der von mir sehr geschätzte Autor Max Goldt vermutlich als »affig« bezeichnen würde. Beispiele für diese Art Abbreviationen sind etwa die Verniedlichungen von Schulfächern mit »-i« wie »Reli« (Religion) oder »Geschi« (Geschichte) oder die Benennung von Urlaubszielen wie »Malle« (Mallorca), »Fuerte« (Fuerteventura), »Domrep« (Dominikanische Republik). Es will mir einfach nicht über die Zunge.

Edit (02.03.2024): Mir sind nachträglich noch drei weitere Wörter bzw. Wortanwendungen eingefallen, die ich meide, weil ich sie nicht mag. Man trifft sie allesamt recht häufig auf Social-Media-Portalen an. Wenn z.B. ein Kommentator einem Posting widersprechen möchte, beginnt eine derartige Widerrede oft mit »Sorry, aber …«. Wenn ich persönlich den Impuls verspüre, jemandes Äußerungen nach meiner Kenntnis faktisch richtigzustellen oder stichhaltige Argumente vorzubringen, warum ich anderer Meinung bin, wieso sollte ich mich dafür entschuldigen? Klingt aus meiner Sicht unnötig devot und entspricht auch zumeist nicht meinem momentanen Gemütszustand, während ich meine Gegenrede eintippe. Das zweite Wort tritt immer am Ende einer Gegenargumentation auf und zwar in Form eines Ein-Wort-Satzes. Es lautet »Punkt.«, manchmal auch »Punkt!«. Die schreibende Person möchte damit ihre zuvor gemachten Äußerungen offenbar mit einer Art Unfehlbarkeitssiegel versehen. Ich muss dann immer an das »Basta!« denken, mit dem meine Eltern früher manche meiner kindlichen Quengelkaskaden einzudämmen versuchten. Bei Eltern funktioniert so etwas womöglich noch aufgrund des natürlichen Autoritätsgefälles, zwischen Erwachsenen im Netz finde ich es eher ein bisschen lächerlich. Wenn man gute Argumente hat, ist dieser Abbinder obsolet und bei Menschen, die per se überzeugungsresistent sind, ist dieses nachgeschobene Wörtchen sowieso wirkungslos. Das dritte Wort ist wieder ein Einleitungswort. Manchmal beginnen wohlmeinende Kommentatoren ihre Agumentation an ein komplett kontrovers gesinntes Gegenüber mit »Liebe(r) …,«. So zum Beispiel »Liebe AfD/FDP/CSU/SPD, …«, wenn die schreibende Person nachfolgend ausführen möchte, warum sie mit den politischen Plänen oder Maßnahmen dieser Partei vollumfänglich unzufrieden ist. Ich frage mich dann immer, welchen Zweck diese Anrede haben soll. Gewiss kann ich davon ausgehen, dass tatsächlich wenig echte Liebe für die Angesprochenen im Herzen der Kommentierenden wohnt, wenn die Ansichten derart gegensätzlich sind. Das schließe ich zumindest aus meinen eigenen Gefühlen, wenn mir eine derartige Entgegnung in den Tippfingern brennt. Überflüssig, zweckfrei, inadäquat, diese Huldrampe lasse ich daher ebenfalls gerne bewusst weg.

Gerne hingegen nutze ich »veraltete« Wörter, das tue ich jedoch nicht, um zu »posen«, sondern entweder, A) weil sie bzw. ihr Klang mir gefallen, weil ich es B) schade fände, wenn sie aussterben würden, weil sie C) in einem Bereich, in dem ein Wort mangels Alternativen mir komplett abgenutzt und ausgewrungen erscheint, trotz ihrer vermeintlichen Altbackenheit ein frisches Synonym darstellen oder D) weil sie tatsächlich eine neue Bedeutungsebene einbringen, die andere Wörter m.E. nicht haben. Einige Beispiele:

  • für A): famos, dergleichen, derlei, indes, obgleich, apart, fulminant, kapriziös
  • für B): Wams, Leibchen, Trottoir, Antlitz, Vettel, kommod, mäandern, Geschmeide, Hazardeur, Hallodri
  • für C): vortrefflich, delikat, deliziös (statt »lecker«); alsbald, beizeiten, zügig (statt »zeitnah«)
  • für D): flanieren (für eine gewisse Art des Gehens besser geeignet als »spazierengehen«, »schlendern«, »gehen«, »bummeln« oder »wandern«); indisponiert, unpässlich (manchmal zutreffender als »krank«, »angeschlagen« oder »malade«)

