Kategorie: Von der Tageskarte

Kaum passiert, schon gebloggt

Schmeckt’s?

Gestern Abend habe ich mir einen langgehegten Wunsch erfüllt und bin anlässlich meines Geburtstages mit dem Mann in einem Berliner Restaurant essen gegangen, welches nicht nur überwiegend sehr gute Bewertungen im Netz aufweisen kann, sondern auch eine besondere (fleischliche) Spezialität anbietet, nämlich Steaks vom »Wagyū-Rind«. Die Feinheiten zur Herkunft und Klassifizierung dieser Fleischsorte und zum Unterschied zwischen diesen Steaks und den noch kostspieligeren vom »Kobe-Rind« möchte ich hier nicht vertiefen, das würde den Rahmen und das Thema dieses Blogbeitrags sprengen. Ich achte zwar fortschreitend darauf, seltener und weniger Fleisch zu mir zu nehmen, vor allem das ausnehmend klimaschädliche Rindfleisch, aber als kulinarisch interessierter Esser wollte ich es zumindest einmal probiert haben. Ich hatte bereits geschluckt, als ich vor der Reservierung online in die Speisekarte lugte, aber durch eine außerplanmäßige finanzielle Zuwendung in den letzten Monaten rückte die Erfüllung meines Wunsches nun in eine durchführbare Nähe und der feierliche Anlass gab mir dann den finalen Impuls, ihn endlich in die Tat umzusetzen. Es war tatsächlich die höchste Rechnung, die ich nach einem »dinner for two« jemals in einem Restaurant beglichen habe und es war auch ein durchaus hervorragendes Menü. Meine Vorspeise, Thunfischtatar auf Avocadowürfeln in einem Jus aus Ponzu-Saft und geröstetem Sesamöl, schmeckte vortrefflich. Das Steak war außergewöhlich zart und saftig, die Gemüsebeilagen, die Knoblauch-Parmesan-Pommes und der Trüffelmayo-Dip delikat, der gewählte feinfruchtige Weißwein und der vollmundige Rotwein passten gut zum Essen, der Service war freundlich und prompt – es war ein rundum schöner Abend.

Links die Vorspeise, rechts das legendäre »Wagyū-Rind« als Entrecote, 300 g, medium rare (Beilagen ohne Abbildung).

Es gab also eigentlich nichts zu beanstanden. Eigentlich. Denn wenn ich über die Details des Essens nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass ich einige der Bestandteile meiner Gerichte von früheren Mahlzeiten oder bei Gastronomiebesuchen zu anderen Anlässen und an anderen Orten als »besser« in Erinnerung habe. In der »Nordbornholms Røgeri«, einer Fischräucherei auf dieser schönen dänischen Insel, aß ich die in meiner Erinnerung bisher besten Pommes meines Lebens (siehe Bild am Ende des Beitrags), perfekt goldbraun in Erdnussöl frittiert, außen zartkross und innen saftig, und mit grobem lokalen Meersalz bestreut. Das bemerkenswerteste Steak, das ich jemals verzehrte, hatte ich tatsächlich selbst zubereitet, ausgewählt aus dem sehr gut sortierten Sortiment gereifter Steaks in der Fleischtheke eines EDEKA-Feinkostmarkts im etwas »feineren« Hamburger Stadtteil Uhlenhorst. Es schmeckte so unvergleichlich aromatisch »rindfleischig«, dass ich dieses Aroma als Messlatte bis heute auf der Zunge mit mir trage. Die Sauce Bearnaise, die der Mann zu seinem Gericht bestellt hatte, war fein emulgiert und definitiv hausgemacht, aber das Estragonaroma hatte ich in früheren Varianten schon intensiver und »runder« wahrgenommen. Ich verstand auch die »Idee« des verantwortlichen Kochs hinter der Pommeszubereitung, die frittierten Kartoffeln mit Parmesan und geröstetem Knoblauch auf eine neue geschmackliche Ebene heben zu wollen, aber bezüglich der Ausführung fand ich nach dem ersten Bissen, da gäbe es noch »Luft nach oben«. Ich will hier gar nicht auf hohem Niveau herummäkeln, vielmehr regte mich der gestrige Restaurantbesuch dazu an, darüber nachzudenken, was für mich eigentlich »gutes« oder Essen ausmacht oder was »besser« bedeutet, warum mir einige Mahlzeiten in der Vergangenheit so außergewöhnlich gut geschmeckt haben, warum ich mich noch nach Jahrzehnten an einzelne Zubereitungen oder Gerichte immer noch lebhaft erinnern kann und ob das alles wirklich immer zwingend mit dem Preis zusammenhängen muss, den man dafür bezahlt.

Meine Überlegungen, nach welchen Kriterien ich »Essen« beurteile, führten mich bislang zu fünf Achsen, die als persönliche Bewertungsskalen für mich dabei eine wichtige Rolle zu spielen scheinen. Sie überlappen sich zwar in einigen Aspekten, aber als grobes Raster funktionieren sie recht gut:

  • Absolut gezahlter Preis
    sehr gering < > für mich okay < > exorbitant hoch
  • Erhaltener Gegenwert/Zutaten/Zubereitung
    begeisternd/besser als erwartet < > angemessen < > enttäuschend
  • Präsentation/Attitüde
    lieblos/unoriginell < > einfach/unprätentiös < > aufwendig/meisterhaft < > protzig/übertrieben
  • Vertrautheit des Gerichts/der Rezeptur
    mir zur Genüge bekannt < > gelegentlich schon gegessen < > für mich absolut neu/überraschend
  • Umgebung/Situation/Anlass
    wertet den Genuss ab oder stört < > ist irrelevant < > wertet den Genuss auf

Den Service in einem Restaurant könnte man zwar als sechste Achse noch dazunehmen und er spielt auch für ein gastronomisches Gesamterlebnis m.E. eine wesentliche Rolle. Aber weil ich hier auch selbst zubereitetes Essen mit einbeziehe, lasse ich dieses Kriterium bewusst außen vor. Meine häufigste positive Erfahrung war, dass in Lokalen, die einem Hotel angegliedert sind, eine gute Servicekultur häufiger anzutreffen war als in solitären Restaurants. Die häufigste negative Erfahrung war, dass in Restaurants aller Preisklassen (auch dem gestern besuchten) den Servicekräften zu oft der Wille oder die Fähigkeit fehlt, mit einem 360°-Blick durch den Gastraum zu gehen und beispielsweise, wenn am Nebentisch abkassiert wurde, nach diesem Vorgang an allen umgebenden Tischen kurz zu prüfen, ob irgendwo sonst aktuell ein Servicebedarf besteht. Zeigen geleerte Gläser an, dass nachbestellt werden möchte? Schauen mich Gäste bedürftig an oder heben ihre Hand? Wie oft schon erlebte ich Kellner*innen, die mit schmalstdenkbarem Sichtfeld durch die Tischreihen schreiten, um sich an einem Tisch einer Aufgabe zu widmen, sich anschließend blind umzudrehen und schnurstracks Richtung Tresen/Küche abzutreten. Wieviel Umsatz und Gästewohlwollen durch dieses Defizit verlorengehen, möchte ich mir lieber nicht ausmalen.

Absolut gezahlter Preis – Muss gutes Essen viel Geld kosten?

Für mich beantworte ich diese Frage mit »nein«. Gutes Essen kann teuer sein, aber es muss nicht. Jeder gastronomische Betrieb und auch die Hersteller aller verwendeten Produkte und Zutaten möchten natürlich mit ihrem Erlös einen Gewinn erwirtschaften. Mir ist klar, dass ich somit bei einem auswärtigen Essen stets nicht nur den Gegenwert der Lebensmittel bezahle, sondern auch Raummiete, Personal, technische Betriebskosten usw. Viele Gastwirte pflegen, auf Getränke eine höhere Marge zu berechnen als auf die servierten Speisen, auch das ist absolut legitim, um mit gutem Essen auf seine Kosten zu kommen. Vom individuell ausgeprägten Gewinnstreben der Betreiber mal abgesehen, sind vermutlich die zwei häufigsten Optionen, um für »wenig Geld« sehr gut zu essen: erstens (z.B. im Urlaub) in einem Land zu speisen, in dem der Gast für seine heimische Währung einen außergewöhnlichen Gegenwert in lokalen Restaurants erhält, da ihm der vorteilhafte Wechselkurs dies ermöglicht. Da dieser Wertbetrachtung aber eine gewisse Verzerrung innewohnt, möchte ich mich bevorzugt der zweiten Option zuwenden: Man kann sehr gutes Essen für sehr wenig Geld genießen, wenn ein Gericht entweder sehr einfach zuzubereiten ist (und zudem gekonnt zubereitet wird!) bzw. wenn man für dessen Zubereitung nur sehr wenige Zutaten benötigt, die zudem auch in guter Qualität meist nicht viel kosten. Beispiel: eine Scheibe selbstgebackenen, noch ofenwarmen Brotes mit frischer Butter. Der Preis für Mehl, Wasser, Hefe und Salz ist vergleichsweise niedrig, ebenso die Kosten für den Strom, der zum Backen benötigt wird. Die Butter ist fast das Teuerste an dieser Speise, aber insgesamt gehört diese Köstlichkeit zu den kostengünstigsten Genüssen, die ich kenne. Weitere Beispiele für ebenso simple und kostengünstige wie köstliche Zubereitungen sind etwa Spaghetti aglio e olio, Misosuppe, Hummus oder Waldorfsalat. Bei eigener Zubereitung kann man den Preis zusätzlich senken, wenn man mit der saisonalen Verfügbarkeit z.B. der gebräuchlichsten Gemüsezutaten vertraut ist und diese bevorzugt dann einkauft und nutzt, wenn deren Preise auf ihrem Jahrestief sind. Es hilft aus meiner Sicht ohnehin, sich mit etwas Warenkunde und eigenem Kochwissen auszustatten, sowohl um selbst günstige Speisen zubereiten zu können als auch um die Qualität und den Gegenwert von außer Haus genossenen oder fertig gekauften Gerichten besser beurteilen zu können.

Gegenwert – Was bekomme ich für mein Geld?

Auf dieser Achse habe ich schon ein ziemlich breites Spektrum an Erfahrungen machen können. Ich möchte behaupten, dass inzwischen in vielen Fällen schon an der Speisekarte, die außen vor einem Restaurant aushängt, beurteilen kann, wie beseelt und phantasievoll in der Küche gearbeitet wird. Wenn ich bereits dort eine Ahnung bekomme, dass der Küchenchef sich mit Ausgangsprodukten, Würzungen, Aromen, Konsistenzen und Texturen auskennt, damit experimentiert und spielt und so einen Mehrwert für seine Gäste zu kreieren versucht, der über den Preis der Zutaten hinausgeht. Das gilt aber eher für Restaurants, die »neue« Gerichte kreieren. Wenn ich ein Restaurant besuche, das auf seiner Karte fast nur altbekannte »Klassiker« auflistet, bin ich auf Gästebewertungen im Netz angewiesen oder muss es selbst herausfinden. Denn hinter »Wiener Schnitzel«, »Gyros mit Zaziki und Pommes«, »Teriyaki-Ente« oder »Spaghetti Carbonara« kann sich so ziemlich alles verbergen. Das Schnitzel kann hauchdünn flachgeklopft, zart paniert und goldbraun frittiert auf dem Teller landen – oder als zäher Fladen mit fettglänzender brotig-dicker Panade. Die Pasta können al dente mit einem sämigen Film frischer, halbgestockter Eiermasse und feinen Streifen Guanciale-Speck serviert werden – oder man versteht in dem gewählten Restaurant darunter überkochte Nudeln mit einer breiigen Sahnesoße, in der Presskochschinkenwürfel schwimmen. Im schlimmsten Fall muss man für beide Extreme einen ähnlichen Preis bezahlen. Da ich einige dieser Klassiker schon in hervorragender Qualität probieren durfte, bestelle ich sie oft, um sie als »Visitenkarte der Küche« einzustufen. In einem chinesischen Restaurant ist nach meiner Erfahrung die (meist recht günstige) Wan-Tan-Suppe als Vorspeise ein guter Indikator für das Niveau der Restaurantküche insgesamt. Wenn eine aromatische, selbstgekochte Bouillon im Schälchen schwappt, mit hauchdünnen Teigtaschen, die mit fein gewürzter hausgemachter Hackmasse gefüllt sind und zwischen den kleinen Fettaugen auf der Suppe knackige Lauchzwiebelringe schwimmen, darf ich davon ausgehen, dass die Hingabe, die zu dieser Suppe führte, auch in die restlichen Vorspeisen und Hauptgerichte einfließt. In einer Eisdiele ist für mich das Straciatellaeis der Lackmustest, in einem Bistro oder Steakhaus der Caesar-Salat.

Die größten Enttäuschungen, an die ich mich erinnern kann, waren ein »Carpaccio vom Rind« vor Jahrzehnten in einem italienischen Restaurant in Hannover und ein knorpeliges, zähes Gulasch in einem Budapester Lokal, das ich im Nachhinein als »Touristenfalle« bezeichnen würde. Das Carpaccio bestand aus trocken servierten dünnen Scheiben Rinderfilet (immerhin), die mit getrockneter Petersilie aus der Streudose (!) und fertig geriebenem Tütenparmesan (!!) bestreut waren. Kein Salz, kein Pfeffer, kein Olivenöl, es war eine satte »Null« auf der Bewertungsskala. Da ich damals als junger Gast noch schüchterner mit offensiv geäußerter Kritik war, habe ich mich meiner Erinnerung nach nicht beschwert, sondern lediglich auf das Geben von Trinkgeld verzichtet. Das würde mir heute definitiv nicht mehr passieren.

Die größten Überraschungen erlebte ich fast immer dann, wenn ich ein sehr »simples« Gericht bestellte und die Zubereitung oder Produktqualität meine Erwartungen maximal übertraf. So ist mir bis heute ein Teller »gebratene Scampi mit Knoblauch« in Erinnerung geblieben, den ich auf einer Restaurantterrasse in einem Küstenstädtchen in der Toscana serviert bekam. Die Scampi waren riesig und so perfekt gebraten, dass man die Schale als rösche superdünne Kruste einfach mit verspeisen konnte, das Olivenöl, mit dem sie glasiert waren, hatte das fein-geröstete, karamellisierte Aroma der gebräunten Knoblauchscheiben assimiliert, die zwischen den Scampi lagen. Dazu etwas Salz und Pfeffer, zehn von zehn Punkten und ein unübertroffener »value for money«. In einem gutbürgerlichen Gasthof im Fichtelgebirge waren es kürzlich die sonst eher achtlos mitgemampften Kartoffelklöße, die meine Aufmerksamkeit weckten, da ich noch nie eine so feine, kartoffelige Zubereitung mit perfekter Konsistenz erlebt hatte. Manchmal sind es auch die kleinen »Dreingaben« des Restaurants zu den eigentlich bestellten Gerichten. Ich erinnere mich an manchen famosen Korb hausgebackenen Brotes, manchmal mit ebenfalls selbstgemachten originellen Dips oder Aufstrichen. Auch ein »Gruß aus der Küche« in einem Restaurant in der Nähe von Meißen darf da nicht unerwähnt bleiben: eine kleine Espressotasse mit einigen Löffeln einer tatsächlich mit Espresso versetzten, leicht schaumigen Hummerbisque. Diesen herrlichen Geschmack aus Krustentier und Kaffee werde ich niemals vergessen. Wenn ich Enthusiasmus, Phantasie und Kompetenz, auch bei den einfachsten Speisen, erschmecken kann, dann bekomme ich meistens mehr, als ich anschließend mit meinem Geld vergüte.