Wichtig ist mir, dass ich keineswegs etwas dagegen habe, dass Sprache sich wandelt. Im Zuge aktueller Ereignisse wie der Corona-Pandemie oder neuer technischer Errungenschaften entstehen haufenweise schöne, bunte, treffende neue Wörter – dazu habe ich in einem anderen Blogbeitrag bereits etwas geschrieben (und auch auf einige der o.g. Wörter verwiesen). Ich sammle viele neue Wörter, die mir im Alltag und im Netz begegnen, teils ebenfalls hier im Blog, teils auf meinem Mastodon-Zweitaccount @wortgeburt. Das ständige Fließen der Sprache ist etwas Wunderschönes. Wichtig finde ich aber, und da hallt in meinem Kopf eine kürzlich geäußerte Aussage des aktuellen Wirtschaftsministers Robert Habeck wider, dass Sprache Wirklichkeit schafft. Sprache (und Wortwahl) sollte(n) nicht nur eine möglichst unmissverständliche Kommunikation möglich machen, sondern jede(r) Sprechende sollte sich bewusst sein, dass seine oder ihre Äußerungen auch unbewusst das Gegenüber oder die Leser – manchmal sogar unbeabsichtigt bzw. gegen den Willen der sprechenden Person – beeinflussen oder brüskieren können. Mit Sprache drücken wir nicht nur aus, sondern wir präzisieren oder vernebeln, engen ein, bewerten, werten auf oder ab, zollen oder verweigern Respekt. Auch deshalb versuche ich nicht nur ein passiver Beobachter von Sprache im Alltag zu sein, sondern die Erkenntnisse, die ich aus meinen Beobachtungen ziehe, auch in meinen eigenen Sprachgebrauch einfließen zu lassen oder diese im eigenen Umfeld, in Blogbeiträgen oder Social-Media-Postings zu thematisieren.

Als ich z.B. neulich kurz nacheinander einen Doris-Day-Film als auch den Historienschinken »Cleopatra« mit Elizabeth Taylor sah (beide in deutscher Synchronisation) fiel mir wiederholt auf und ich erinnerte mich daran, das schon häufiger wahrgenommen zu haben, wie viele der männlichen »hochgestellten« Charaktere (vorzugsweise jüngere) Frauen mit »mein Kind« ansprechen. Bei Cleopatra konnte ich eine der betreffenden Szenen im Netz in der englischen Originalfassung ausfindig machen. Dort spricht Cäsar die Königin mit »young lady« an, weit weniger despektierlich, aber immer noch herablassend genug. Und so ist es in Filmen bis in die 1970er Jahre hinein sehr oft üblich, so reden Chefs mit Sekretärinnen, Professoren und Lehrer mit erwachsenen Schülerinnen oder Studentinnen, Ärzte mit Krankenschwestern, Forscher mit Assistentinnen. Ich nehme das wahr und es ärgert mich als Zuschauer, es beschämt mich nachträglich als Mann gegenüber den damals so angesprochenen Frauen ebenso wie gegenüber denen, die sich heutzutage diese Szenen ansehen und ich bin froh, dass diese Ära mitsamt ihres Sprachgebrauchs und dieser anmaßenden Attitüde (hoffentlich) ein für allemal überwunden ist. Will ich diese Filme deshalb neu synchronisieren oder nicht mehr ansehen? Nein, ich wünsche mir nur, dass bei künftigen Filmen mehr sprachliche Achtsamkeit waltet. Es kann meiner Meinung nach durchaus sinnvoll sein, die ursprünglichen »alten« Versionen sprachlich überkommener Werke – vielleicht mit einem erläuternden Vorwort oder Fußnoten – in Umlauf zu belassen, um nachfolgenden Generationen gezielt bewusst zu machen, dass sich im Laufe der Zeit ein Wandel zu einem respektvolleren und achtsameren Sprachgebrauch vollzogen hat und nicht alles immer schon so nuanciert, subtil, fair oder inklusiv war, wie sie es zu ihren Lebzeiten beim Lesen und Schreiben gewohnt sind oder gelehrt bekommen.

Ich weigere mich überdies, mir den Begriff »woke« wegnehmen oder zu einem Schmähwort umdeuten zu lassen, der (unter anderem) genau diese Art der Achtsamkeit bezeichnet. Ich will bemerken, wo Sprache missbräuchlich, respektlos, abwertend, diskriminierend oder ausgrenzend benutzt wird und versuche gerne nach Kräften, mich diesbezüglichen Wandlungen und Änderungswünschen anzupassen. Es schert mich keinen Deut, wenn sich Begriffe für Schaumküsse oder pikant besoßte Schnitzel deshalb ändern sollen, denn sie schmecken doch hinterher nicht anders als vorher. Begriffe für Gegenstände, Anreden, Eigenschaften, Unternehmen, Seelenzustände, Produkte, Lebensmittel, ändern sich unentwegt, seitdem der erste Mensch den Mund aufgemacht hat. Aus dem Lenz wurde der Frühling, aus dem Turnschuh der Sneaker, aus dem Generaldirektor der CEO, was heute »geil« ist und Begeisterung und/oder die Libido weckt, wucherte früher im Garten durch den Zaun rüber zum Nachbarn. Und Sprache ist ja auch nicht das Einzige, das sich in unserem Alltag verändert – inzwischen ist es ja durchaus normal, dass man mit Telefonen fotografieren, mit Fernsehern sprechen, mit Uhren bezahlen oder seinen Staubsauger fernsteuern kann.

Sprache ist, finde ich, wie eine große Party und nicht alles, was passiert, ist steuerbar. Einige Gäste sind eingeladen, andere nicht, manche wollten nicht kommen, andere kommen, obwohl sie nicht eingeladen wurden, einige müssen leider früher wieder gehen, andere bleiben, obwohl man sie lieber loswerden würde. Über einige der Geladenen freut man sich, andere kann man nicht leiden und wieder andere sind einem komplett egal. Mit manchen unterhält man sich gerne, anderen geht man aus dem Weg. Es gibt neue Gesichter und alte Bekannte, freudige Wiedersehen und verschrobene Fremde. Man muss ein bisschen aufpassen, dass nichts Wertvolles kaputtgeht und dass niemand zu Schaden kommt. Es kann mal etwas lauter werden und vielleicht beschwert sich jemand über das Treiben. Manche Feiernden versuchen den DJ zu überzeugen, ausschließlich Songs nach ihrem Geschmack zu spielen, einige haben sogar eigene Tracks mitgebracht, es gibt Leute, die tanzen zu allem, was gespielt wird und einige sitzen lieber am Rand der Tanzfläche und quatschen. Man sollte etwas aufpassen, was man selbst konsumiert, welche Inhaltsstoffe sich darin verstecken und was man anderen anbietet oder einschenkt, denn das kann einerseits lustig und harmlos sein, aber auch mit Übelkeit, Kopfschmerzen oder anderen schädlichen Folgen einhergehen. Warum sollte man als Gast eine(n) der Mitfeiernden überreden, exakt so zu feiern wie man selbst? Wichtig ist doch, dass jeder auf seine Weise Spaß hat und alle ein bisschen darauf achten, dass die Location bewohnbar bleibt und nichts gewaltsam eskaliert oder gar in Brand gesetzt wird.

Ich jedenfalls amüsiere mich – trotz meiner Brombeergefühle – größtenteils blendend.

Eine Frau, dich sehr dafür verehre, wie sie die die deutsche Alltagssprache auf witzige, kluge und phantasievolle Art geprägt und verändert hat: Erika Fuchs, die langjährige deutsche Übersetzerin der »Lustigen Taschenbücher« Walt Disneys. Foto: Selbst geknipst in der Ausstellungsräumen des Erika-Fuchs-Hauses in Schwarzenbach/Saale.

vALLentinstag


Nicht gigantische Sonnen,
rote Riesen, weiße Zwerge,
ungeheure Quasare,
Supernovae, Plasmanebel,
weißglühend mit Billionen Grad,
wärmen das eisige Dunkel des Alls.
Das vermag nur
die Liebe.