Präsentation – Die »Show« vom Ambiente bis zum Teller

Ein weites Feld ist auch diese Bewertungsachse. Oft beginnt es schon bei der Eigenwerbung auf der Website des Restaurants. Die Information, nach der ich auf Restaurantwebsites bisher am häufigsten suchen musste, betraf *Tusch!* – die Öffnungszeiten. Stehen sie auf jeder Unterseite im Footer? Stehen sie bei »Wir über uns«? Bei »Reservieren«? Bei »Kontakt«? Werden sie womöglich überhaupt nicht auf der Website genannt, sondern nur im Google-Maps-Eintrag? Und stimmen sie? Sind Ruhetage, Urlaube, vorübergehende saisonale Schließungen korrekt und aktuell hinterlegt? Nicht selten habe ich trotz aufgespürter Angaben dann später vor verschlossenen Türen gestanden oder die Website frustriert verlassen und mich anderen Lokalitäten zugewandt. Dann eben nicht.

Wie präsentiert sich das Restaurant insgesamt gegenüber prospektiven Gästen? Oft findet sich irgendwo online oder im Vorwort der Speisekarte ein Absatz mit der Überschrift »Unsere Philosophie«. Da steht dann was von frischen Zutaten, aufmerksamem Service, Gastlichkeit und so weiter. Meistens aber wären diese Texte zwischen verschiedenen Restaurants ohne Weiteres austauschbar. Entweder sind es blumig formulierte Selbstverständlichkeiten oder die nachfolgende Auflistung der tatsächlich bestellbaren Gerichte und Zutaten ist bei der Vorabbewertung des Lokals weitaus hilfreicher. Auf der Suche nach einem guten Berliner Steakhaus für mein anfangs erwähntes Geburtstagsdinner stieß ich auf ein Restaurant, das dem Thema »Exklusivität« eine ganz neue Facette hinzufügte. »Willkommen im Goldhorn‑Beefclub Berlin, einem der exklusivsten Beefclubs der Welt« stand auf der Website zu lesen. Aha, dachte ich, da kann man dann wohl nur speisen, wenn man diesem »Club« als Mitglied beitritt? Doch kurz darauf wurde ein Banner eingeblendet »Kein Mitglied? Kein Problem! Reservieren Sie einfach links auf Quandoo. Sie erhalten so eine kostenlose 24 h Mitgliedschaft«. Also »super exklusiv, aber eigentlich kann jeder zu uns kommen«. Mhm, soso, aha, naja, nundenn. Auch die sonderbare Verknüpfung zwischen gegrilltem Fleisch und der Definition von »Männlichkeit«, die in einem Bildmotiv der Seite zum Ausdruck kommt, wo ein Kleinkind neben einem Steak mit der Zeile »SO WERDEN MÄNNER GEMACHT« zu sehen war, mutete mir seltsam an. Da wollte ich nicht essen.

Da ich den Konzepten »Überkonsum« und »exzessiver materieller Luxus« eher skeptisch gegenüberstehe, sprechen mich auch Restaurants, die ihre vermeintliche Exklusivität durch kulinarische, innenarchitektonische oder präsentationsbezogene Luxuskomponenten zu pimpen versuchen, in keinster Weise an. Diese Dubaiattitüde à la »alles muss golden glänzen oder mit Glitzersteinen beklebt sein«, »was kostet die Welt, wir fliegen Wasser in die Wüste, bauen Inseln ins Meer, wo vorher keine waren, jedes unserer Autos/Häuser/Yachten kostet mehr, als ein Durchschnittsmensch in Jahrzehnten verdient«, die mit Luxusmarken-Logos bepflasterten Taschen, Koffer, Jacken, Mäntel, all das wirkt auf mich derart aus der Zeit gefallen, monströs und in Zeiten der Klimakrise maximal unangemessen, dass es mich eher abstößt. »Der Champagner floss in Strömen«, heißt es ja bisweilen. Aber warum sollte er das? Das zentrale Kennzeichen des Besonderen ist es doch, dass es etwas Besonderes ist. Wenn es jederzeit in unbegrenzter Menge zur Verfügung steht und jeden Tag übermäßig konsumiert werden kann, ist es doch eigentlich nur noch so besonders wie Rübenzucker. In diesem Zusammenhang las ich von einer pseudoprominenten Person, die ebenfalls ein oder mehrere »edle« Steakhäuser betreibt, wo manche der servierten Fleischgerichte großzügig mit Blattgold belegt werden. Zusätzlich wird wohl bei Tisch einer Art »Gewürzchoreographie« zelebriert, bei der das aufgetragene Fleisch mit flamencoähnlichen Armbewegungen aus großer Höhe mit grobem Salz bestreut wird. Meine Braue hebt sich. Große Fleischstücke nur der Show halber vollflächig mit Blattgold zu »garnieren«, das dann – pardon – am nächsten Tag wieder ausgekackt und weggespült wird – ich weiß gar nicht, wo ich anfangen sollte, diesem gastronomischen Auswuchs und der Scheißegalhaltung dahinter die Bezeichnung »Luxus« abzusprechen. Und die ponyhohen Pfeffermühlen in manchen Restaurants fand ich schon früher albern, da brauch’ ich nicht noch einen Salztanz.

Ich habe überhaupt nichts gegen eine edle, kultivierte, exklusive Atmosphäre oder Speisenpräsentation, aber – vielleicht fühle ich mich auch seit fast 30 Jahren deshalb in meinem Wohnort Hamburg so wohl – gerne mit Understatement, Stilgefühl und Dezenz. Ich mag es z.B., wenn bei einer Suppe zuerst der Teller mit der warmen Einlage auf den Tisch gestellt wird und die Servicekraft dann aus einer Kanne die flüssige Suppe dazugießt. Mir gefällt gut gestaltetes Geschirr, es muss kein Luxusporzellan sein, auch Steingut oder Keramik mit dem Charme und den leichten Unregelmäßigkeiten einer Handfertigung kann sehr stilvoll sein. Dunkel erinnere ich mich an den Besuch eines Restaurants (vielleicht war es Schaarschmidts Restaurant in Leipzig), dessen Gasträume mehrere verschachtelte kleine Zimmer waren, die mit dunklen Holzmöbeln und hohen Bücherregalen wie »Omas Wohnzimmer« eingerichtet waren und wo jedes Gedeck, jeder Teller unterschiedlich waren. Es wirkte tatsächlich, als würden die Speisen auf dem über Jahrzehnte angesammelten Geschirr aus dem Bestand einer Großmutter serviert – und es passte perfekt zu dem umgebenden Ambiente. Für mich müssen im Januar auch keine Deko-Erdbeeren oder -Johannisbeeren am Tellerrand liegen, die saisonfern von sonstwoher eingeflogen wurden und im schlimmsten Fall nicht mitgegessen, sondern nach dem Abräumen weggeworfen werden. Vermissen würde ich auch nicht den Industriebalsamicosirup, mit dem allzu gern Tellerränder oder Gerichte beschnörkelt werden. Die einzeln auf einem Stück Fisch oder Fleisch platzierte Ranke einer Erbsensprosse oder eine dekorativ eingesteckte Parmesanhippe erfreuen das Auge ebenso. Less is more, Unmaß, geh weg.

Und last not least habe ich auch schon hervorragend in Restaurants gegessen, in denen überhaupt kein Augenmerk auf die Präsentation oder das Ambiente gerichtet wurde. Ich erinnere mich an ein komplett weiß gefliestes Lokal mit eiskalt gleißender Neonbeleuchtung und kunststoffgepolstertem Küchengestühl in Portugal. Der Anblick des Gastraumes geriet aber schnell zur Nebensache angesichts der hervorragenden »Lulas grelhadas«, die dort zubereitet und aufgetragen wurden: fangfrische Calamari-Tuben, auf dem Grill gebräunt, mit Zitrone, Salz, Pfeffer und Knoblauch gewürzt, dazu Olivenöl und einfache Salzkartoffeln mit Petersilie, serviert auf einem schmucklosen weißen Porzellanteller. Perfekt!

Eine gelungene, stimmige und unprätentiöse Präsentation kann den Genuss eines guten Essens deutlich aufwerten, aber aus einem uninspirierten oder minderwertigen Gericht kein Festmahl machen. Die Puzzleteile müssen sich authentisch ineinanderfügen. Prunk, Protz und Attitüde sollten das verzehrte Mahl, auch wenn es mit Können und Hingabe komponiert und zubereitet wurde, nicht übertrumpfen. Ich persönlich mag es, wenn das Essen die Hauptrolle spielt und nicht bloß Statist in einer überbordenden Gastro-Show ist, die allzu oft nur entweder dem Reibach oder der Ablenkung dient.

Vertrautheit – wieviel macht der Reiz des Neuen aus?

Vielen der erinnerungswürdigsten Speisen meines Lebens begegnete ich in einem Moment, wo ich dergleichen zum allerersten Mal überhaupt aß. Das oben bereits erwähnte schlechteste Rindercarpaccio ever war tatsächlich eine Enttäuschung, die zeitlich sehr dicht auf meine allererste Begegnung mit diesem Klassiker der italienischen Antipasti folgte. Ich war von einem der Chefs der Werbeagentur, in der ich während meines Designstudiums als »Freier« nebenbei arbeitete, zum Abendessen in Frankfurt/Main eingeladen worden, weil ich ihm als Fahrer am Steuer eines Lieferwagens helfen sollte, einige Möbelstücke von dort aus einem aufgelösten Zweitbüro abzuholen und zum Agentursitz nach Hildesheim zurückzutransportieren. Sein Lieblingsitaliener, sagte er, sei das besuchte Restaurant und ich könne bestellen, was immer ich wollte. Und so probierte ich mein allererstes Carpaccio – es war ein Gedicht. Hauchzarte rohe Rinderfiletscheiben, mit gutem Olivenöl und Zitrone beträufelt, dazu frisch gehobelter Parmesan, dünn geschnittene Champignons und etwas Rucola. Ich war begeistert und habe diese Komposition seither schon einige Male zu Hause nachempfunden. An mein damals gewähltes Hauptgericht erinnere ich mich nicht. Auch meine erste Begegnung mit der indischen Küche war eine Offenbarung, die ich während einer Studienreise nach Chicago, gemeinsam mit einigen Kommilitonen, erlebte. Seit meinem damaligen »Chicken Tikka Masala« bin ich der indischen Küche verfallen und diese Gaumenliebe hält bis heute unvermindert an. Oder mein erstes Hummus, serviert als eins von vielen kleinen Gedecken einer üppigen Mazza-Platte im Restaurant Saliba in Hamburg. Der nussige Geschmack, die cremige Konsistenz, die Gewürze darin – noch nie zuvor hatte ich so etwas vorher geschmeckt. Die anderen Kompositionen waren ebenso fulminant: gebratenes Lammhack mit Zimt und gerösteten Pinienkernen, rauchiges Auberginenpüree, zitroniges Tabouleh – ich betrat bei dieser ersten Begegnung mit der syrisch/libanesischen Küche eine komplett neue Welt, die ebenfalls bis heute zu meinen Lieblingsländerküchen gehört.

Es liegt vermutlich in der Natur der Jugendjahre, dass man in den ersten 10 bis vielleicht 30 Jahren seines Lebens sehr viel häufiger mit neuen Genüssen und Speisen konfrontiert wird als in höherem Alter – es sei denn, man legt es zeit seines Lebens darauf an, auch weiterhin bewusst ständig Neues zu probieren. Ich glaube, der Erstkontakt mit einem neuen Gericht hat immer das Potenzial zu einer besonders nachhaltigen Prägung – das kann sowohl im Positiven als auch im Negativen stattfinden. Schade ist es, wenn ein erstmals probiertes Gericht allein aufgrund von Fehlern oder Defiziten bei der Zubereitung als missliebig bewertet wird und man daraus pauschal die Konsequenz zieht, dieses nie wieder zu essen. Damit werden oft viele Chancen der Rehabilitation einer Speise vertan, die, in einer versierten Küche zubereitet, den einstigen Skeptiker womöglich geschmacklich überzeugen, begeistern und zurückgewinnen könnte.

Ist ein Gericht, eine Zubereitung oder eine Länderküche vertraut und auf dem Tisch steht die hundertste Currywurst, das hundertste Sushigedeck, die hundertste Bolognese, dann erschöpft sich der Neuigkeitswert dieser Speise und ihres Beeindruckungspotenzials fast nur noch in Nuancen. Wenn man diesen trotzdem Aufmerksamkeit schenken will und kann, muss Essen dadurch keineswegs langweiliger werden, denn auch die bewusste Suche nach der »Best of«-Zubereitung eines eigentlich zur Genüge vertrauten Gerichts kann durchaus aufregend und sehr schmackhaft sein. Ich versuche selbst, etwa beim Brotbacken oder beim Zubereiten von Hummus, stetig besser zu werden, meine Rezepturen und Praktiken zu verfeinern und habe viel Spaß daran. Aber einen solchen kulinarischen »Flash« wie bei der Verkostung meines ersten Carpaccio erlebe ich nach wie vor selten.

Natürlich will ich den wiederholten Genuss der Lieblingsspeise, idealerweise jedes Mal in genau derselben bevorzugten Zubereitungsweise, keineswegs abwerten. Es ist etwas Wunderbares, wenn ein Gericht, das man liebt und sein Leben lang immer und immer wieder gerne genießt, endlich mal wieder auf dem Tisch stehen kann, insbesondere, wenn man schon seit längerem mal wieder Appetit darauf hatte. Meine Mutter fragt mich immer, welches meiner Leibgerichte aus ihrem Repertoire sie kochen soll, wenn ich meinen nächsten Familienbesuch avisiere. Es gibt vier bis fünf Gerichte, die ich selber noch nie exakt so hinbekommen habe wie sie: Hühnerfrikassee, Kohlrouladen, Gulasch mit Nudeln und grüner Bohneneintopf. Jedes Mal ein Hochgenuss, aber die Erinnerung an die einzelnen wiederkehrenden Verzehrmomente wird vermutlich nicht immer derart klar auf einen bestimmten Zeitpunkt hin erinnert werden können wie bei den oben genannten geschmacklichen Erstkontakten.