Ein kombiniertes Bild aus Aufnahmen verschiedener Teleskope im Weltraum und auf dem Boden. Es zeigt den tausend Jahre alten Überrest der brillanten Supernova SN 1006 im Radio- (rot), Röntgen- (blau) und sichtbaren Licht (gelb).

Bildquelle: European Southern Observatory | Lizenziert unter CC BY 4.0 DEED

Gebratene Auberginen mit Hummus und Zhoug

Fast immer, wenn ich ungefähr alle vierzehn Tage fernbeziehungsbedingt freitags nach Berlin fahre, nehme ich ab Berlin Hauptbahnhof eine Verbindung zum U-Bahnhof Schlesisches Tor und treffe mich dann dort in der Nähe, pünktlich nach seinem Feierabend mit dem Mann im Craft-Beer-Pub »Hopfenreich«, um das Wochenende einzuläuten. Ich weiß nicht, wie oft ich den Weg vom »Schlesi« zum Pub schon gegangen war, als mir eines Tages am Wegesrand ein orientalisches Imbissrestaurant auffiel. Zuerst war es der Name, der an meine Wortspielrezeptoren andockte: »The Hummusapiens«. Dann las ich die Unterzeile »Beirut – Berlin · Levantine Street Food«. Und schließlich fiel mein Blick auf die hinterleuchtete große Speisekartentafel neben dem Eingang. »Mmmh!«, dachte ich, »Da müssen wir mal was »to go« bestellen!

Seit ich die aromatische Kichererbsenpaste kenne, bin ich Hummus-Jünger und habe mich auch schon ausgiebig mit der Herstellung dieser köstlichen veganen Spezialität in der eigenen Küche befasst. Mein persönliches, optimiertes Rezept steht inzwischen seit Jahren eigentlich unverändert fest. Manchmal kürze ich den Prozess etwas ab, indem ich fertig gekochte, konservierte Kichererbsen als Rohstoff nehme, manchmal nehme ich mir die Zeit und weiche geschälte halbe getrocknete Kichererbsen über Nacht ein und koche sie am nächsten Tag selbst. Der Aufwand bringt zwar geschmacklich nur einen überschaubaren Gewinn, aber die Cremigkeit des Endprodukts steigt durch die hüllenlose Trockenware deutlich.

Trotzdem waren es die mundwässernd klingenden Kombinationen auf der Menütafel des Imbiss, die mich über das Hummus hinaus neugierig machten. »Hummus, Harhana Sauce, sesame sauce, bread« gehören zu jedem der Gerichte standardmäßig dazu. Darüber hinaus werden neun Beilagenvarianten angeboten: Bulgur, Falafel, Makali (fritierte Kartoffeln und Auberginen), Hot Batata (marinierte fritierte Kartoffeln), Halloumi, Champignons, gebratenes Rinderhack mit Pinienkernen, Makani-Rinderwürstchen und gebratene Hähnchenleber. Also fünf Mal vegan, einmal vegetarisch und dreimal mit Fleisch. Eine schöne Auswahl. Nachdem ich dem Mann von der Entdeckung berichtet hatte, beschlossen wir an einem der folgenden Berlinwochenenden drei der Gerichte zum Mitnehmen auszuprobieren. Und es war köstlich! Alle Beilagen waren schön gebräunt gegrillt, fritiert oder scharf angebraten, das Hummus war cremig, sesamnussig und weder mit Knoblauch noch mit Zitrone überwürzt und die »Harhana Sauce« entpuppte sich als ein ziemlich scharfes, fein-aromatisches Korianderpesto. Es folgten etliche weitere Schlemmerabende mit verschiedenen Bestellungen und ich freue mich jedesmal wieder, dass es diesen Laden dort gibt.

Diese Woche nun, während ich in Hamburg weile und auch am Wochenende nicht in die Hauptstadt fahre, überkam mich ein großer Appetit nach dem Hummusapiens-Gericht »Hummus Makali« mit fritierten Auberginen. Doch Berlin ist weit. Also hieß es: Wer schlemmen will, muss findig sein! Wie könnte ich das ersehnte Gericht selbst zubereiten? Auf die Kartoffeln wollte ich des Aufwandes und der Kohlehydrate wegen verzichten. Was mich bei der Verkostung des Originalgerichts besonders begeistert hatte und was ich unbedingt auch hinbekommen wollte, waren die krosse Kruste und das cremige, nicht mit Öl vollgesogene Innere der Eierfrüchte. Ich erinnerte mich an zwei famose Tricks dazu aus einem YouTube-Rezeptivideo für das chinesische Auberginenrezept »Yu Xiang Qie Zi«: Zuerst werden die geschnittenen Auberginen für etwa 15 Minuten in Salzwasser eingelegt und anschließend fein mit Speisestärke bepudert, ehe sie in reichlich Öl gebraten werden. Das eingedrungene Wasser bildet eine Barriere im äußeren Fruchtfleisch der Auberginenstücke und mindert so das Eindringen des heißen Öls und die dünne Schicht Stärke sorgt im heißen Fett für eine schöne goldbraune Kruste. Ich beschloss, diesen chinesischen Kniff auf meinen Nachbau des orientalischen Gerichts zu übertragen.

Blieb noch die Frage, woraus die »Harhana Sauce« des Streetfoodladens bestand. Als ich danach googelte, erhielt ich ausschließlich Suchergebnisse, die auf das Hummusapiens zeigten und keine Angaben zu Zutaten oder Zubereitung enthüllten. Also handelte es sich wohl entweder um eine selbst kreierte Sauce mit geheimem Rezept oder um eine zu Marketingzwecken umbenannte regionale Zubereitung mir noch unbekannten Namens. Ich suchte gemäß meiner Analyse des Geschmacks des Dips daraufhin alternativ nach »spicy lebanese cilantro pesto« – und siehe da: es ploppten diverse Rezeptseiten auf für eine pestoähnliche Zubereitung namens »Zhoug« (andere Schreibweisen sind Schug, Skug, S-chug, Schugg, Skhug oder Zhug) aus hauptsächlich Koriandergrün, Knoblauch, (grünen) Chilischoten, Gewürzen und Olivenöl. Die Rezepte unterschieden sich zwar in Nuancen (mit/ohne Petersilie, mit/ohne Zitrone, mit/ohne Kümmel/ Kreuzkümmel/ Korianderkörner/ Pfeffer/ Kardamom), aber die grundsätzliche Beschreibung deckte sich mit meiner Geschmackserinnerung. Nachdem ich einige Rezepte durchgelesen hatte, entschied ich mich für eins, das angenehm raffiniert klang und ergänzte es um die Zutat Kardamom aus einer anderen Variante. Das Ergebnis kam ziemlich dicht an das Aroma der gekauften Sauce heran, im Nachhinein würde ich es nur noch ein wenig optimieren (höherer Anteil Koriandergrün und dafür weniger Petersilie, weniger Zitronensäure, etwas mehr Schärfe durch Chiliflocken). Dem Nachbau des Hummusgerichts stand somit nichts mehr im Weg. Bonus: es ist komplett vegan – und schmeckt vortrefflich!

Zutaten (für 2–3 Personen):

für das Hummus
Eine komplette Zubereitungsmenge Hummus nach meinem Rezept hier im Blog

für die Auberginen
2 Auberginen (ich hatte das Glück, im türkischen Gemüseladen eine sehr lange schlanke Sorte zu bekommen, die waren zum Schneiden und braten perfekt!)
1 EL Speisestärke
1 leicht gehäufter EL Salz
Wasser
Olivenöl zum Braten/Fritieren

für das Zhoug
1 Handvoll Petersilie
3 Handvoll Koriandergrün
1 grüne Chili (mittelscharf bis scharf)
2–3 TL Zitronensaft
ggf. abgeriebene Schale von 1/2 Zitrone
1 gestr. TL Salz
3 kleine Knoblauchzehen
1 gestr. TL Chiliflocken (Pulbiber)
1/2 TL Kardamomsamen (ohne die umgebende Samenkapsel)*
1/2 TL Kreuzkümmelsamen*
1 TL Koriandersamen*
1/2 TL schwarze Pfefferkörner*
100 ml Olivenöl

* wenn gemahlen vorhanden, geht natürlich auch das.