Situation – wo, wann und warum wird gegessen?

Vermutlich kennen es einige: Ein lauer Sommerabend in südlichen Gefilden, ein kleiner Tisch auf der Außenterrasse eines kleinen Dorfrestaurants, pfirsichfarbene Reste von Abendrot säumen den Horizont, am Zenit des Himmelsgewölbes erscheinen die ersten Sterne, Grillen zirpen, das Geräusch eines Motorrollers und Gesprächsfetzen aus den umgebenden Gassen, leise Musik … und der rote Wein im Glas schmeckt so gut wie noch nie ein Rotwein geschmeckt hat. Der Ober oder die Speisekarte werden konsultiert, um zu erinnern, wie das feine Gewächs heißt, der Name wird notiert, vielleicht das Etikett der Flasche abfotografiert. Wieder daheim, wird das Internet umgestülpt auf der Suche nach diesem fantastischen Tropfen. Endlich – ein kleiner Weinhändler bietet den gesuchten Roten feil, er wird bestellt und bald schon freudestrahlend dem Postpaket enthoben.

Bei mir ging es anschließend zumeist auf zwei Pfaden weiter: Entweder verstaubte die rare Anschaffung im Regal, da ich allzu zögerlich auf einen Anlass wartete, der es wert wäre, endlich dieses alkoholische Souvenir zu dekantieren und wenn der Landwein dann doch endlich nach acht oder zehn Jahren im Glas landet, ist die rubinrote Farbe längst einem lebrigen Braun gewichen und er durch Überlagerung ungenießbar geworden. Oder er wird recht zeitig geöffnet, vielleicht ein den damaligen Urlaub assoziierendes Menü gezaubert, idealerweise stimmt sogar die Jahreszeit und es kann auf dem Balkon gespeist werden. Doch der erste Schluck entzaubert das Mitbringsel als einen bestenfalls durchschnittlichen Rebensaft, der in jedem Supermarkt für 3,99 in gleicher Qualität zu erstehen wäre. Es war nicht der Wein, der an jenem wunderbaren Abend so famos, so rund, aromatisch, so perfekt war, sondern die damalige Situation, die so berauschend empfundene Umgebung mit all ihren sensorischen und emotionalen Reizen.

Eine zweite Anekdote, die daran anknüpft, habe ich während meines ersten Urlaubs in der Toskana erlebt: Die (deutsche) Besitzerin der damaligen Ferienunterkunft, eines kleinen alten Häuschens in der Nähe des Ortes Greve, hatte für unsere etwa sechs Personen umfassende »Clique« einen italienischen Abend mit einem Menü unter freiem Himmel im Garten des Anwesens ausgerichtet. Es gab wunderbare hausgemachte Antipasti, köstliche Pastagerichte, delikaten Salat und hervorragenden Wein. Alle waren beseelt, dieses Dinner war einfach perfekt – die warme Abendbrise, die Landschaft, die Unterkunft, das Essen. Als Digestif servierte die Hausherrin für alle, die wollten, eine Runde Grappa. Auch dieser wurde hoch gelobt »super aromatisch«, »lecker«, »sowas kriegt man eben nur hier in Italien«. Doch die Gastgeberin wartete mit einer Pointe auf, mit der niemand am Tisch gerechnet hatte: »Nee, den bringe ich immer von ALDI mit, wenn ich nach Deutschland fliege. So einen guten habe ich hier noch nicht gefunden.«

Der Einfluss der jeweiligen Situation darauf, wie gut ein Essen schmeckt – ob in einem Restaurant oder selbst zubereitet – kann meiner Erfahrung nach riesig sein. Welcher Anlass liegt dem Essen zugrunde – ist es ein Candlelight-Dinner, ein Familienfest, die eigene Hochzeit oder der lang ersehnte Traumurlaub? Wo wird das Essen verzehrt – an einer romantischen Hafenpromenade, in freier Natur bei einem einsamen Picknick, im Restaurant auf der Dachterrasse eines Wolkenkratzers oder im Bordrestaurant eines Schiffs? Wer leistet mir beim Essen Gesellschaft – der/die Geliebte, die Eltern, alte, womöglich lang nicht getroffene Freunde? Die Endorphine, die während solcher Stunden ausgeschüttet werden, können allerhand objektive Unzulänglichkeiten bei Geschmack und Qualität der genossenen Speisen und Getränke glattbügeln oder sogar ins Gegenteil verkehren, davon bin ich überzeugt. Genauso können unangenehme Umstände – schlechter Service, ein Streit unter den Gästen, penetrante Gesellschaft am Nachbartisch, eine verstopfte Gästetoilette oder andere Stressfaktoren – einen kulinarisch eigentlich nicht zu beanstandenden Restaurantbesuch zur gefühlten und dauerhaft als solche erinnerten Katastrophe brandmarken.

Ich bin überzeugt, man schmeckt nicht nur mit Zunge, Nase und Gaumen, es sind alle Sinne, die beim Genuss eines guten, köstlichen und erinnerungswürdigen Mahls involviert sind und noch viele weitere Faktoren. Essen ist eine ganzheitliche Erfahrung, manche der Voraussetzungen dafür kann man trainieren oder erlernen, einige kann man kontrollieren oder zu organisieren versuchen, aber andere bleiben schlicht dem Zufall überlassen.

Bestimmt habe ich beim Nachdenken über gutes Essen noch einiges vergessen oder außer Acht gelassen. Ich freue mich wie immer über Ergänzungen, eigene Gedanken, Widersprechen oder Richtigstellungen in den Kommentaren und wünsche allzeit guten Appetit!

Die besten Pommes der Welt? Für mich jedenfalls waren sie es in dem Moment und an dem Ort, an dem ich sie aß.

Vom Glück

Wer den benannten Text von Max Goldt in voller Länge anhören mag, kann das (derzeit) hier tun.

Vor knapp vier Wochen wohnte ich im Berliner Kabarett »Die Distel« nach langer Zeit mal wieder einer Lesung von Max Goldt bei. Ich hatte ›den Mann‹ zu Weihnachten mit einem Ticket für dieses Kulturevent bedacht und es war ein wunderschöner Abend mit vielen wohlklingenden, klugen oder lustigen Sätzen, sehr oft waren darin auch alle drei Eigenschaften vereint. In einem der Texte widmete sich der Autor in der ihm eigenen Weise dem Glück – und abgesehen davon, dass mir der Text sehr gut gefiel, stieß er in meinem Kopf auch das Nachdenken darüber an, wie ich für mich persönlich den Begriff »Glück« definieren oder umschreiben würde. Nach einer Weile fiel mir eine Formulierung ein, die nun schon gut zehn Tage in meinem Hirn vor sich hin marinierte und dort reifen konnte, mit der ich aber nach wie vor sehr zufrieden bin. Eine Voraussetzung für das Erkennen eines Glücksgefühls (gemäß meiner Definition) ist allerdings, dass jeder, der dieses bewusst wahrnehmen will, zuvor eine Antenne dafür entwickeln müsste, ein Radar, einen Sensor, wie auch immer man es nennen mag. Ich bin der festen Überzeugung, dass viele Menschen Momente des Glücks erleben, jedoch ohne sich dessen bewusst zu sein. Glück hat keine feste Dauer, es kann nur eine Hunderstel Sekunde währen, für manchen vielleicht der Moment, in dem eine Achterbahn den Zenit der Schienenstrecke erreicht hat und der Gravitationsdruck beim Aufstieg dem Gefühl der Schwerelosigkeit beim Hinuntersausen weicht. Glück kann einen Tag lang währen, vielleicht bei einem Besuch der lang nicht gesehenen Familie. Es kann auch Wochen andauern, wenn zum Beispiel ein Urlaub bei An- und Abreise, Wetter, Unterkunft, Verpflegung und während aller Unternehmungen nahezu perfekt verläuft. Es gibt stille Momente des Glücks, die man durchaus auch ganz alleine erleben kann. Es gibt aber auch turbulente, laute, vor Sinneseindrücken nur so strotzende, gesellige Erlebnisse, die man glücklich erlebt. Manchmal passiert womöglich so viel auf einmal, dass man gar keine Zeit hat, sich bewusst zu werden, dass dieser Zeitraum von Glück durchdrungen ist. Bisweilen ist es eventuell so still, dass man gar nicht auf den Gedanken kommt, dass etwas so ruhiges und solitär Erlebtes die Bezeichnung Glück verdient haben könnte. Deshalb finde ich es so wichtig, dieses ganz individuelle Gespür zur Erkennung, zum kurzen Innehalten und zur bewussten Feststellung zu entwickeln »Ah, ich bin gerade glücklich!«. Denn wenn man dem Glück mehrmals derart bewusst ins Gesicht schaut, glaube ich, erkennt man es nach und nach auch schneller und öfter wieder, wenn es einem erneut begegnet.

Meine Definition für das subjektive Gefühl von Glück würde ich (derzeit) so formulieren:

»Glück ist jeder auch noch so kurze Moment, in dem ich mich absolut frei fühle sowohl von jeglichem materiellen oder emotionalen Bedarf als auch von der Sehnsucht nach irgendetwas anderem.«

Wohlgemerkt, es geht um das Gefühl. Ich kann unter Geldnot leiden, aber vielleicht gibt es trotzdem Momente, in denen ich dies in wachem, unberauschten Zustand vergesse. Ich kann gerade krank oder einsam sein, doch beim Gärtnern oder dem Beobachten eines singenden Vogels wird auch dieser Umstand womöglich für eine Zeit lang irrelevant. So wie es Menschen gibt, die mehr Geld haben als sie je werden ausgeben können und die trotzdem unglücklich sind, möchte ich daran glauben, dass es auch das Gegenteil gibt.

Was ist Eure Definition von Glück? Seht Ihr das ähnlich, habt Ihr Ergänzungen oder würdet Ihr mir komplett widersprechen? Ich freue mich über Kommentare hier unter dem Beitrag oder auf Mastodon.

Meine Füße und ein fotografischer Beleg dafür, dass sich schon im November 2011 wohl jemand dieselbe Frage stellte.

Brombeerwörter

Als ich neulich am Wochenende mit dem Mann auf einer Wanderung war, mussten wir uns an einer durch tiefen Schlamm unwegsam gewordenen Wegstrecke gezwungenermaßen einen Umweg durchs Unterholz parallel zum Wanderweg suchen. Dabei blieb ich mit meiner Winterjacke im Vorbeigehen ohne Sachschäden an einer Brombeerranke hängen und stoppte kurz, um die Dornen aus dem Jackenstoff zu lösen, ehe ich weiterging.

Ich bin seit jeher ein Mensch, der Freude an Sprache hat und der es liebt, einen möglichst großen Wortschatz zu haben. Ich schätze es, die Nuancen zu kennen und in von mir verfassten oder mündlich geäußerten Texten zu nutzen, die mir durch Synonyme gegeben sind, egal, ob es in einer alltäglichen E-Mail, während einer beruflich gehaltenen Präsentation, in einem Gespräch oder in einem zur Veröffentlichung vorgesehenen Beitrag geschieht. Ebenso aufmerksam beobachte ich Wortwahl und Formulierungen in allem, was ich anderswo lese oder höre: Werbetexte, Nachrichtenmeldungen, Zeitungen und Zeitschriften, Blogbeiträge, Social-Media-Postings und -Kommentare oder bei Texten in Büchern. Und manchmal habe ich bei der Wahrnehmung von Texten und Formulierungen genau dasselbe Gefühl wie bei der anfangs geschilderten Wanderung. Plötzlich bleibe ich im an mir vorbeilaufenden Text an etwas hängen, das mich innehalten lässt und davon abhält, den nachfolgenden Worten in ungestörtem Fluss zu folgen. Manchmal sind es Veränderungen, die in der (Umgangs)sprache mit der Zeit unausweichlich entstanden und die ungewohnt oder störend wirken. Viele Ausdrücke, Regeln und Vokabeln haben sich gewandelt, seit ich damit begann, Sprache zu erlernen und bewusst zu gebrauchen. Ich habe die Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 erlebt sowie deren Überarbeitungen in den Jahren 2004 und 2006. Der neue Gebrauch von »ß« und »ss« ist mir mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen, aber ich möchte z.B. immer noch lieber »Portemonnaie« schreiben, weil das so viel schöner aussieht als »Port­mo­nee«. Ist ja auch erlaubt. Gefühlt steht im Duden sowieso bei jedem zweiten Fall, dem ich bei Sprachzweifeln hinterhergoogle, »kann man so schreiben, kann man aber auch so schreiben«. Dann such’ ich mir eben das aus, das mir am meisten pläsiert.

Im Job werde ich oft gebeten, Texte von Kollegen zu lektorieren, weil ich das recht gut hinbekomme und mir Auffälligkeiten und Unrichtigkeiten im Text schnell ins Auge springen. Ich war schon immer eher ein praktischer Sprachnutzer, kein theoretischer. Mir fällt es leicht, Formulierungen hinzuschreiben wie »das Talent, dessen materielle Vorzüge auszukosten ihm in den folgenden Jahren vergönnt war«, aber ich zucke ratlos mit den Schultern, wenn mich ein in der Theorie versierter Deutschprofi fragen würde, wie diese zu benennen wären. Plusquamperfekt, Präteritum, Partizip, Futur zwei – keine Ahnung, lasst mich einfach hier sitzen, schreiben und reden.

Da ich viel im Internet lese, fallen mir auch oft Tipp-, Schreib- und Formulierungsfehler auf, die in allerlei Postings vorkommen. Da bleibe ich ebenfalls oft hängen, aber im privaten Umfeld finde ich es unangemessen und schulmeisterlich, darauf zu reagieren und verkneife es mir z.B., eine (wie freundlich auch immer formulierte) Nachricht an die Verfasser*innen zu versenden, um z.B. auf eine Formulierung wie »diese Freiheit hat seinen Preis« in einem Posting oder einem Blog hinzuweisen. Aber das Brombeergefühl beim Lesen kann ich trotzdem nicht abschalten (Anm.: Wer hingegen in diesem Text sprachliche oder grammatikalische Fehler findet, darf mich gerne darauf hinweisen).