Zuerst die Sauce. Dafür die Kräuter von dicken Stängeln befreien, Knoblauchzehen schälen und grob zerteilen. Die Chilischote von Stielansatz und Kerngehäuse befreien und ebenfalls in grobe Stücke schneiden. Die Gewürze gemeinsam in einem Mörser zerstoßen (oder die gemahlenen miteinander vermischen). Kräuter, Chili- und Knoblauchstücke, Zitronensaft/-schale, Olivenöl und Gewürze im Mixer fein pürieren, ggf. mit Salz/Pfeffer/Chilipulver nach eigener Schärfevorliebe pikant abschmecken und in ein Schälchen umfüllen.

Nun die Auberginen waschen, das untere und obere Ende (Stielansatz) knapp abschneiden und die Früchte in ca. 1,5 cm dicke Scheiben schneiden. Mit dem Salz in eine Schüssel geben und mit Wasser bedecken, alles gut vermischen, damit sich das Salz auflöst und 15 Minuten ziehen lassen. Dann das Wasser gut abgießen und die Auberginen leicht abtupfen.

Das dünne Bepudern mit Stärke geht am besten in einem dünnen Plastikbeutel (z.B. 5-Liter Knisterfolien-Müllbeutel). Auberginen und Stärke in den Beutel geben, den Beutel mit viel Luft drin zudrehen und die Auberginen in dem entstandenen Folienballon gleichmäßig umherbewegen. Auf einen großen Teller oder in eine trockene Schale kippen und dort zum Braten bereithalten.

ca. 5–10 mm hoch Olivenöl in einen Topf oder eine tiefe (Wok-)Pfanne geben und erhitzen, bis von einem hineingehaltenen hölzernen Zahnstocher kleine Bläschen aufsteigen. Die mit Stärke bepuderten Auberginen portionsweise flach hineinlegen und von beiden Seiten goldbraun braten (dauert je Seite etwa 5 Minuten). Die Scheiben sollten in der Pfanne nicht zu dicht aneinanderliegen, denn wenn sie sich beim Braten berühren, kleben sie durch die Stärke aneinander. Die fertig gebratenen Auberginenscheiben auf einem mit Küchenkrepp belegten Teller sammeln und bis zum Verzehr warmstellen. Durch das eingedrungene Salzwasser und die später dazu gereichte Sauce müssen die Auberginen nicht extra gewürzt werden!

Pro Portion einige reichliche Löffel Hummus auf einen Teller geben, einige Auberginenscheiben daneben/darauf portionieren und alles großzügig mit dem Zhoug-Dip beträufeln. Guten Appetit!

Die Zhoug-Zutaten (links) und die fertige Sauce (rechts).
Vegan und lecker! (Die Krümel auf dem Hummus sind darübergestreutes Za’atar-Gewürz).

Letzte Male, erste Male

Nach einer knappen Woche wieder zurück aus dem Süden des Landes. Am letzten Freitag im Januar hatte der Mann abends noch mit seiner recht munteren Mutter in ihrer Teilzeit-Pflegeeinrichtung telefoniert. Am nächsten Morgen gegen halb zehn kam ein Anruf von dort, dass sie gestorben ist. Ein knappes Jahr nach ihrem Mann und ebenfalls nachts im Schlaf. Alle in Reichweite scheinenden Pläne zu ihrer baldigen betreuten Rückkehr nach Hause, nachdem sie sich im letzten Herbst aus gesundheitlichen Gründen in Behandlung und Pflege begeben musste, lösen sich in einem Moment in Luft auf. Aus meinem Wochenendbesuch in Berlin wird ein längerer Beistand, weitere Vorhaben für die nächsten Tage kippen, Theatertickets verfallen. Jetzt gibt es andere Prioritäten, neue Pläne sind vonnöten. Wir sollten baldmöglichst hinfahren, für einen Abschied, für die nötigsten Formalitäten, doch die Bahn streikt. Zwar womöglich kürzer als geplant, so ist zu lesen, aber mit einem Nachhall der Störungen durch den Ausstand wird gerechnet. Eine Autofahrt zum Elternhaus über 700 km wäre zwar möglich, aber wird nach Rücksprache mit den sich kümmernden Menschen vor Ort verworfen. Wir entscheiden uns für eine Zugfahrt am Dienstag nach dem sicheren Ende des Streiks. Am Abend des Dienstag treffen wir ein.

Surreal, am folgenden Tag in der Besprechung mit dem Bestatter, der auch beim Todesfall zuvor bereits tätig war, mehrmals den Satz »das machen wir dann genau wie letztes Mal« zu hören. Die gefestigte, ruhige und empathische Art des Bestatters glättet die Wellen des plötzlichen, traurigen Einschlags. Da ist jemand, der Halt gibt, weil er den Weg gut kennt, der jetzt zu gehen ist. Erste Male. Bei früheren Todesfällen in der Familie wurde der Anblick der Verstorbenen vor mir entweder ferngehalten, weil ich damals noch Kind war oder ich war erst bei der Beisetzung anwesend, wo ich nur Sarg oder Urne, Blumen und die Hinterbliebenen zu sehen bekam. Diesmal nun ein Abschiedsbesuch bei der toten Schwiegermutter in den Räumen des Bestatters, ein schlicht und doch feierlich eingerichtetes, gekühltes Zimmer. Sie erscheint mir kleiner, als ich sie von meinem letzten Besuch in Erinnerung habe. Ich hatte etwas Angst vor dieser für mich ersten letzten Begegnung, doch meine Beklommenheit weicht nun einer irgendwie warmen Traurigkeit. Ich spüre das Loch, das durch ihren Tod entsteht, aber auch Dankbarkeit, dass er so friedlich geschah und einen Anflug von Erleichterung über das, was ihr womöglich durch ihr hohes Alter oder die geschwächte Gesundheit erspart bleiben durfte. Mach’s gut – und gute Reise.

Wir sind für die Dauer unseres Besuchs im nun leeren Elternhaus eingezogen. Während der Wohnlichmachung stoße ich auf viele Kleinigkeiten, denen ich unter normalen Umständen keine Beachtung geschenkt hätte, die aber nun völlig neue Assoziationen auslösen. Der Name des Schwiegervaters, der noch auf dem Klingelschild steht. Ein angefangener handgeschriebener Einkaufszettel in der Küche: heller Balsamico und Heringsfilets in der Dose. Ausgeschnittene Rabattcoupons. Eine Deko-Sanduhr, die abgelaufen auf der Eckbank in der Küche steht.

In den Tagen danach weitere Begegnungen im engeren Umfeld, mit den Schwestern des Schwiegervaters, den Nachbarn, dem schon länger beschäftigten Gartenpfleger. Alle Menschen hier helfen, nehmen Anteil, bieten Beistand an. Schon am Tag zuvor hatte der Mann die Habseligkeiten seiner Mutter in der Betreuungseinrichtung abgeholt. Die Pflegekräfte hatten die Mutter sogar auf eigene Initiative direkt nach ihrem Tod bereits so vorbereitet und angekleidet, dass sogar der Bestatter keinen Anlass mehr sah, nachträglich noch etwas zu verändern. Keine Selbstverständlichkeit, auch dafür große Dankbarkeit. Und noch ein erstes Mal: selber eine Todesanzeige texten, setzen und gestalten.

Zwischendurch bleibt aber auch Zeit zum Durchatmen. Die bergige, bewaldete Landschaft bietet in direkter Umgebung alle Möglichkeiten, während steiler Anstiege und bei gemächlichem Wandern, den Kopf wieder etwas frei zu bekommen. Sogar ein Hauch von Frühling liegt ab und zu in der Luft, das zi-tüü, zi-tüü einer Kohlmeise ist zu hören, ein paar Blitzer blauen Himmels zwischen den Wolken. Auch das sorgt für Licht. Sogar Lachen fühlt sich okay an. Wir reden viel, der Mann und ich. Über das, was war, was kommt, was hätte sein können, was erstmal warten kann. Gute und tiefe Gespräche, die nicht so bald wieder verfliegen, sondern im Kopf bleiben werden. Nähe. Da-Sein.

Am Samstag, vier Tage nach Anreise, fuhren wir erst einmal wieder heim. Der nächste Besuch hier ist in gut sechs Wochen geplant, zur Beisetzung der Urne.

Das Leben geht weiter.