Betrüblicher ist es, in Werbetexten solche Schnitzer vorzufinden, die ja zumeist mit dem Ziel erstellt wurden, die lesenden Menschen zum Geldausgeben zu bewegen. Da sollte man doch eigentlich verlangen können, dass die dafür verantwortlichen Mitarbeiter*innen sich entweder selbst ein bisschen mehr Mühe geben, korrekte Texte abzuliefern oder, wenn sie dies selbst nicht können oder wollen, jemanden damit beauftragen, diese professionell oder sachkundig zu lektorieren. Sehr viele der auffälligen Fehler in Texten wirken überdies wie Flüchtigkeitsfehler. Schnell etwas in die Tastatur gehauen und auf »veröffentlichen«, »drucken«, »senden« oder »produzieren« geklickt, ohne sogar kurze Texte oder einzelne Zeilen zuvor noch einmal querzulesen. In meinem sporadisch gepflegten Tumblr-Blog »Pfuschmuseum« habe ich einige dieser Stilblüten gesammelt. Da denke ich dann immer: Wenn ich als Kunde derart schlampig umworben werde, wieso sollte ich dann der Behauptung der Werbetreibenden Glauben schenken, dass mein Wohlergehen oder mein Nutzen im Fokus ihrer Bemühungen um mein Interesse und meinen Kaufimpuls stehen und nicht bloß mein Geld? Bestimmt fallen von solchen Produkten bald irgendwelche Teile ab, die Bedienung der Anschaffungen ist unerfreulich oder die geplante Obsolenzenz der Waren haucht einem schon beim Unboxing aus dem Karton entgegen.

Update (07. März 2024): Neue Stilblüten aus der Echtzeit-Werbepfuscherei.

Am meisten jedoch schmerzen mich solche Fehler in vermeintlich professionell betriebenen Informations- und Nachrichtenmedien. Zumindest einen Teil meiner Rundfunkgebühren, die ich gerne bezahle oder des Geldes, das ich in Printmedien oder Online-Abonnements investiere, würde ich neben Produktions- und Personalkosten gerne in einem sprachlichen Qualitätsstandard angelegt sehen, der mich beim Konsum nicht schmerzhaft zusammenzucken lässt. Früher™ gab es bei der ARD-Tagesschau Chefsprecher wie Karl-Heinz Köpcke oder Werner Veigel, denen die sprachliche Sorgfalt und Korrektheit der verlesenen Texte ein persönliches Anliegen waren. Ganz ohne Krückstockfuchteln möchte ich hier ein wenig wehmütig zu Protokoll geben, dass ich diese Hingabe bei vielen Sendern oder Medien zunehmend vermisse. Sicherlich sind in Zeiten digitaler Medien und zusätzlich zu betreibender Social-Media-Kanäle ungleich mehr Mitarbeiter als damals damit betraut, Meldungen und Texte auf den verschiedensten Plattformen zu erstellen oder einzupflegen. Aber auch hier habe ich eine ähnliche Wahrnehmung wie bei den zuvor erwähnten lieblos lektorierten Werbetexten: Wie soll bei mir ein Gefühl von Vertrauen, Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit gegenüber dem Absender entstehen, das mir vermittelt, dass Berichte und Fakten (insbesondere im ÖRR) sorgsam recherchiert, bewertet, eingeordnet und aufbereitet wurden, wenn selbst kurze, auf einen Blick erfassbare und vor der Veröffentlichung eigentlich innerhalb von Sekunden noch einmal problemlos prüfbare Textschnipsel derselben Instanz bereits Fehler enthalten? Ich zumindest muss mich dann schon manchmal zwingen, derlei auf die leichte Schulter zu nehmen, obwohl es eigentlich nur Kleinigkeiten sind.

Ob ARD oder ZDF – hier bekleckert sich keiner mit Rum …

Wieder eine andere Kategorie sind allmähliche Änderungen der geschriebenen oder gesprochenen Sprache, die sich »basisdemokratisch« entwickeln und allmählich im Alltag und in der Sprachgemeinschaft ausbreiten. Gegenüber dem abfällig als »Deppenapostroph« oder »Deppenleerzeichen« bezeichneten Phänomen des Bindestrichmangels bzw. Hochkommaüberschusses bin ich mittlerweile schon abgestumpft und denke, derer ansichtig, zwar nicht »macht nicht’s«, aber immerhin »was soll’s?«. Weh tut mir allerdings immer noch der ebenso innovative wie inkorrekte schriftliche Gebrauch des mit Apostroph abgekürzten unbestimmten Artikels »ein« zu »’nen«. Wenn also beispielsweise jemand schreibt, »ich hole mir jetzt ’nen Bier«, reißt mir das brombeermetaphernmäßig im Vorbeilesen schon ein erkleckliches Loch in den Sprachmantel und ich verspüre ein spontanes Bedürfnis nach stärkeren Alkoholika. Die unbekümmert ins Deutsche übertragene Übernahme englischer Redewendungen ist auch so ein Thema. Da lese ich z.B. »Geheimdienste existieren literarisch um im Geheimen zu operieren« und kann mich zwar noch ein bisschen darüber freuen, dass das Wort immerhin noch als treffendes Synonym für »buchstäblich« verwendet wurde (oft genug nämlich auch für »tatsächlich«/»in der Tat« und dann lese ich Sätze wie »ein Flug nach Malle kostet manchmal literarisch 30 Euro«), aber mein innerliches Seufzen lässt mich dennoch kurz erbeben. Auch wenn jemand schreibt, er/sie habe Magen-Darm und muss nun »ein Antibiotika« nehmen, oder von einem Restaurantbesuch berichtet wird, bei dem »Scampis« und »Espressos« genossen wurden, verursacht dies ein leichtes dorniges Zupfen beim Durchfliegen des Textgewebes. Aber »macht es Sinn«, sich darüber aufzuregen? Nein. Mit diesen Störgefühlen muss man als Sprachopa zu leben lernen. Hauptsache ist doch, man versteht noch einigermaßen genau, was der oder die Absender*in damit sagen möchte (dabei muss ich gerade an die Szenen mit der allzu wortgewandten Shakespeare-Figur in der ZDF-Comedyserie »Sketch History« denken). Und mich selbst zwingt ja niemand, auf dieselbe Weise zu »senden«, in der ich »empfange«.

Eine andere populäre Erscheinungsform aus dem Englischen herüberdiffundierter Seltsamkeiten sind die Anglizismen. An sehr viele habe ich mich, wie alle, inzwischen gewöhnt, wie etwa »Meeting«, »Event«, »sharen«, »faven« und und und. Einige würde ich aber aufgrund ihres ebenso prätentiösen wie mehrwertfreien Gebrauchs gerne seltener lesen. So steht zum Beispiel auf dem Kassenzettel, den die Selbstscanterminals meines lokalen REWE-Marktes auswerfen, dass man den Bon unbeding mitnehmen solle, denn den aufgedruckten QR-Code benötige man zum Öffnen des »Exit-Gates«. Ich hätte einfach »Ausgangsschranke« gesagt, aber naja. Im Job streiche ich sehr gerne und beherzt das Wort »inkludiert« aus Texten, die mir zur Durchsicht vorgelegt werden und schreibe ein »beinhaltet« an seine Stelle, ich verstaubter Rebell. Es gibt noch einige weitere dieser Kandidaten, die einen Text zwar womöglich sehr contemporary klingen lassen, aber ihm oft genug nicht nur keinerlei hilfreiche Bedeutungsnuance hinzufügen, sondern ihn im Gegenteil weniger verständlich machen. Die Messlatte für diese Art des Sprachgebrauchs, der insbesondere in der Kreativszene sehr beliebt ist, hat seinerzeit die Modeschöpferin Jil Sander gesetzt. Dieses Zitat ist aus meiner Sicht bis heute unerreicht:

»Ich habe vielleicht etwas Weltverbesserndes. Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, dass man contemporary sein muss, das future-Denken haben muss. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, dass man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. Der problembewußte Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Allerdings geht unser voice auch auf bestimmte Zielgruppen. Wer Ladyisches will, searcht nicht bei Jil Sander. Man muss Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils.«

via Wikiquote | Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. März 1996, zitiert im SPIEGEL 01.04.1996

Ein paar sprachliche Gepflogenheiten jedoch habe auch ich mir angewöhnt bzw. selbst »verordnet« und versuche, diese zu befolgen, wenn ich schreibe oder rede. Weil ich es bei anderen nicht so gerne mag, wenn sie beim Reden übermäßig häufig »Ähs« oder »Öhs« einfügen (noch schlimmer finde ich es bei einem öffentlichen Vortrag), vermeide ich dieses »Stoibern« bei mir selbst so weit wie möglich. Auch Füllwörter wie »im Prinzip«/»prinzipiell«, »halt«, »eigentlich«, »irgendwie« fallen mir bei reichlichem Gebrauch in der Alltagskonversation sofort auf, deshalb achte ich auch bei mir darauf, sie möglichst zu meiden. Ich mag auch keine Abkürzungen, die der von mir sehr geschätzte Autor Max Goldt vermutlich als »affig« bezeichnen würde. Beispiele für diese Art Abbreviationen sind etwa die Verniedlichungen von Schulfächern mit »-i« wie »Reli« (Religion) oder »Geschi« (Geschichte) oder die Benennung von Urlaubszielen wie »Malle« (Mallorca), »Fuerte« (Fuerteventura), »Domrep« (Dominikanische Republik). Es will mir einfach nicht über die Zunge.

Edit (02.03.2024): Mir sind nachträglich noch drei weitere Wörter bzw. Wortanwendungen eingefallen, die ich meide, weil ich sie nicht mag. Man trifft sie allesamt recht häufig auf Social-Media-Portalen an. Wenn z.B. ein Kommentator einem Posting widersprechen möchte, beginnt eine derartige Widerrede oft mit »Sorry, aber …«. Wenn ich persönlich den Impuls verspüre, jemandes Äußerungen nach meiner Kenntnis faktisch richtigzustellen oder stichhaltige Argumente vorzubringen, warum ich anderer Meinung bin, wieso sollte ich mich dafür entschuldigen? Klingt aus meiner Sicht unnötig devot und entspricht auch zumeist nicht meinem momentanen Gemütszustand, während ich meine Gegenrede eintippe. Das zweite Wort tritt immer am Ende einer Gegenargumentation auf und zwar in Form eines Ein-Wort-Satzes. Es lautet »Punkt.«, manchmal auch »Punkt!«. Die schreibende Person möchte damit ihre zuvor gemachten Äußerungen offenbar mit einer Art Unfehlbarkeitssiegel versehen. Ich muss dann immer an das »Basta!« denken, mit dem meine Eltern früher manche meiner kindlichen Quengelkaskaden einzudämmen versuchten. Bei Eltern funktioniert so etwas womöglich noch aufgrund des natürlichen Autoritätsgefälles, zwischen Erwachsenen im Netz finde ich es eher ein bisschen lächerlich. Wenn man gute Argumente hat, ist dieser Abbinder obsolet und bei Menschen, die per se überzeugungsresistent sind, ist dieses nachgeschobene Wörtchen sowieso wirkungslos. Das dritte Wort ist wieder ein Einleitungswort. Manchmal beginnen wohlmeinende Kommentatoren ihre Agumentation an ein komplett kontrovers gesinntes Gegenüber mit »Liebe(r) …,«. So zum Beispiel »Liebe AfD/FDP/CSU/SPD, …«, wenn die schreibende Person nachfolgend ausführen möchte, warum sie mit den politischen Plänen oder Maßnahmen dieser Partei vollumfänglich unzufrieden ist. Ich frage mich dann immer, welchen Zweck diese Anrede haben soll. Gewiss kann ich davon ausgehen, dass tatsächlich wenig echte Liebe für die Angesprochenen im Herzen der Kommentierenden wohnt, wenn die Ansichten derart gegensätzlich sind. Das schließe ich zumindest aus meinen eigenen Gefühlen, wenn mir eine derartige Entgegnung in den Tippfingern brennt. Überflüssig, zweckfrei, inadäquat, diese Huldrampe lasse ich daher ebenfalls gerne bewusst weg.

Gerne hingegen nutze ich »veraltete« Wörter, das tue ich jedoch nicht, um zu »posen«, sondern entweder, A) weil sie bzw. ihr Klang mir gefallen, weil ich es B) schade fände, wenn sie aussterben würden, weil sie C) in einem Bereich, in dem ein Wort mangels Alternativen mir komplett abgenutzt und ausgewrungen erscheint, trotz ihrer vermeintlichen Altbackenheit ein frisches Synonym darstellen oder D) weil sie tatsächlich eine neue Bedeutungsebene einbringen, die andere Wörter m.E. nicht haben. Einige Beispiele:

  • für A): famos, dergleichen, derlei, indes, obgleich, apart, fulminant, kapriziös
  • für B): Wams, Leibchen, Trottoir, Antlitz, Vettel, kommod, mäandern, Geschmeide, Hazardeur, Hallodri
  • für C): vortrefflich, delikat, deliziös (statt »lecker«); alsbald, beizeiten, zügig (statt »zeitnah«)
  • für D): flanieren (für eine gewisse Art des Gehens besser geeignet als »spazierengehen«, »schlendern«, »gehen«, »bummeln« oder »wandern«); indisponiert, unpässlich (manchmal zutreffender als »krank«, »angeschlagen« oder »malade«)

Wichtig ist mir, dass ich keineswegs etwas dagegen habe, dass Sprache sich wandelt. Im Zuge aktueller Ereignisse wie der Corona-Pandemie oder neuer technischer Errungenschaften entstehen haufenweise schöne, bunte, treffende neue Wörter – dazu habe ich in einem anderen Blogbeitrag bereits etwas geschrieben (und auch auf einige der o.g. Wörter verwiesen). Ich sammle viele neue Wörter, die mir im Alltag und im Netz begegnen, teils ebenfalls hier im Blog, teils auf meinem Mastodon-Zweitaccount @wortgeburt. Das ständige Fließen der Sprache ist etwas Wunderschönes. Wichtig finde ich aber, und da hallt in meinem Kopf eine kürzlich geäußerte Aussage des aktuellen Wirtschaftsministers Robert Habeck wider, dass Sprache Wirklichkeit schafft. Sprache (und Wortwahl) sollte(n) nicht nur eine möglichst unmissverständliche Kommunikation möglich machen, sondern jede(r) Sprechende sollte sich bewusst sein, dass seine oder ihre Äußerungen auch unbewusst das Gegenüber oder die Leser – manchmal sogar unbeabsichtigt bzw. gegen den Willen der sprechenden Person – beeinflussen oder brüskieren können. Mit Sprache drücken wir nicht nur aus, sondern wir präzisieren oder vernebeln, engen ein, bewerten, werten auf oder ab, zollen oder verweigern Respekt. Auch deshalb versuche ich nicht nur ein passiver Beobachter von Sprache im Alltag zu sein, sondern die Erkenntnisse, die ich aus meinen Beobachtungen ziehe, auch in meinen eigenen Sprachgebrauch einfließen zu lassen oder diese im eigenen Umfeld, in Blogbeiträgen oder Social-Media-Postings zu thematisieren.

Als ich z.B. neulich kurz nacheinander einen Doris-Day-Film als auch den Historienschinken »Cleopatra« mit Elizabeth Taylor sah (beide in deutscher Synchronisation) fiel mir wiederholt auf und ich erinnerte mich daran, das schon häufiger wahrgenommen zu haben, wie viele der männlichen »hochgestellten« Charaktere (vorzugsweise jüngere) Frauen mit »mein Kind« ansprechen. Bei Cleopatra konnte ich eine der betreffenden Szenen im Netz in der englischen Originalfassung ausfindig machen. Dort spricht Cäsar die Königin mit »young lady« an, weit weniger despektierlich, aber immer noch herablassend genug. Und so ist es in Filmen bis in die 1970er Jahre hinein sehr oft üblich, so reden Chefs mit Sekretärinnen, Professoren und Lehrer mit erwachsenen Schülerinnen oder Studentinnen, Ärzte mit Krankenschwestern, Forscher mit Assistentinnen. Ich nehme das wahr und es ärgert mich als Zuschauer, es beschämt mich nachträglich als Mann gegenüber den damals so angesprochenen Frauen ebenso wie gegenüber denen, die sich heutzutage diese Szenen ansehen und ich bin froh, dass diese Ära mitsamt ihres Sprachgebrauchs und dieser anmaßenden Attitüde (hoffentlich) ein für allemal überwunden ist. Will ich diese Filme deshalb neu synchronisieren oder nicht mehr ansehen? Nein, ich wünsche mir nur, dass bei künftigen Filmen mehr sprachliche Achtsamkeit waltet. Es kann meiner Meinung nach durchaus sinnvoll sein, die ursprünglichen »alten« Versionen sprachlich überkommener Werke – vielleicht mit einem erläuternden Vorwort oder Fußnoten – in Umlauf zu belassen, um nachfolgenden Generationen gezielt bewusst zu machen, dass sich im Laufe der Zeit ein Wandel zu einem respektvolleren und achtsameren Sprachgebrauch vollzogen hat und nicht alles immer schon so nuanciert, subtil, fair oder inklusiv war, wie sie es zu ihren Lebzeiten beim Lesen und Schreiben gewohnt sind oder gelehrt bekommen.

Ich weigere mich überdies, mir den Begriff »woke« wegnehmen oder zu einem Schmähwort umdeuten zu lassen, der (unter anderem) genau diese Art der Achtsamkeit bezeichnet. Ich will bemerken, wo Sprache missbräuchlich, respektlos, abwertend, diskriminierend oder ausgrenzend benutzt wird und versuche gerne nach Kräften, mich diesbezüglichen Wandlungen und Änderungswünschen anzupassen. Es schert mich keinen Deut, wenn sich Begriffe für Schaumküsse oder pikant besoßte Schnitzel deshalb ändern sollen, denn sie schmecken doch hinterher nicht anders als vorher. Begriffe für Gegenstände, Anreden, Eigenschaften, Unternehmen, Seelenzustände, Produkte, Lebensmittel, ändern sich unentwegt, seitdem der erste Mensch den Mund aufgemacht hat. Aus dem Lenz wurde der Frühling, aus dem Turnschuh der Sneaker, aus dem Generaldirektor der CEO, was heute »geil« ist und Begeisterung und/oder die Libido weckt, wucherte früher im Garten durch den Zaun rüber zum Nachbarn. Und Sprache ist ja auch nicht das Einzige, das sich in unserem Alltag verändert – inzwischen ist es ja durchaus normal, dass man mit Telefonen fotografieren, mit Fernsehern sprechen, mit Uhren bezahlen oder seinen Staubsauger fernsteuern kann.

Sprache ist, finde ich, wie eine große Party und nicht alles, was passiert, ist steuerbar. Einige Gäste sind eingeladen, andere nicht, manche wollten nicht kommen, andere kommen, obwohl sie nicht eingeladen wurden, einige müssen leider früher wieder gehen, andere bleiben, obwohl man sie lieber loswerden würde. Über einige der Geladenen freut man sich, andere kann man nicht leiden und wieder andere sind einem komplett egal. Mit manchen unterhält man sich gerne, anderen geht man aus dem Weg. Es gibt neue Gesichter und alte Bekannte, freudige Wiedersehen und verschrobene Fremde. Man muss ein bisschen aufpassen, dass nichts Wertvolles kaputtgeht und dass niemand zu Schaden kommt. Es kann mal etwas lauter werden und vielleicht beschwert sich jemand über das Treiben. Manche Feiernden versuchen den DJ zu überzeugen, ausschließlich Songs nach ihrem Geschmack zu spielen, einige haben sogar eigene Tracks mitgebracht, es gibt Leute, die tanzen zu allem, was gespielt wird und einige sitzen lieber am Rand der Tanzfläche und quatschen. Man sollte etwas aufpassen, was man selbst konsumiert, welche Inhaltsstoffe sich darin verstecken und was man anderen anbietet oder einschenkt, denn das kann einerseits lustig und harmlos sein, aber auch mit Übelkeit, Kopfschmerzen oder anderen schädlichen Folgen einhergehen. Warum sollte man als Gast eine(n) der Mitfeiernden überreden, exakt so zu feiern wie man selbst? Wichtig ist doch, dass jeder auf seine Weise Spaß hat und alle ein bisschen darauf achten, dass die Location bewohnbar bleibt und nichts gewaltsam eskaliert oder gar in Brand gesetzt wird.

Ich jedenfalls amüsiere mich – trotz meiner Brombeergefühle – größtenteils blendend.

Eine Frau, dich sehr dafür verehre, wie sie die die deutsche Alltagssprache auf witzige, kluge und phantasievolle Art geprägt und verändert hat: Erika Fuchs, die langjährige deutsche Übersetzerin der »Lustigen Taschenbücher« Walt Disneys. Foto: Selbst geknipst in der Ausstellungsräumen des Erika-Fuchs-Hauses in Schwarzenbach/Saale.

vALLentinstag


Nicht gigantische Sonnen,
rote Riesen, weiße Zwerge,
ungeheure Quasare,
Supernovae, Plasmanebel,
weißglühend mit Billionen Grad,
wärmen das eisige Dunkel des Alls.
Das vermag nur
die Liebe.

Ein kombiniertes Bild aus Aufnahmen verschiedener Teleskope im Weltraum und auf dem Boden. Es zeigt den tausend Jahre alten Überrest der brillanten Supernova SN 1006 im Radio- (rot), Röntgen- (blau) und sichtbaren Licht (gelb).

Bildquelle: European Southern Observatory | Lizenziert unter CC BY 4.0 DEED

Gebratene Auberginen mit Hummus und Zhoug

Fast immer, wenn ich ungefähr alle vierzehn Tage fernbeziehungsbedingt freitags nach Berlin fahre, nehme ich ab Berlin Hauptbahnhof eine Verbindung zum U-Bahnhof Schlesisches Tor und treffe mich dann dort in der Nähe, pünktlich nach seinem Feierabend mit dem Mann im Craft-Beer-Pub »Hopfenreich«, um das Wochenende einzuläuten. Ich weiß nicht, wie oft ich den Weg vom »Schlesi« zum Pub schon gegangen war, als mir eines Tages am Wegesrand ein orientalisches Imbissrestaurant auffiel. Zuerst war es der Name, der an meine Wortspielrezeptoren andockte: »The Hummusapiens«. Dann las ich die Unterzeile »Beirut – Berlin · Levantine Street Food«. Und schließlich fiel mein Blick auf die hinterleuchtete große Speisekartentafel neben dem Eingang. »Mmmh!«, dachte ich, »Da müssen wir mal was »to go« bestellen!

Seit ich die aromatische Kichererbsenpaste kenne, bin ich Hummus-Jünger und habe mich auch schon ausgiebig mit der Herstellung dieser köstlichen veganen Spezialität in der eigenen Küche befasst. Mein persönliches, optimiertes Rezept steht inzwischen seit Jahren eigentlich unverändert fest. Manchmal kürze ich den Prozess etwas ab, indem ich fertig gekochte, konservierte Kichererbsen als Rohstoff nehme, manchmal nehme ich mir die Zeit und weiche geschälte halbe getrocknete Kichererbsen über Nacht ein und koche sie am nächsten Tag selbst. Der Aufwand bringt zwar geschmacklich nur einen überschaubaren Gewinn, aber die Cremigkeit des Endprodukts steigt durch die hüllenlose Trockenware deutlich.

Trotzdem waren es die mundwässernd klingenden Kombinationen auf der Menütafel des Imbiss, die mich über das Hummus hinaus neugierig machten. »Hummus, Harhana Sauce, sesame sauce, bread« gehören zu jedem der Gerichte standardmäßig dazu. Darüber hinaus werden neun Beilagenvarianten angeboten: Bulgur, Falafel, Makali (fritierte Kartoffeln und Auberginen), Hot Batata (marinierte fritierte Kartoffeln), Halloumi, Champignons, gebratenes Rinderhack mit Pinienkernen, Makani-Rinderwürstchen und gebratene Hähnchenleber. Also fünf Mal vegan, einmal vegetarisch und dreimal mit Fleisch. Eine schöne Auswahl. Nachdem ich dem Mann von der Entdeckung berichtet hatte, beschlossen wir an einem der folgenden Berlinwochenenden drei der Gerichte zum Mitnehmen auszuprobieren. Und es war köstlich! Alle Beilagen waren schön gebräunt gegrillt, fritiert oder scharf angebraten, das Hummus war cremig, sesamnussig und weder mit Knoblauch noch mit Zitrone überwürzt und die »Harhana Sauce« entpuppte sich als ein ziemlich scharfes, fein-aromatisches Korianderpesto. Es folgten etliche weitere Schlemmerabende mit verschiedenen Bestellungen und ich freue mich jedesmal wieder, dass es diesen Laden dort gibt.

Diese Woche nun, während ich in Hamburg weile und auch am Wochenende nicht in die Hauptstadt fahre, überkam mich ein großer Appetit nach dem Hummusapiens-Gericht »Hummus Makali« mit fritierten Auberginen. Doch Berlin ist weit. Also hieß es: Wer schlemmen will, muss findig sein! Wie könnte ich das ersehnte Gericht selbst zubereiten? Auf die Kartoffeln wollte ich des Aufwandes und der Kohlehydrate wegen verzichten. Was mich bei der Verkostung des Originalgerichts besonders begeistert hatte und was ich unbedingt auch hinbekommen wollte, waren die krosse Kruste und das cremige, nicht mit Öl vollgesogene Innere der Eierfrüchte. Ich erinnerte mich an zwei famose Tricks dazu aus einem YouTube-Rezeptivideo für das chinesische Auberginenrezept »Yu Xiang Qie Zi«: Zuerst werden die geschnittenen Auberginen für etwa 15 Minuten in Salzwasser eingelegt und anschließend fein mit Speisestärke bepudert, ehe sie in reichlich Öl gebraten werden. Das eingedrungene Wasser bildet eine Barriere im äußeren Fruchtfleisch der Auberginenstücke und mindert so das Eindringen des heißen Öls und die dünne Schicht Stärke sorgt im heißen Fett für eine schöne goldbraune Kruste. Ich beschloss, diesen chinesischen Kniff auf meinen Nachbau des orientalischen Gerichts zu übertragen.

Blieb noch die Frage, woraus die »Harhana Sauce« des Streetfoodladens bestand. Als ich danach googelte, erhielt ich ausschließlich Suchergebnisse, die auf das Hummusapiens zeigten und keine Angaben zu Zutaten oder Zubereitung enthüllten. Also handelte es sich wohl entweder um eine selbst kreierte Sauce mit geheimem Rezept oder um eine zu Marketingzwecken umbenannte regionale Zubereitung mir noch unbekannten Namens. Ich suchte gemäß meiner Analyse des Geschmacks des Dips daraufhin alternativ nach »spicy lebanese cilantro pesto« – und siehe da: es ploppten diverse Rezeptseiten auf für eine pestoähnliche Zubereitung namens »Zhoug« (andere Schreibweisen sind Schug, Skug, S-chug, Schugg, Skhug oder Zhug) aus hauptsächlich Koriandergrün, Knoblauch, (grünen) Chilischoten, Gewürzen und Olivenöl. Die Rezepte unterschieden sich zwar in Nuancen (mit/ohne Petersilie, mit/ohne Zitrone, mit/ohne Kümmel/ Kreuzkümmel/ Korianderkörner/ Pfeffer/ Kardamom), aber die grundsätzliche Beschreibung deckte sich mit meiner Geschmackserinnerung. Nachdem ich einige Rezepte durchgelesen hatte, entschied ich mich für eins, das angenehm raffiniert klang und ergänzte es um die Zutat Kardamom aus einer anderen Variante. Das Ergebnis kam ziemlich dicht an das Aroma der gekauften Sauce heran, im Nachhinein würde ich es nur noch ein wenig optimieren (höherer Anteil Koriandergrün und dafür weniger Petersilie, weniger Zitronensäure, etwas mehr Schärfe durch Chiliflocken). Dem Nachbau des Hummusgerichts stand somit nichts mehr im Weg. Bonus: es ist komplett vegan – und schmeckt vortrefflich!

Zutaten (für 2–3 Personen):

für das Hummus
Eine komplette Zubereitungsmenge Hummus nach meinem Rezept hier im Blog

für die Auberginen
2 Auberginen (ich hatte das Glück, im türkischen Gemüseladen eine sehr lange schlanke Sorte zu bekommen, die waren zum Schneiden und braten perfekt!)
1 EL Speisestärke
1 leicht gehäufter EL Salz
Wasser
Olivenöl zum Braten/Fritieren

für das Zhoug
1 Handvoll Petersilie
3 Handvoll Koriandergrün
1 grüne Chili (mittelscharf bis scharf)
2–3 TL Zitronensaft
ggf. abgeriebene Schale von 1/2 Zitrone
1 gestr. TL Salz
3 kleine Knoblauchzehen
1 gestr. TL Chiliflocken (Pulbiber)
1/2 TL Kardamomsamen (ohne die umgebende Samenkapsel)*
1/2 TL Kreuzkümmelsamen*
1 TL Koriandersamen*
1/2 TL schwarze Pfefferkörner*
100 ml Olivenöl

* wenn gemahlen vorhanden, geht natürlich auch das.

Zuerst die Sauce. Dafür die Kräuter von dicken Stängeln befreien, Knoblauchzehen schälen und grob zerteilen. Die Chilischote von Stielansatz und Kerngehäuse befreien und ebenfalls in grobe Stücke schneiden. Die Gewürze gemeinsam in einem Mörser zerstoßen (oder die gemahlenen miteinander vermischen). Kräuter, Chili- und Knoblauchstücke, Zitronensaft/-schale, Olivenöl und Gewürze im Mixer fein pürieren, ggf. mit Salz/Pfeffer/Chilipulver nach eigener Schärfevorliebe pikant abschmecken und in ein Schälchen umfüllen.

Nun die Auberginen waschen, das untere und obere Ende (Stielansatz) knapp abschneiden und die Früchte in ca. 1,5 cm dicke Scheiben schneiden. Mit dem Salz in eine Schüssel geben und mit Wasser bedecken, alles gut vermischen, damit sich das Salz auflöst und 15 Minuten ziehen lassen. Dann das Wasser gut abgießen und die Auberginen leicht abtupfen.

Das dünne Bepudern mit Stärke geht am besten in einem dünnen Plastikbeutel (z.B. 5-Liter Knisterfolien-Müllbeutel). Auberginen und Stärke in den Beutel geben, den Beutel mit viel Luft drin zudrehen und die Auberginen in dem entstandenen Folienballon gleichmäßig umherbewegen. Auf einen großen Teller oder in eine trockene Schale kippen und dort zum Braten bereithalten.

ca. 5–10 mm hoch Olivenöl in einen Topf oder eine tiefe (Wok-)Pfanne geben und erhitzen, bis von einem hineingehaltenen hölzernen Zahnstocher kleine Bläschen aufsteigen. Die mit Stärke bepuderten Auberginen portionsweise flach hineinlegen und von beiden Seiten goldbraun braten (dauert je Seite etwa 5 Minuten). Die Scheiben sollten in der Pfanne nicht zu dicht aneinanderliegen, denn wenn sie sich beim Braten berühren, kleben sie durch die Stärke aneinander. Die fertig gebratenen Auberginenscheiben auf einem mit Küchenkrepp belegten Teller sammeln und bis zum Verzehr warmstellen. Durch das eingedrungene Salzwasser und die später dazu gereichte Sauce müssen die Auberginen nicht extra gewürzt werden!

Pro Portion einige reichliche Löffel Hummus auf einen Teller geben, einige Auberginenscheiben daneben/darauf portionieren und alles großzügig mit dem Zhoug-Dip beträufeln. Guten Appetit!

Die Zhoug-Zutaten (links) und die fertige Sauce (rechts).
Vegan und lecker! (Die Krümel auf dem Hummus sind darübergestreutes Za’atar-Gewürz).

Letzte Male, erste Male

Nach einer knappen Woche wieder zurück aus dem Süden des Landes. Am letzten Freitag im Januar hatte der Mann abends noch mit seiner recht munteren Mutter in ihrer Teilzeit-Pflegeeinrichtung telefoniert. Am nächsten Morgen gegen halb zehn kam ein Anruf von dort, dass sie gestorben ist. Ein knappes Jahr nach ihrem Mann und ebenfalls nachts im Schlaf. Alle in Reichweite scheinenden Pläne zu ihrer baldigen betreuten Rückkehr nach Hause, nachdem sie sich im letzten Herbst aus gesundheitlichen Gründen in Behandlung und Pflege begeben musste, lösen sich in einem Moment in Luft auf. Aus meinem Wochenendbesuch in Berlin wird ein längerer Beistand, weitere Vorhaben für die nächsten Tage kippen, Theatertickets verfallen. Jetzt gibt es andere Prioritäten, neue Pläne sind vonnöten. Wir sollten baldmöglichst hinfahren, für einen Abschied, für die nötigsten Formalitäten, doch die Bahn streikt. Zwar womöglich kürzer als geplant, so ist zu lesen, aber mit einem Nachhall der Störungen durch den Ausstand wird gerechnet. Eine Autofahrt zum Elternhaus über 700 km wäre zwar möglich, aber wird nach Rücksprache mit den sich kümmernden Menschen vor Ort verworfen. Wir entscheiden uns für eine Zugfahrt am Dienstag nach dem sicheren Ende des Streiks. Am Abend des Dienstag treffen wir ein.

Surreal, am folgenden Tag in der Besprechung mit dem Bestatter, der auch beim Todesfall zuvor bereits tätig war, mehrmals den Satz »das machen wir dann genau wie letztes Mal« zu hören. Die gefestigte, ruhige und empathische Art des Bestatters glättet die Wellen des plötzlichen, traurigen Einschlags. Da ist jemand, der Halt gibt, weil er den Weg gut kennt, der jetzt zu gehen ist. Erste Male. Bei früheren Todesfällen in der Familie wurde der Anblick der Verstorbenen vor mir entweder ferngehalten, weil ich damals noch Kind war oder ich war erst bei der Beisetzung anwesend, wo ich nur Sarg oder Urne, Blumen und die Hinterbliebenen zu sehen bekam. Diesmal nun ein Abschiedsbesuch bei der toten Schwiegermutter in den Räumen des Bestatters, ein schlicht und doch feierlich eingerichtetes, gekühltes Zimmer. Sie erscheint mir kleiner, als ich sie von meinem letzten Besuch in Erinnerung habe. Ich hatte etwas Angst vor dieser für mich ersten letzten Begegnung, doch meine Beklommenheit weicht nun einer irgendwie warmen Traurigkeit. Ich spüre das Loch, das durch ihren Tod entsteht, aber auch Dankbarkeit, dass er so friedlich geschah und einen Anflug von Erleichterung über das, was ihr womöglich durch ihr hohes Alter oder die geschwächte Gesundheit erspart bleiben durfte. Mach’s gut – und gute Reise.

Wir sind für die Dauer unseres Besuchs im nun leeren Elternhaus eingezogen. Während der Wohnlichmachung stoße ich auf viele Kleinigkeiten, denen ich unter normalen Umständen keine Beachtung geschenkt hätte, die aber nun völlig neue Assoziationen auslösen. Der Name des Schwiegervaters, der noch auf dem Klingelschild steht. Ein angefangener handgeschriebener Einkaufszettel in der Küche: heller Balsamico und Heringsfilets in der Dose. Ausgeschnittene Rabattcoupons. Eine Deko-Sanduhr, die abgelaufen auf der Eckbank in der Küche steht.

In den Tagen danach weitere Begegnungen im engeren Umfeld, mit den Schwestern des Schwiegervaters, den Nachbarn, dem schon länger beschäftigten Gartenpfleger. Alle Menschen hier helfen, nehmen Anteil, bieten Beistand an. Schon am Tag zuvor hatte der Mann die Habseligkeiten seiner Mutter in der Betreuungseinrichtung abgeholt. Die Pflegekräfte hatten die Mutter sogar auf eigene Initiative direkt nach ihrem Tod bereits so vorbereitet und angekleidet, dass sogar der Bestatter keinen Anlass mehr sah, nachträglich noch etwas zu verändern. Keine Selbstverständlichkeit, auch dafür große Dankbarkeit. Und noch ein erstes Mal: selber eine Todesanzeige texten, setzen und gestalten.

Zwischendurch bleibt aber auch Zeit zum Durchatmen. Die bergige, bewaldete Landschaft bietet in direkter Umgebung alle Möglichkeiten, während steiler Anstiege und bei gemächlichem Wandern, den Kopf wieder etwas frei zu bekommen. Sogar ein Hauch von Frühling liegt ab und zu in der Luft, das zi-tüü, zi-tüü einer Kohlmeise ist zu hören, ein paar Blitzer blauen Himmels zwischen den Wolken. Auch das sorgt für Licht. Sogar Lachen fühlt sich okay an. Wir reden viel, der Mann und ich. Über das, was war, was kommt, was hätte sein können, was erstmal warten kann. Gute und tiefe Gespräche, die nicht so bald wieder verfliegen, sondern im Kopf bleiben werden. Nähe. Da-Sein.

Am Samstag, vier Tage nach Anreise, fuhren wir erst einmal wieder heim. Der nächste Besuch hier ist in gut sechs Wochen geplant, zur Beisetzung der Urne.

Das Leben geht weiter.

Schulfrust, Schullust

Ich mag ja kurze Social-Media-Postings, die im Nachhinein entweder aufgrund der sich in den Replys entspinnenden Beiträge oder Diskussionen oder einfach durch das eigene »Gedankenecho« zu dem Thema weiteres Nachdenken dazu anstoßen. So geschehen auch wieder heute. Zuerst las ich auf Mastodon folgendes in meiner Chronik geteilte Posting:

Heute gibt es Zeugnisse. Seid nett zu euren Kindern. Sie werden sich Mühe gegeben haben ❤️

https://troet.cafe/@Tami/111820604936830893

Besonders beim zweiten Satz blieb ich spontan hängen und hörte in meinem Kopf sofort einen berühmten Satz aus irgendeinem TV-Werbespot für Kaffee oder Weichspüler aus den 1970er Jahren: »Mühe allein genügt nicht!«. (Edit: Der Satz stammt von der Werbefigur »Frau Sommer« in einem Spot für Jacobs Krönung Kaffee. Danke an Uwe Sinha für den Hinweis.) Denn während meiner eigenen Schulzeit hatte zumindest ich oft das Gefühl, dass manche Lehrer*innen entweder die Mühe, die ich mir tatsächlich gegeben hatte, nicht sahen bzw. anerkannten oder mir das Unterrichtsfach, das mich eigentlich grundsätzlich interessiert hätte, durch ihre Persönlichkeit und/oder die Art ihres Unterrichts bzw. der Stoffaufbereitung so weit vergällten, dass ich jede Lust verlor, mir überhaupt Mühe zu geben. Als ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, postete ich auch einen Beitrag zum Thema:

Rückblickend kann ich sagen, dass für meine »schlechten« Noten während der Schulzeit nur zu ~30% private Umstände oder generelles (und bis heute anhaltendes) Desinteresse an einem bestimmten Unterrichtsfach verantwortlich waren. Die restlichen ~70% rechne ich dem Unvermögen, Unwillen oder mangelnder Motivation meiner damaligen Lehrer an, die es nicht vermochten, mir Dinge begeisternd und nachvollziehbar beizubringen. Das belegen auch Notensprünge nach Lehrerwechsel in einigen Fächern.

https://fnordon.de/@formschub/111821928013309913

Manche Follower pflichteten mir vollauf bei, andere eingeschränkt. Dann kam vom Lehrerfollower @herr_rau eine interessante Rückfrage:

Klingt gut möglich! Professionelle Nachfragen, die erste provokant gemeint, die zweite nicht: 1. Waren für die guten Noten auch zu 70% die Lehrkräfte verantwortlich, oder läuft da die Zuschreibung anders? 2. Waren die Lehrkräfte, die das damals nicht geschafft haben, wenigstens bei anderen in der Klasse erfolgreicher? Wenn ja, kann man den Prozentsatz des Erfolgs überhaupt erhöhen oder ist der am Ende relativ konstant?

https://fnordon.de/@herr_rau/111822372428730979

Als ich über diese beiden Aspekte nachdachte, merkte ich schnell, dass meine Antwort darauf so ausführlich sein müsste, dass sie entweder einen ellenlangen Thread erfordern würde oder einen anderen Kanal – wie diesen hier. Also möchte ich das gerne tun.

Aus meiner Schulzeit sehe ich für bessere oder schlechtere Noten bzw. Leistungen in der Schule rückblickend sechs grobe Einflussfaktoren und die werde ich mal versuchen, nacheinander durchzugehen: 1. der persönliche ggf. wechselhafte Lebensverlauf während der Schulzeit, 2. die etwas permanenteren privaten Umstände sowie das Elternhaus (Bildung, Attitüde, Wohlstand, familiäres Umfeld), 3. die besuchte Schule als solche, 4. die individuellen Fähigkeiten, Talente und Interessen des Schülers, 5. der positive oder negative Einfluss von Klassenkameraden und Schulfreunden und schließlich 6. die Kompetenz, Motivation und Persönlichkeit der einzelnen Lehrer nebst ihrem Unterrichtsstil. Man möge in den Kommentaren auf jeden Fall gerne ergänzen, falls ich etwas vergessen oder selbst nicht erfahren habe.

Bedingt durch die häufigen berufsbedingten (selbstgewählten) Umzüge meines Vaters samt Familie besuchte ich in den ersten 13 Jahren meines Lebens ziemlich viele verschiedene Schulen an den unterschiedlichsten Orten. Eingeschult in einer firmeneigenen Schule des Arbeitgebers meines Vaters in Constantine (Algerien), wo ich das erste und zweite Schuljahr absolvierte, danach nahm ich einige Monate an der Dorfschule bei der Oma väterlicherseits am Unterricht teil, bis die nächste deutsche Wohnadresse der Familie feststand. Weiter ging es in der dritten und vierten Klasse dann in der Grundschule am neuen Wohnort nahe Hildesheim, anschließend Wechsel aufs Gymnasium in Hildesheim-Himmelsthür. Dann wieder Umzug ins Ausland, sechste und siebte Klasse an der DSL, Deutsche Schule Lagos (Nigeria). Anschließend 1979 wieder zurück Deutschland und an das Gymnasium davor. Dort an dieser Schule blieb ich dann, bis ich 1986 mein Abitur machte, Notendurchschnitt 2,1.

Schon alleine diese vielen Orts- und Schulwechsel tragen ein gewisses Risiko in sich, dass ein Kind, das häufig aus dem gewohnten Umfeld genommen wird und in ein anderes wechseln muss, dadurch Gefahr läuft, auch schulische Schwierigkeiten zu erfahren. Beste Freunde müssen zurückgelassen werden, neue Kontakte geknüpft werden (was mir nie leicht fiel, ich war ein eher schüchternes Kind), neue Lehrer, neue Schule, alles anders. Auch die Reihenfolge der Unterrichtseinheiten an den verschiedenen Schulen war natürlich alles andere als aufeinander abgestimmt. Manchmal verließ ich die eine Schule, wenn ein Thema gerade angerissen worden war und wechselte an eine andere, wo ich mich mitten in einem Thema wiederfand, dessen Anfang ich versäumt hatte. Im Scherz sagte ich einmal während einer Unterhaltung, das düstere Thema Drittes Reich und Nazizeit hätte ich wohl doppelt so oft wie Gleichaltrige durchnehmen müssen und das spannende Thema Sexualkunde hätte ich dafür mehrmals verpasst, weil es gerade jedes Mal abgeschlossen worden war, als ich an eine andere Schule und in eine neue Klasse kam.

Ich mache meinen Eltern keinen Vorwurf für die häufigen Umzüge, denn die dadurch bedingten Erlebnisse, Erfahrungen und Kontakte möchte ich im Nachhinein keinesfalls missen. Schmerzlich waren die Ortswechsel dennoch. Ich erinnere mich noch gut, dass ich Rotz und Wasser heulte, weil ich meinen besten Freund Frank nach der zweiten Klasse in Algerien zurücklassen musste. Das In-Verbindung-Bleiben war damals nicht so einfach wie es heute online ist und zudem war ich ja damals erst sieben. Aber der Kontakt zu einem meiner späteren Schulfreunde aus der siebten Klasse wurde durch das Internet tatsächlich vor einigen Jahren wieder sporadisch belebt. Würde ich weiter im Netz recherchieren, könnte ich bei hinreichend eindeutigen Namen sicherlich noch weitere Weggefährt*innen von damals wiederfinden. Besondere Probleme in der Schule hatte ich meiner Erinnerung nach aber durch diese unsteten Umstände nicht. Der Bruder meines Vaters war selber Grundschullehrer und nutzte mich schon vor meiner Einschulung im besten Sinne als »Versuchskaninchen«, so dass ich schon mit vier Jahren sehr gut lesen konnte. Unter meinem Zeugnis nach der zweiten Klasse (mit guten Noten) vermerkte der Klassenlehrer damals »Thomas ist ein guter Schüler. Er beteiligte sich nicht immer am Unterricht, der ihn teilweise unterforderte«.

Der zweite Aspekt, der nachweislich Einfluss auf meine schulischen Leistungen hatte, war der Krebstod meines Vaters, als ich vierzehn war. Plötzlich blieb ich mit meiner jungen Mutter (36) und der kleinen Schwester (9) als Halbwaise zurück. Ich weiß nicht, von wie vielen Bekannten und Verwandten ich damals den Satz hören musste »Jetzt bist du der Mann im Haus«. Als würde es nicht reichen, dass der Verlust des Vaters einem Kind komplett den Boden unter den Füßen wegzieht, wird mit einer solchen (wie ich heute weiß, absolut toxischen) Bemerkung zusätzlich ein Anspruch aufgestellt, mit dem kein Kind konfrontiert werden sollte. Ich habe damals versucht, ihn im Rahmen meiner Möglichkeiten als eine Aufgabe zu sehen und das war sicherlich auch ein Grund für einen vorübergehenden Leistungsabfall, etwa ab der 8. Klasse in der Schule. Trotzdem blieb die schlechteste Zeugnisnote, die ich hatte, eine Vier minus. Die Benotung von Klassenarbeiten und Tests mag bisweilen sogar schlechter ausgefallen sein, aber daran erinnere ich mich nicht mehr, abgesehen von einer dunklen Ahnung, dass ich in Mathe mal eine Fünf nach Hause brachte.

Meine Mutter (und zuvor auch mein Vater) hat mich nie für mittelmäßige oder schlechte Noten getadelt oder bestraft. Beide haben versucht, mir zu Hause bei den Aufgaben und beim Lernen zu helfen, zumindest bis meine Mutter dies nach meinem Wechsel aufs Gymnasium nicht mehr leisten konnte, da sie von ihren Eltern nur einen Hauptschulabschluss zugestanden bekommen hatte. Auch gab es im Elternhaus niemals anhaltende Konflikte, die sich auf meine schulischen Leistungen hätten auswirken können und auch finanziell war die Familie, wenn auch nicht »reich«, so doch immer hinreichend gut gestellt, um Unterrichtsmaterialien und die Ausbildung von uns zwei Kindern zu finanzieren. Nach dem Tod meines Vaters war ich selbst für meine Noten verantwortlich und habe das dann in den Jahren danach auch irgendwann wieder ganz gut hinbekommen. Zumindest musste ich keine Klasse wiederholen, obwohl das ja aus heutiger Sicht auch nicht schlimm gewesen wäre. Doch damals sagte man zu den betroffenen Kindern noch »Sitzenbleiber« – allein schon dieses Wort ist ein Stigma. Meine Eltern haben mich stets »machen lassen«, ich konnte meine Leistungskurse in der Oberstufe selber wählen, frei entscheiden, ob ich studieren möchte oder nicht und wenn ja, was und es gab keine Praxis oder Firma, für deren Nachfolge ich vorgesehen gewesen wäre oder anderweitige fachliche oder statusbedingte Erwartungen. Dafür bin ich beiden, insbesondere meiner Mutter, die als plötzlich alleinerziehende Witwe eine unfassbare Stärke aufbringen musste, bis heute sehr dankbar.

Die besuchten Schulen fand ich eigentlich immer okay bis gut. Die Klassenstärken waren zeitweise ziemlich krass, so dass in der Mittelstufe bis zu 36 Schüler in einer Klasse waren. Durch meine Einschulung im Ausland war ich es gewohnt, quasi selber ein »Ausländer« zu sein, wenngleich nicht unter den damaligen Mitschülern, die alle deutschsprachige Eltern hatten, aber im ganz normalen Alltag. Schon in der ersten Klasse hatte ich Französischunterricht. Dass mir das später im selben Fach auf dem Gymnasium nicht zum Vorteil gereichte, laste ich auch einer Lehrerin auf dem Gymnasium an, darauf komme ich später noch einmal zurück. Schon in der Grundschule in Deutschland (1975–1977) erinnere ich mich an zwei Mitschüler mit türkischen Eltern und einen Schüler mit italienischen Eltern, mit dem ich sogar eine Zeit lang befreundet war. Das war »normal« und hatte nach meiner Erinnerung keinerlei Einfluss auf die Klasse oder den Unterricht. In meinen Zeugnissen kann ich schon seit der Grundschule, später vermehrt auch auf dem Gymnasium, hinter einzelnen Fächern bei vermeintlich »verzichtbaren« Fächern Religion, Musik und Kunst ebenso wie bei Physik, Chemie oder Erdkunde, den handschriftlichen Vermerk »n. ert.«, einmal sogar etwas ausführlicher als Stempel »Wegen Lehrermangels nicht erteilt«. Ich kann schlecht beurteilen, ob das auf mich negative Auswirkungen hatte, denn ich kannte es ja nicht anders. Gibt es überhaupt Schüler von damals und heute, die eine komplett mit Lehrkräften versehene Schule besucht haben? Vielleicht hat ja auch dazu der/die eine oder andere einen Kommentar.

An die Klassenräume und sonstigen Räumlichkeiten kann ich mich nur noch undeutlich erinnern. Aber da viele Schulgebäude erst in den 1960ern und 1970ern, also recht kurz vor meiner Schulzeit, gebaut wurden, kann es sein, dass meine vage Erinnerung, es sei alles zumeist recht neu und gut ausgestattet gewesen, korrekt ist. Auf dem Gymnasium waren z.B. Musikraum, Bio-, Physik-, Chemie- und Mathesammlung meiner Erinnerung sehr gut ausgestattet und auch in der Sporthalle herrschte kein Mangel an Turngerät und Requisiten. In der Mathesammlung standen sogar schon in den frühen 1980ern mehrere PCs (Commodore 8032 und VC 20) zur Verfügung. Es gab Overheadprojektoren, Matrizendrucker, zahlreiche ca. 2 × 2 m große zusammengerollte Karten und Schaubilder, die oft an speziellen Ständern entrollt und aufgehangen wurden, zusammensteckbare Anatomiemodelle, ein komplettes menschliches Skelett und so weiter. Aus meiner damaligen Sicht eines Kindes bzw. Jugendlichen könnte ich nicht beklagen, dass diesbezüglich ein Mangel geherrscht hätte.

Beim Thema meiner Interessen und Talente stand schon immer Sport an letzter Stelle und darin hatte ich auch zumeist die schlechteste Note, meistens irgendwas zwischen drei und vier. Schon in der ersten Klasse fand ich es doof, dass die Jungen so oft Fußball spielen mussten. Bereits den Sportunterricht in den ersten beiden Jahren in der algerischen Schule erinnere ich als nach Geschlechtern aufgeteilt. Da es aber nur eine Lehrkraft gab, konnte oder wollte diese nur eine der beiden Gruppen betreuen und das waren dann zumeist die fußballspielenden Jungs. Die Mädchen durften derweil am Spielfeldrand auf den dortigen kleinen Bäumen herumklettern und oft genug gelang es mir, mich dem Fußballspiel zu entziehen und ich gesellte mich zu ihnen. An den Sportunterricht in der deutschen Grundschule erinnere ich mich nicht sehr deutlich, höchstens an Schlaglichter wie blaue Turnmatten, Medizinbälle, vielleicht Spiele wie Völkerball oder Brennball. Meinen Freischwimmer machte ich, indem ich mich die geforderte Zeit lang im Schwimmbecken auf dem Rücken treiben ließ, anscheinend war das nicht verboten, denn nach dem Sprung vom »Einer« erhielt ich tatsächlich das Abzeichen. Sportlicher Ehrgeiz war mir seit jeher fremd. Ich sah keinen Sinn darin, mich mit anderen Kindern in Zeit, Kraft oder Leistung zu messen, ich hasste es, auf der Aschenbahn zu laufen, weit zu springen oder zu werfen (und versagte auch jedesmal kläglich). Die Bundesjugendspiele waren mir ein Graus, als ich einmal in der Sportumkleide eine unausgefüllte Siegerurkunde fand, trug ich selber meinen Namen ein und malte einen Stempel und eine Unterschrift darunter. Das war mein Siegermoment. Später auf dem Gymnasium führte der Sportunterricht sogar vorübergehend zu Schulangst und Magenschmerzen. Der Schwimmlehrer hatte verkündet, dass nur diejenigen Jungs (auch hier getrennter Sportunterricht) im Zeugnis eine Note besser als fünf bekämen, die mindestens einmal vom »Dreier« springen würden. Mein massives Widerstreben gegenüber diesem Zwang führte dazu, dass ich tatsächlich versuchte, »krank« zu werden, indem ich Dinge ausprobierte, die ich im Familienkreis als angeblich schlecht für die Gesundheit wahrgenommen hatte. So aß ich z.B. einmal Unmengen Kirschen und trank anschließend glasweise Wasser, weil man davon angeblich Bauchschmerzen bekäme. Hat nicht geholfen, ich zögerte meinen Sprung Woche um Woche so lange wie möglich hinaus. Am Ende kam ich nicht darum herum, stürzte mich von dem schwindelnd hohen Turm in den nassen Abgrund und trotz des Applauses der Klassenkameraden kam keine Freude ob dieser Überwindung auf und meinen damaligen Sportlehrer verachte ich noch heute dafür. Auch Geräteturnen fand ich furchtbar, Barren, Bock, Reck, Ringe, Pferd, Sprungbretter und obenauf ledergepolsterte Kletterkisten – für mich alles Requisiten der Unlust und des Scheiterns.

Später in der Oberstufe gab es dann die Möglichkeit, halbjahresweise zwischen einzelnen Sportarten zu wählen und ich sah das als eine Chance, weiter auszuloten, ob ich nicht wenigstens für einzelne Disziplinen Begeisterung aufbringen könnte. Ich probierte Hallenhockey, Basketball, Rudern, Badminton (das war okay) und Handball. Aber verordneter oder mit Verbissenheit und zum Zwecke von Sieg oder Wettbewerb betriebener Sport und ich sind nie wahre Freunde geworden.

Anders war es bei Kunst und Deutsch, damit hatte ich von Anfang an keine Schwierigkeiten und hatte meist – von einigen Lehrer*innenpersönlichkeiten und spezifischen Schullektüren abgesehen – sogar Spaß am Unterricht. Da ich schon vor der Schulzeit eine Leseratte war und mir wohl dadurch ein intuitives Gefühl für Ausdruck, Sprache, Interpunktion und Orthographie aneignen konnte, kam ich in Deutsch über die gesamte Schulzeit mit guten bis sehr guten Noten nach Hause. Ich schrieb seitenweise lange Aufsätze, hatte kein Problem mit Diktaten und konnte gut und flüssig vorlesen. In Kunst konnte ich meinen Gestaltungsdrang auch in der Schule ausleben, den ich ohnehin zu Hause mit Block und Tuschkasten, Bunt- und Filzstiften sowie einem unbändigen Basteldrang pflegte. Die Möglichkeit, auf meinem Gymnasium sogar einen Kunst-Leistungskurs wählen zu können, ist sicherlich mit für die recht gute Abinote verantwortlich. Und seit 1995 verdiene ich mit gestalterischer Arbeit als Grafik-Designer meinen Lebensunterhalt, womit ich sogar eins meiner Talente zum Beruf machen durfte.

Bei den anderen Sprachen war mir Englisch am nächsten, vielleicht auch, weil ich es während des zweiten Auslandsaufenthaltes der Familie in Nigeria auch als Landessprache im Alltag sprechen musste. Spanisch und Latein hatte ich nicht gewählt und mit Französisch wurde ich unter anderem aufgrund der Lehrer*innen nie wieder richtig warm. Ab der 10. Klasse etwa hatte ich das Glück, hervorragende Englischlehrer wählen zu können, die mein Interesse an dieser Sprache auch durch ihre Themenwahl und Unterrichtsweise förderten.

Auch bei den Naturwissenschaften gab es eine Melange aus Interesse und lehrerbedingten Einflüssen. Grundsätzlich war ich schon früh ein naturwissenschaftlich interessiertes Kind. Etliche Bände der Buchreihe WAS IST WAS standen in meinem Bücherregal, u.a. zu den Themen Dinosaurier, Weltall, Vulkane, Planeten. Ich führte zu Hause Experimente aus einschlägigen Jugendbüchern durch, streifte andauernd durch die Natur und den Wald, studierte Pflanzen und Tiere und versuchte, ihre Namen zu lernen, leierte Großeltern und Eltern all ihr Wissen über Blumen, Bäume, Kräuter und Pilze aus den Rippen und bekam etwa mit 12 Zugriff auf ein Abonnement der populärwissenschaftlichen Magazins »P.M.«, das ich mehrere Jahre lang las. Einmal zu Weihnachten bekam ich von den Eltern einen Elektronikbaukasten und pflügte noch am Heiligabend mit meinem Vater fast durch das gesamte Anleitungsbuch, bis meine Mutter dem Experimentiermarathon aufgrund der Einbuße an festlicher Gemütlichkeit Einhalt gebot. Durch einen Bekannten meines Vaters bekam ich etwa im gleichen Alter allerlei ausgemusterte Requisiten für ein eigenes kleines Chemielabor im elterlichen Keller geschenkt: Reagenzgläser, Kolben, Spiritusbrenner, Dosierlöffel, Ständer, Chemikalien und sogar eine kleine handbetriebene Zentrifuge. Zu dieser Zeit, man glaubt es heute kaum, war es einem Teenager auch noch ohne Weiteres möglich, in bestimmten Apotheken ungehindert Chemikalien zu kaufen: Salzsäure, Schwefelsäure, Wasserstoffperoxid, Natriumhydroxid, Kaliumpermanganat, Kupfersulfat, gelbes Blutlaugensalz, Kaliumnitrat. Man musste mur wissen, welche Apotheken im Wohnort experimentierfreudigen Schülern zugeneigt waren und die Werkstoffe ohne Arg herausgaben. Unter gleichgesinnten Schulkameraden wurden die Adressen dieser »Chemikaliendealer« bereitwillig geteilt. Es war für kleine Chemiker eine ebenso goldene wie aus heutiger Sicht unglaubliche Zeit. Was habe ich alles ausgefällt, angezündet, destilliert, umgewandelt, nachgewiesen und synthetisiert! Ester waren etwa ein großes Faszinosum: man gießt einige Substanzen zusammen, erhitzt sie und plötzlich riecht es aus dem Reagenzglas nach Apfel oder Banane. Zauberei. Auch für diese Leidenschaft gab es etliche für Jugendliche verfasste Bücher im Handel, die ich natürlich besaß, ebenso mehrere Chemiebaukästen.

Eher gleichgültig stand ich den Fächern Religion, Sozialkunde, Werte & Normen, Geographie gegenüber. Ich konnte mich mit den Inhalten arrangieren und mir durch mein Sprachtalent und eine gute Auffassungsgabe sogar lehrerunabhängig zumeist okaye Zensuren »erlabern«. Geschichte empfand ich lehrerbedingt größtenteils als absolut langweilig, öde Jahreszahlen, tote Leute, doofe Kriege, die zum Teil alle gefühlt kurz nach den Dinosauriern stattfanden, Feldherrn, Grenzkonflikte – dieses Fach enthielt für mich nie wirklich Leben, auch wenn ich einiges an Wissen mitnahm, das mir vielleicht heute zugute kommt.

Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die schulischen Leistungen hatten bei mir mindestens zwei Schulfreunde, die mein Interesse an Chemie und Mathematik/Informatik befeuerten. Bei meiner Schwester war es zu Beginn der Pubertät genau umgekehrt, sie schloss in der Schule einige Freundschaften, die mit dafür sorgten, dass ihr Interesse an der Schule sowie ihre Leistungen eine Weile drastisch nachließen, so dass meine Mutter schließlich genötigt sah, einen Schulwechsel zu veranlassen und diesen schlechten Einfluss zu unterbinden. Der erste meiner Freunde sog mich mit seinem Interesse in die Welt der Chemie. Er hatte am Gymnasium einen guten Draht zu einem der »coolen« Chemielehrer aufbauen können und über ihn die Erlaubnis bekommen, nach der Schulzeit an Nachmittagen Zugang zur Chemiesammlung zu erhalten, um dort unbeaufsichtigt (!) eigene Experimente durchzuführen. Und ich durfte mit hinein. Es ging immer alles gut, manchmal qualmte oder stank es ein wenig, aber niemand kam zu Schaden. Auch so etwas ist heute undenkbar, aber es beflügelte mein Interesse an der Chemie und den wundersamen Vorgängen in dieser Disziplin.

Der zweite Schulfreund war in Mathe ein »Nerd« und stand immer etwas außerhalb der Klassengemeinschaft. Aus Geldgründen musste er oft die Kleidung seiner zwei älteren Brüder auftragen und so führte schon seine etwas unmodische, manchmal zu kleine oder kurze Kleidung zu Skepsis oder Spott. Aber intellektuell war er ein Naturtalent, in Mathe und Physik Spitzenreiter bei der Notenbewertung und auch sein feiner Humor fand in mir ein gleichklingendes Echo. Zu dieser Zeit war der »Rubik’s Cube« gerade der heiße Scheiß und er fand tatsächlich einen Weg, sich theoretisch einen Lösungsalgorithmus für dieses Puzzle zu erarbeiten. Allein davor hatte ich höchsten Respekt. Wie der Chemiefreund hatte auch dieser Klassenkamerad einen guten Kontakt zu einem der Mathelehrer und erlangte durch diesen einen fast uneingeschränkten nachmittäglichen Zugang zur Mathesammlung, in den ich einbezogen wurde. Und so konnte ich mich etwa ab der 8. Klasse an den ersten klobigen PCs autodidaktisch mit der Programmiersprache BASIC auseinandersetzen, etwa zur gleichen Zeit bot die Schule im Rahmen einer Projektwoche einen Einführungskurs »Personal Computer« am Commodore VC 20 an und 1982 kaufte ich mir dann meinen ersten eigenen Computer, einen Sinclair ZX Spectrum, auf dem ich nicht nur spielte, digital gestaltete oder BASIC-Programme schrieb bzw. seitenlang aus Computermagazinen abtippte (!), sondern bald sogar kleine Programme in der prozessoreigenen Maschinensprache schrieb – etwas, das inzwischen wieder komplett verschüttet ist und nur in Form meiner gelegentlichen, auch berufsbedingten Beschäftigung mit selbst beigebrachten HTML- oder Javascript-Kenntnissen überlebt hat. Der Mathefreund bekam von seinen Eltern etwa zeitgleich einen TI-99/4A und so konnte ich trotz der modellbedingten Geräteinkompatibilität mit ihm zusammen auch zu Hause dieser neuen Leidenschaft nachgehen. Ich denke, in beiden Fällen – Chemie und Computer – wären dieses brennende Interesse und der Spaß am Lernen und Ausprobieren ohne diese Freundschaften nicht zustande gekommen.

Welchen Einfluss nun hatten die Lehrer auf mein Engagement, meine Leistungs- und Lernbereitschaft, meine Motivation, mein Verständnis des Stoffs und nicht zuletzt auf meine Noten? Die Lehrer, die ich rückblickend als am unangenehmsten in Erinnerung behalten habe, machten aus meiner Sicht etliche Fehler. Nicht all diese Fehler kann ich ihnen persönlich anlasten. Auch sie haben eine Ausbildung gehabt, die sie prägte, waren bisweilen stress- oder altersbedingt demotiviert, ihrem gewählten Beruf oder der Unbarmherzigkeit mancher pubertärer Schüler nicht gewachsen (ich erinnere mich noch gut an eine weinende Referendarin, die mir leid tat) und sicher auch mit einer Klassenstärke von 30 Schülern oder mehr zum Teil überfordert. In zwei Situationen bekam ich aufgrund vermeintlicher Unaufmerksamkeit von einer Lehrerin (Grundschule, Deutschland) und einem Lehrer (sechste Klasse, Nigeria) eine »Kopfnuss« verpasst. Absolutes No-go, damals vielleicht ab und zu üblich oder geduldet, aber das ist schon mal der erste Grund für eine nachträgliche Disqualifikation, insbesondere, wenn es keine Möglichkeit gab, sich als Kind für den vermeintlich zu bestrafenden Sachverhalt zu rechtfertigen. Danach kamen Lehrer, die ich als (zu) streng empfand, die im Unterricht auch manchmal herumschrien, die Druck ausübten, um Leistung zu fordern und die Aussicht auf schlechte Noten als Zwangsinstrument einsetzten (s.o. »Sprung von Dreier«). Es folgen Lehrer, die sich offenkundig kein Mühe bei ihrer Unterrichtsvorbereitung gaben oder eine einmal vor Jahren vorbereitete Unterrichtseinheit augenscheinlich Jahr für Jahr in jeder neuen Klasse unverändert, lieblos, blutleer, uninspiriert und stoisch herunterzuleiern, ohne jeden spürbaren Anspruch, in ihren Schülern Interesse, Spaß oder Wissbegierde zu entzünden. Die negative Strahlkraft dieser Art pädagogischer Gleichgültigkeit prägte mich enorm. Ich war nie ein »Streber«, das waren für mich die Mitschüler*innen, die sich immer ganz nach vorne, nahe ans Lehrerpult setzten, die mit dem Arm wedelten und mit den Fingern schnippten, wenn sie sich meldeten, die nie die Hausaufgaben vergaßen, die niemals nebensitzende und in Prüfungsbedrängnis befindliche Mitschüler aus Solidarität halfen oder sie mal abschreiben ließen, die ihr Federmäppchen bei Klassenarbeiten wie eine Barriere zwischen sich und dem Nebenplatz aufbauten. Aber es gab Lehrer, die solche Schüler zu ihren Lieblingen erkoren und sie spürbar bevorzugt behandelten. Auch solche Pädagogen betrachte ich im Nachhinein als nicht vorbildlich. Die Französischlehrerin, die bei mir nachhaltig den Unterricht und jede Chance auf Freude am Erlernen dieser Sprache trübte, ließ manchmal Sprüche ab wie »Also, wenn Sie nicht mal das [z.B. aufgesagtes Konjugieren eines Verbs] zustande bringen, dann weiß ich nicht, was Sie hier am Gymnasium überhaupt verloren haben«. Setzen, werte Dame, ungenügend.

Umgekehrt erinnere ich mich noch gut an Lehrer, die das Gegenteil erreichten. Diejenigen, die ein individuell vorhandenes Talent oder Interesse in einem Schüler oder einer Schülerin erkannten – oder ein Defizit beim Verständnis in diesem Fach – und dann persönlich darauf eingingen. Im Englischunterricht (etwa 10. Klasse) fragte der Lehrer, an welchen Themen wir Interesse hätten und so kam es, dass wir auf Englisch eine Unterrichtseinheit über die Sprache und psychologische Wirkung von Werbung (z.B. anhand der Lektüre von Vance Packards »The Hidden Persuaders«) und eine über die tiefenpsychologische Interpretation von Märchen (z.B. »Snow-White and Rose-Red«) durchnahmen. So kam zur Ebene des Erlernens der Sprache noch eine weitere, hochinteressante hinzu, was die Motivation für mich unglaublich förderte. Als ich in der Oberstufe bei meinem Lieblings-Englischlehrer den gewünschten Leistungskurs belegen konnte, sollten wir eine selbstgewählte Lektüre besprechen und ein Referat dazu halten. Ich wählte als Horrorfan Bram Stokers »Dracula« in der Originalfassung von 1897 und auch hier beflügelte mich diese Wahlmöglichkeit innerhalb der Aufgabenstellung enorm. Solchen Lehrern bin ich dankbar.

Humor ist aus meiner Sicht ebenfalls ein wichtiger Sympathiefaktor bei Lehrern. Auf die komplett spaßbefreiten Lehrmaschinen, die ich in einigen Pädagogen wahrnahm, welche sich hinter einer unpersönlichen, verbissenen Attitüde verschanzten, die wohl aus ihrer Sicht Autorität, Kontrolle oder Kompetenz vermitteln sollte, hätte ich gut verzichten können. Diejenigen, mit denen man lachen konnte, die regelmäßig in den Schülerzeitungen als amüsante »Sprüchelieferanten« auftauchten, die ihre Leidenschaft für ihr Unterrichtsfach auch mit Witz zum Ausdruck bringen konnten, empfand ich als wesentlich erinnernswerter, angenehmer und motivierender. (Schüler zur Chemielehrerin: »Machen wir heut ’nen Versuch? Machen wir heut ’nen Versuch? Machen wir heut ’nen Versuch?« – Chemielehrerin: »Na klar machen wir heut ’nen Versuch, wir gucken uns an, wie du gestreckt durch die Oberlichter fliegst, wenn du nicht aufhörst zu nerven.«). Gut erinnere ich mich auch an eine amüsante Notiz des LK-Englischlehrers am Blattrand einer Klausur, wo ich wohl unbewusst mal wieder ins »Labern« verfallen war: »Eben, eben – Sie sagten es bereits!«. Beim Lernen lachen zu dürfen kann eine wunderbare Motivation sein.

Ich könnte noch viel mehr zu diesem Thema aus dem Nähkästchen plaudern, aber ich glaube, nach diesem Rundumschlag habe ich genügend Details und Erfahrungen aufgezählt, um die anfangs gestellten zwei Fragen, zumindest aus meiner Sicht, beantworten zu können:

  1. Waren für die guten Noten auch zu 70% die Lehrkräfte verantwortlich, oder läuft da die Zuschreibung anders?
    Hier fällt mir eine ähnlich geschätzte prozentualen Zuordnung schwer, aber tendenziell: ja. Die Lehrer, denen es gelang, ihren Unterricht sowohl mit einem klassenweiten als auch mit einem individuellen Blick auf die Schüler durchzuführen, die Schwächen, Stärken, Interessen und Talente erkannt haben, darauf reagiert haben oder darauf einzugehen vermochten, konnten eine bessere oder sogar gute Benotung fördern. Bei den Fächern, in denen ein/e Schüler*in ohnehin gut »allein zurechtkommt«, weil eine grundlegende Begabung oder Wissbegierde für das Fach vorhanden sind, ist das aber vermutlich nicht so bedeutsam wie in gegenteiligen Fällen. Aber generell würde ich sagen: ein »guter« Lehrer gemäß meiner o.g. Definition dürfte wohl spürbar häufiger auch zu besseren Noten bei den Schülern führen. Einfach deshalb, weil solch ein Pädagoge einen Schüler eher motivierend mitreißt als autoritär vor sich hertreibt.
  2. Waren die Lehrkräfte, die das damals nicht geschafft haben, wenigstens bei anderen in der Klasse erfolgreicher?
    Zum Teil. Sicher gab es auch Lehrer, die einzelne Schüler positiv oder negativ »auf dem Kieker« hatten (s.o. »Streber«) und ihre Günstlinge bewusst oder unbewusst mehr gefördert haben als andere. Und es gab andererseits auch Lehrer, bei denen bzgl. einzelner Schüler*innen »die Chemie einfach nicht stimmte« oder die im Gegenteil mit ihnen auf einer Wellenlänge waren. Auch wenn es unprofessionell anmuten mag, kann m.E. eine solche Differenz bei Temperament oder Charakter den Draht zwischen Lehrer und Schüler sicher ebenfalls spürbar beeinflussen und sich auch auf die Noten auswirken. Schwierig zu beurteilen ist, was geschieht, wenn ein Schüler mit einer natürlichen Begabung für ein Fach von einem »schlechten« Lehrer betreut wird. Dann ist es ja denkbar, dass der Lehrer die Noten dieses Schülers kaum oder gar nicht zu beeinträchtigen vermag. Ich hätte mir z.B. bei dem erwähnten Mathenerd-Freund nicht vorstellen können, dass er an einen Mathelehrer hätte geraten können, der überhaupt imstande gewesen wäre, ihm objektiv gerechtfertigt eine schlechte Note zu geben. Es gab natürlich auch immer andere Schüler in meiner Klasse, die von Lehrern, die ich persönlich nicht mochte, gute Noten bekommen haben. Denn würde ein »schlechter« Lehrer bei allen Schülern unweigerlich auch zu schlechten Noten führen, erschiene das wohl auch statistisch irgendwann auffällig und der Pädagoge dürfte sich für sein Unvermögen zu rechtfertigen haben, den ihm anvertrauten Schülern gute Leistungen zu entlocken.

Meinem geschätzten LK-Englischlehrer jedenfalls habe ich Jahre später, als ich im Job einmal vor der Aufgabe stand, für einen Kunden der damaligen Werbeagentur im Rahmen einer Werbekampagne einige Cartoonfiguren zu zeichnen, ein kleines Denkmal gesetzt, in dem ich ihn als Vorbild für eine der Figuren nahm.

Er war einer von den Guten.